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Warum bringen uns Alltagsprodukte zum Verzweifeln?
Fortschritt und Krempel

Krempel im Straßenverkauf in Ho-Chi-Minh-Stadt
Krempel im Straßenverkauf in Ho-Chi-Minh-Stadt | © Holger Moos

Der Autor und Unternehmer Gabriel Yoran hat ein launiges Buch über die frustrierenden, aber offenbar notwendigen Zumutungen des Alltags geschrieben. Er zeigt: Technischer Fortschritt gebiert oft nervigen Krempel.

Von Holger Moos

Sein Buch Die Verkrempelung der Welt beginnt Gabriel Yoran mit einem Geständnis: „Ich bin meine Mutter.“ Was biologisch unmöglich ist, liegt emotional sehr nahe. Denn wie seine Mutter ist Yoran überfordert vom Konsumgüter-Produktdesign. Konkret: von der Touch-Technologie seines neuen Herds. Auf die Benutzerunfreundlichkeit inklusive der unverständlichen Zahlenkolonne, mit der er die Kochfelder regulieren soll, reagiert er mit Ratlosigkeit und Wut: „Wer hat sich das ausgedacht? Warum ist niemand in irgendeiner Produktkonferenz aufgestanden und hat gesagt: Entschuldigung, aber das ist doch kompletter Stuss!“

Jeder Mensch, der regelmäßig an Konferenzen oder Meetings teilnimmt, weiß, dass Stuss oft widerspruchslos hingenommen wird, insbesondere wenn er aus dem Mund von Vorgesetzten kommt. Doch um den Stuss der Hierarchien geht es Yoran weniger, es geht ihm um das System. Dieses liegt hinter der Tatsache, dass viele Dinge des Alltags teurer, komplizierter und (teilweise) schlechter als zu früheren Zeiten sind, aber nichtsdestotrotz als Fortschritt verkauft werden. Und das hat dann doch wieder mit Hierarchie zu tun – oder vielleicht besser: mit Macht, genauer: Marktmacht.

Yoran: Die Verkrempelung der Welt (Buchcover) © Suhrkamp

Freidrehende Fortschrittssimulation

Verkrempelung der Welt nennt Yoran das. Es ist Prozess und Zustand in einem – und natürlich zugleich ein einprägsamer, weil lustiger Buchtitel. Krempel meint minderwertige Gegenstände. Doch Yoran kritisiert nicht nur die Minderwertigkeit manch einer technischen Entwicklung, obwohl sie oft – wie bei den erwähnten modernen Herden – eindeutig unpraktischer sind als die alten Lösungen („Knebel“ oder „Drehknöpfe“), dafür aber billiger in der Herstellung. Er wettert außerdem gegen „freidrehende Fortschrittssimulation, die Produkten unnötige Komplexität hinzufügt“.

Yoran bleibt nicht bei der Binsenweisheit stehen, dass sich hohe Qualität und Langlebigkeit in unserem wachstumsorientierten Wirtschaftssystem nicht rentieren: „Ein dauerhaft gutes Produkt ist ein Wunder, denn es dürfte eigentlich nicht existieren.“ Er geht auch der Frage nach, was ein gutes Produkt ist, und landet bei den Ideen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes. „Schlicht und funktional, von Dauer und praktisch“ sollen industriell hergestellte Dinge demnach sein. Den „Bund gegen Schund“ gibt es zwar heute noch, durchsetzen konnte er sich offenkundig nicht.

Yoran möchte nicht als angestaubter Kapitalismuskritiker oder reaktionärer Nostalgiker gelten. Der Illusion, dass früher alles besser war, hängt er nicht an. Er kritisiert zum Beispiel die Retrodesign-Kette Manufactum, die mit dem Slogan „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ wirbt und so tut, als seien die vorindustriellen Manufaktur-Produkte grundsätzlich besser als ihre industriellen Nachfolger gewesen. Das stimme nicht, und ein Zurück in die Zukunft sei auch nicht wünschenswert: „Niemand will hinter das industrielle Zeitalter zurück.“

Facettenreiche und witzige Streitschrift

Die Verkrempelung macht nicht in der materiellen Wert Halt, auch die digitale Welt ist voller unkomfortabler Überflüssigkeiten. Zudem werden Urheberrechte in der Digitalwirtschaft besonders exzessiv ignoriert. Durch den Siegeszug von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz wurde die gängige „Silicon Valley-Formel »Fake it till you make it« … gegen … » Steal it till you own it«“ eingetauscht. Mittlerweile hat sich die „Kundschaft … an die Leistungen von AI-Chatbots gewöhnt …, die mit dem rechtlich mindestens fragwürdigen Abgreifen öffentlicher Texte und Bilder trainiert wurden“.

Man merkt dem Buch an, dass es aus Kolumnen aus dem Online-Magazin Krautreporter besteht. Es ist keine systematische Abhandlung, sondern dokumentiert Yorans „Enttäuschungen über die Dinge des Alltags“. Seine kluge, facettenreiche und witzige Streitschrift greift im letzten Kapitel zwar das „letzte Tabu“ auf und reflektiert darin über mögliche Kriterien für die Legitimität unserer Bedürfnisse, aber eine Lösung kann er selbstverständlich nicht präsentieren. Eine „Bedürfnisdiktatur“ ist es schon mal nicht. Jeder Steuerungsversuch der Politik mündet allzu schnell in einen von interessierten Kreisen gesteuerten Aufschrei in Medien und Bevölkerung gegen staatliche Bevormundung. Das Konzept des unaufhörlichen Konsums ist zu systemimmanent, und das nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch auf individueller Ebene. Da fungiert der Konsum nämlich als „Kompensation psychosozialer Mangelzustände“.
Gabriel Yoran: Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)
Berlin: Suhrkamp, 2025. 185 S.
ISBN: 978-3-518-03002-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.

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