Marie Schröer on "Es war einmal in Salvador"
Brasilian Headhunting

Salvador ist nicht nur für seine Architektur aus der portugiesischen Kolonialzeit, sondern auch für seine tropische Küste bekannt. Die Stadt kann mit unglaublichen 80km Traumstränden aufwarten. Am Atlantik lockt die Brandung zahlreiche Surfer an, die geschützte Baía de Todos os Santos lädt zum Baden ein. Und an jeder Ecke wird die Kokosnuss verkauft. © Gunther Schumann

„Once upon a time in Salvador” so steht es in geschwungenen schwarzen Lettern auf weißem Grund geschrieben. Die gerahmte Schrift ist das erste comictypische Element, mit dem die Betrachtenden – wie in Comics üblich – in die Erzählung eingeladen und über das Setting informiert werden. Im Bildmittelpunkt stehen blauer Himmel und Palmenkronen, abgefilmt aus der Froschperspektive. Zu den Palmen passt dann die Ergänzung des Off-Textes am unteren rechten Bildrand: „Where the sun is always shining and the people are kind” heißt es verheißungsvoll im Textblock Nummer Zwei.

Es war einmal in Salvador… Der Street-Comic von Gunther Schumann beginnt wie ein Märchen. Ein Sommer-Märchen, angesichts der Kulisse. Dass das vorliegende Werk nicht zuletzt dank der märchenhaften Züge so fabelhaft geworden ist, sei schon mal verraten. Aber womit genau haben wir es hier zu tun? „[W]ie in Comics üblich“ heißt es im zweiten Satz dieser Rezension. Wie in Comics üblich bedeutet im vorliegenden Fall allerdings keineswegs, dass es sich um einen üblichen Comic handelt. Der eher nüchterne Titel Street-Comic ist eine Wortschöpfung Schumanns: Die Komposition Street-Comic vereint die Zutaten Streetart und Comic, müsste aber eigentlich noch um ein paar Komponenten erweitert werden.

Der Streetcomic Brasilien ist nämlich ein Hybrid, eine Streetart-Comic-Video-Installation, ein fröhliches Kuriositätenkabinett. Zu bestaunen sind bewegte Bilder von Fotos, Graffitis und anderen Street-Art-Techniken (Sticker und Cut-Outs), umgestalteten Straßenpollern, zwei- und (fast) dreidimensionalen Papierfiguren, Texten zum Lesen und Text zum Hören. Das Ganze wird zusammengehalten von einem eingängigen Sound, anzusiedeln irgendwo zwischen Reggae, Hip-Hop und Funk, oder vielleicht auch ganz woanders. Mit der Frage der Musik verhält es sich nämlich ähnlich wie mit den Fragen nach Medium, Genre oder Akzent des Sprechers. Letztgenannter Aspekt wird gegen Ende des Videos selbstironisch kommentiert und kann hier pars pro toto für die charakteristische wilde Mixtur des Street-Comics stehen: „I want to thank you very much for watching. And also, what is this with this strange accent? Is it supposed to be Mexican, Indian or Italian? I don’t know.”

Der Inhalt der Erzählung ist angenehm absurd: Nach der Palmen-geschmückten Ouvertüre sehen wir großflächige Sticker an brasilianischem Mauerwerk. Typisches Street Art also, das einen jungen Mann in Schwarz-Weiß und karikierten Zügen zeigt. Er hockt zwischen leeren Flaschen, Pornoheft, Stehlampe und Kuckucksuhr und zerbricht sich den Kopf. Die Konsequenz des vielen Nachdenkens: Der Kopf kommt ihm abhanden. Hier beginnt ein wilder Trip, im wörtlichen, wie im übertragenen Sinne des Wortes. Der Headhunter irrt auf der Suche nach dem verlorenen Kopf durch Salvadors Gassen und bekommt unterwegs von einer Raupe mit Augenmaske 2,5 D-Pillen verabreicht („they make you almost 3D but not quite“) – die nächsten Szenen werden entsprechend psychedelisch. Statt des Kopfes gibt es dann ein technisches Gerät namens „new hobo-mini“, mit dem der kopflose Protagonist zumindest wieder sehen kann. Die Suche geht weiter.

Der Street-Comic fasziniert aus zweierlei Gründen. Zum einen frönt er einem ausgeprägten Spieltrieb, mit dem sich mediale und Genre-bezogene Grenzziehungen mit Leichtigkeit überwinden lassen. Warum nicht mit Street Art eine ganze Geschichte erzählen? Warum nicht Street Art und Comic dezidiert verknüpfen? Warum nicht die Stadt zum Comic machen, ihre Räume als Panels nutzen, den Zufall ein Stück weit entscheiden lassen? Warum nicht Papier und Stein, Straßen, Gitter, Fenster als Trägermedien für Geschichten nutzen? Dadurch, dass Schumann so frei von allen Zwängen vorgeht, fordert er bestehende Definitionen heraus. Comic funktioniert auch abseits von Papier; das wird deutlich. En passant – im wahrsten Sinne des Wortes – zeigt uns der Street Comic aber nicht nur, wie produktiv die Vermählung von Street Art und Comic ist, sondern auch – und zwar sehr lebhaft –  Eindrücke von Salvador. Das anarchische Element des Treiben-Lassens sorgt dafür, dass wir im Hintergrund eben nicht nur die berühmte postkoloniale Architektur und Postkartenkulissen sehen, sondern auch Alltagsszenen oder winzige Details, die durch die Linse Schumanns zu Kunst werden: Marktwaren, Touristen, die das Meer versperren, Gullys, Telefonzellen, Hydranten, Rohre, Kacheln.

Schumann sagt im Gespräch, Street Art (auch in Kombination mit Comic) sei seine Methode, sich Orte zu erschließen. Er habe zwar immer ein Skizzenheft dabei, weil das Zeichnen helfe, andere Reize auszublenden, aber schlussendlich brauche er Platz. Er sitze nicht gerne vor kleinen Blättern. Die 2- und 2,5-dimensionalen Papier-Figuren hat er aufgehoben. Den Headhunter andere Treppen erklimmen und neue Luken erkunden zu lassen, kann Schumann sich gut vorstellen. Der Kopf ist schließlich noch nicht gefunden; das Headhunting to be continued. Die Figuren finden in einem einzigen Koffer Platz; das restliche Zubehör liefert die neue Stadt. Neue Orte, neue Stadtelemente die zu Protagonisten eines work-in-progress werden. Wenn der Street-Comic in Serie ginge, wäre das auch wieder „typisch Comic“, aber eben mit einem untypischen Comic. Wir sind gespannt.

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