Erinnerungen
Überlebenswillen

In Kannagi Nagar, einem Umsiedlungsgebiet für die Überlebenden des Tsunami von 2004 in Chennai, leben etwa 100.000 Menschen, die überwiegend der Fischergemeinde angehören.
In Kannagi Nagar, einem Umsiedlungsgebiet für die Überlebenden des Tsunami von 2004 in Chennai, leben etwa 100.000 Menschen, die überwiegend der Fischergemeinde angehören. | © Faizal Khan

Das Leben in Kannagi Nagar zeugt von der Widerstandskraft einer Gemeinschaft, die den verheerenden Tsunami von 2004 überlebt hat.

Kala Vani erinnert sich an den Tag, der ihr Leben für immer veränderte. „Es war am Morgen des 26. Dezember 2004 um 8:30 Uhr“, berichtet Vani. Die Transgender-Frau lebt in Kannagi Nagar am Rand von Chennai in Tamil Nadu. „Ich war auf dem Fischmarkt, als die Menschen um mich herum plötzlich zu rennen begannen. Riesige Wellen bahnten sich ihren Weg in unsere Richtung“, sagt Vani. Sie konnte sich unverletzt in Sicherheit bringen, doch Tausende anderer Menschen verloren an diesem Tag ihr Leben.
 
Die Flutwelle im Indischen Ozean riss ganze Dörfer an der Küste von Tamil Nadu mit sich und verwüstete Teile der Hauptstadt Chennai. In Tamil Nadu forderte die Naturkatastrophe 8.000 Menschenleben, Zehntausende verloren ihr Zuhause. „Mein Haus wurde zerstört“, sagt Vani, die in einer Ansammlung von Slums im Küstengebiet von Chennai wohnte. Zwei Jahre später erhielt sie ein neues Zuhause im Umsiedlungsgebiet von Kannagi Nagar, das die Regierung für die Überlebenden des Tsunami errichtet hatte.
 
„Wir nennen das Viertel Tsunami Nagar“, berichtet Vani, die zu den fast 100.000 Bewohner*innen von Kannagi Nagar zählt, das heute für die auffälligen Wandgemälde an den Mauern seiner Häuser berühmt ist. Als die Corona-Pandemie die Stadt erschütterte, entschloss sich Vani bald, an vorderster Front Hilfe zu leisten. In persönlicher Schutzausrüstung arbeitete sie während der ersten Welle der Corona-Pandemie vor zwei Jahren und später auch während der zweiten und dritten Welle in einem Covid-19-Versorgungszentrum in Chennai.
 
Die Bereitschaft zu helfen, steht den Überlebenden des Tsunami hier ins Gesicht geschrieben. Ein weiterer Bewohner von Kannagi Nagar, A. Suresh, rettete viele ältere Menschen während der Flutwelle aus ihren Häusern. „Die Wellen erreichten eine Höhe von bis zu drei Stockwerken. Wir haben unser Zuhause und unser gesamtes Hab und Gut verloren“, berichtet er. „Ich lebte damals in einer Hütte, die ebenfalls zerstört wurde. Die Regierung hat mir hier 2007 ein neues Zuhause gegeben“, erzählt Suresh, der wie andere Angehörige seiner Fischergemeinde auf der Suche nach einem guten Fang in seinem kleinen Boot aufs Meer hinausgefahren war, bevor die Flutwelle kam.
 
Viele Kilometer entfernt von der Küste, an der sie früher lebten, halten sich Angehörige der Fischergemeinde wie Suresh heute mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Vielen ist es nicht leicht gefallen, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Einige verdienen ihren Lebensunterhalt heute mit anderen Dingen als traditioneller Fischerei. „Ich mache jetzt Malerarbeiten in Häusern“, erzählt Suresh. Satyaraj, ein weiterer ehemaliger traditioneller Fischer, hat nach seiner Ankunft in Kannagi Nagar Fahrstunden genommen. „Heute fahre ich eine Autorickscha“, berichtet er.
 
Die Umstellung auf ihr neues Leben war für die Bewohner*innen des vor zwei Jahrzehnten errichteten Umsiedlungsgebiets nicht leicht. Viele haben mit dem Trinken angefangen, weil sie nicht in der Lage waren, den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Alkoholismus und häusliche Gewalt waren die Folge. „Kannagi Nagar eilte fortan der unerwünschte Ruf voraus, ein Ort der Kriminalität und Arbeitslosigkeit zu sein“, erklärt die Transgender-Frau M. Nila, die sich in der Organisation von Tanz- und Musikangeboten für Kinder im Umsiedlungsgebiet engagiert.
 
Heute sind die Bewohner*innen von Kannagi Nagar entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und die Kunst kann sie dabei unterstützen. Dank der Wandgemälde, die immer mehr Mauern des Stadtteils zieren, gilt das Umsiedlungsgebiet inzwischen als erstes Kunstviertel Tamil Nadus. Zahlreiche Künstler*innen aus Indien und dem Ausland haben in den vergangenen zwei Jahren Wandgemälde in dem neuen Kunstviertel gestaltet. Einige dieser Kunstwerke berichten von Überlebenskämpfen. Alle machen Hoffnung auf eine bessere Zukunft. „Kannagi Nagar ist heute ein wichtiger Ort in Chennai“, sagt Nila, die Mitglied im Verein für die Unterstützung von Transgender-Menschen (Transgender Welfare Board) in Tamil Nadu ist. „Inzwischen wählen Filmcrews das Viertel als Drehort für ihre Filmszenen. Die Kunst hat Kannagi Nagar verändert.“
 
Bild:
 
ChennaiMural-Article-Photo: In Kannagi Nagar, einem Umsiedlungsgebiet für die Überlebenden des Tsunami von 2004 in Chennai, leben etwa 100.000 Menschen, die überwiegend der Fischergemeinde angehören.

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