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Max Mueller Bhavan | Indien

Schicksal einer Sexarbeiterin in der DDR
Prostitution im Auftrag des Staates

Stasi-Akte: Informationen des IMV "Benno" über das Hotel Hesse in Aachen (1.8. 1978)
Eine Stasi-Akte mit geschwärzten Namen aus dem Jahr 1978 | © BArch, MfS, HA XIX, Nr. 319, Bl. 56.

In der DDR war Prostitution verboten. Dennoch instrumentalisierte die Stasi Frauen als Prostituierte. Clemens Böckmann hat einen dokumentarischen und erschütternden Roman über eine Frau geschrieben, die mit ihrem Körper ihr ganzes Leben verkauft.

Von Holger Moos

Seit 1968 galt Prostitution in der DDR als „asoziales Verhalten“ und konnte nach § 249 StGB der DDR mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden. Das interessierte das Ministerium für Staatssicherheit (kurz: Stasi) wenig. Beim Kampf gegen den „Klassenfeind“ wurden Frauen als IM (Inoffizielle Mitarbeiter) prostituiert, um etwa westliche Geschäftsreisende auszuspionieren.

In seinem Roman Was du kriegen kannst erzählt der Filmemacher und Autor Clemens Böckmann die Lebensgeschichte von Uta, einer Sexarbeiterin, die seit 1971 von der Stasi auf Männer angesetzt wurde. Die reale Person, die sich hinter der Figur Uta verbirgt, hat Böckmann 2017 zufällig in einer Bar in Leipzig kennengelernt. In einem radioeins-Interview erzählt Böckmann, dass sich ein jahrelanger Austausch und eine bis heute andauernde Freundschaft zwischen ihnen entwickelte. In den Stasi-Akten wird Uta als „schlank“, „sehr intelligent, z.T. auch sehr raffiniert“, „mannstoll“ und trinkfest charakterisiert.

Böckmann: Was du kriegen kannst (Buchcover) © Hanser

Sehnsucht nach einem aufregenden Leben

Im Buchtitel spiegelt sich der Ratschlag eines Stasi-Verbindungsmanns. „Hol dir, was du kriegen kannst, Genossin“, sagt er zu Uta. Und das macht sie. Sie will kein spießiges Leben als Fachverkäuferin für Möbel in der Konsumgenossenschaft Zwickau führen, sondern sehnt sich nach einem anderen Leben, nach mehr Abenteuer und Luxus – und das heißt auch: mehr Westwaren und Westwährung, seien das D-Mark, amerikanische Dollar, österreichische Schilling oder Schweizer Franken. Als von der Stasi geführte „IM Anna“ kommt sie in den Genuss all dessen. Doch sie wird einen hohen Preis dafür zahlen.

Uta unternimmt zahlreiche Reisen, oft in die Messestadt Leipzig, aber auch nach Prag, wo sie, häufig zusammen mit ihrer Freundin Sabine, viel Geld einnimmt: „In vier Tagen verdienen die beiden über 2000,- DM, hinzu kommen kleinere Beträge in Kronen, Schilling und Schweizer Franken.“ Einen Teil der Einnahmen muss Uta reinvestieren: Sie besticht Hotelangestellte, um weiter Einlass in die Foyers und Hotelbars zu erhalten. Auch die Krankschreibungen, die die Frauen für ihre Reisen teilweise brauchen, sind nicht umsonst zu haben. Sabine kennt einen Arzt, der für seine Gefälligkeiten „neue sexuelle Praktiken in einem Ausmaß von ihr verlange, das ihr schwer in Worte zu fassen falle“.

Die lassen mich nie wieder in Ruhe

Unter ihrer IM-Tätigkeit leidet auch Utas Familienleben. Schon zu Beginn ihrer Arbeit für die Stasi war sie eine geschiedene Frau mit einem kleinen Sohn. Der wird von ihr immer wieder vernachlässigt. Wenn sie abends in die diversen Bars geht, hinterlegt sie den Schlüssel bei Nachbarn. Ist sie mehrere Tage verreist, springen ihre Eltern aus dem Erzgebirge ein. Im Rückblick bekennt sie über ihr Verhältnis zu ihrem Kind: „Aber, ja, ich habe es oft alleine gelassen. Ich war eben auch eine Frau und wollte was erleben … Es tut mir heute auch einfach viel leid.“

Auch als sie nicht mehr für die Stasi arbeitet, prostituiert sich Uta weiterhin. Sie ist Alkoholikerin, eine gebrochene Frau, die Stasi lässt sie nicht in Ruhe, sondern betreibt gemäß des Maßnahmenkatalogs der berüchtigten MfS-Richtlinie Nr. 1/76 „psychische Destabilisierung“. Die mündet bei Uta in einen versuchten Selbstmord:
Als ich irgendwann begriffen hatte, dass die mich nie wieder in Ruhe lassen werden, wollte ich nicht mehr leben.
Geschickt verwebt Böckmann ganz unterschiedliche Textformen miteinander. Zum einen erzählt Uta ihre Geschichte, wobei ihre Erinnerungen nicht verlässlich sind. Daneben stehen Stasi-Berichte mit geschwärzten Namen, die in der typischen funktionalen, sperrigen und entmenschlichenden Sprache formuliert sind. Menschen sind zu Objekten degradiert, die es zu beobachten gilt. Sogar die IM werden – teilweise voneinander – observiert. Schließlich meldet sich der Ich-Erzähler zu Wort, der Erlebnisse mit seiner „Quelle“ Uta in der Gegenwart schildert. Dadurch kommt es immer wieder zu „Stilbrüchen“, die beim Lesenden geistige Wachheit und Flexibilität erfordern.

Ein Meilenstein dokumentarischer Literatur

Mit der textlichen Vielfalt geht eine Vielzahl an Perspektiven einher, denn die Berichte und Erzählungen stimmen durchaus nicht immer überein. Es ergeben sich Lücken und Widersprüche, die im Buch weder geschlossen noch aufgelöst werden. Stattdessen ergeben sie ein gewollt brüchiges Bild, was viel näher an der Lebensrealität der ambivalenten Hauptfigur ist als eine geradlinige Erzählung. Auch der Erzähler im Roman weiß nicht, wem mehr zu trauen ist: den Stasi-Akten oder Utas Erzählungen. Er fragt sich: „Was, wenn vieles von dem, was sie erzählt, widerlegt wird?“ Die Bitte um Akteneinsicht beim Stasi-Unterlagen-Archiv zeigt, dass Uta „Täterin und Opfer zugleich“ ist, denn sie bekommt als Täterin bei einem großen Teil ihrer Akten keine Einsicht gewährt. „Du durftest doch viel mehr über mich erfahren als ich“, beklagt sie sich gegenüber dem Erzähler.

Böckmann gewann mit seinem vielschichtigen, unbedingt lesenswerten Debütroman 2024 den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung. Zu Recht spricht die Jury von einem „der aufregendsten Bücher des Jahres“, das „poröse Biopic einer Unerzählten“ könne „sich mit den Meilensteinen dokumentarischer Literatur messen“.
Clemens Böckmann: Was du kriegen kannst. Roman
München: Hanser, 2024. 416 S.
ISBN: 978-3-446-28121-9
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.

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