Stefan Mesch zu „Über Unterwegs: Cosmopolis“
Reicht dir das Land? Reichst du der Stadt?

toronto_yelin_2016 detail Multikulti. © Barbara Yelin (Ausschnitt)

In Über unterwegs (Toronto) zeigt Barbara Yelin, wie sich der Lebensradius weitet. Im Weltkriegs-Comic Irmina zeigt sie, wie er schrumpft.

Ian McEwans Kurzroman Am Strand spielt 1962: Florence und Edward freuen sich auf ihre Hochzeitsnacht - doch fehlende Aufklärung, falscher Druck, Sexismen, Erwartungen führen zu einer Szene, nach der kein Weg in eine gemeinsame Zukunft mehr möglich ist. Ein Buch als "Cautionary Tale", Lehrstück: Hätten die zwei bloß früher und besser kommunziert! Ihre Vorstellungen abgeglichen. "Sag was!", warnt McEwan: "Frag nach! Sonst musst du vieles lebenslang bereuen."

Irmina, der bekannteste Comic von Barbara Yelin, beginnt im selben Stil: Irmina von Behdinger macht 1934 eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin und verliebt sich in Howard, einen Oxford-Stipendiaten aus Barbados. "Die ganze Welt stand ihr offen", titelt die Frankfurter Rundschau über die junge Deutsche, die sich kurz nach Hitlers Machtergreifung in Großbritannien emanzipiert und verliebt. Als sie aus Geldmangel zurück zu den Eltern muss, bleibt eine Wahl: Wie viel möchte sie Howard, den sie noch kaum kennt, opfern? Sie heiratet einen SS-Mann, wird bald Mutter, Witwe, Lehrerin in Stuttgart. Warnt also auch Barbara Yelin: "Sag was! Frag nach! Sonst musst du vieles lebenslang bereuen"?

Nein. "Wie zum Teufel hat es Barbara Yelin geschafft", fragt Comickünstler Reinhard Kleist, "dass ich bei Irmina in einer Szene fast geheult habe?" Mich traf "Irmina", weil ich die Lektion aus Am Strand recht leicht beherzigen kann: Nachfragen, Offen-und-Empathisch-Sein. "Irmina" zeigt viel komplexere "Lektionen" - zu Privilegien, Bequemlichkeit, sozialen Klassen, Habitus und Risiko: Zu welchem Preis hätte Irmina in England bleiben können? Hätte sie Howard genügt? An seiner Seite wäre sie aufgestiegen - doch ohne ihn? Versackt?

Yelins Kunst beginnt mit Skizzen, Strichen in Bleistift-Optik. Wo andere Comics in einem Extra-Arbeitsschritt mit Tinte Linien, Silhouetten, viele Kontraste hart, sauber abgrenzen und perfektionieren, lässt Yelin Hilfslinien, Wirbel offen stehen. Ihre Szenen wirken neblig, flattrig, ungefähr - und auch die Kolorierung kippt an vielen Punkten ins vage Braun, Blau, Verwaschene.

Ein "unsauberer" Stil, in dem das Auge gern wandert, weil glatte, flächige Orientierungspunkte fehlen. Lese ich Yelin, denke ich danach bei jedem Disney-Comic: Mickey ist kein Lebewesen - sondern steht mit dicker Umrandung und brutalst strahlenden Farben grell, statisch mitten im Bild: poliert und hart wie ein Verkehrsschild oder eine Werbe-Schablone. Yelins Figuren wabern, zittern, leben und verschwimmen.

Irmina erschien 2014 - im ersten Jahr, in dem ich wusste: Ich werde nicht nach Toronto reisen. Mir geht die Puste aus, finanziell. Kanadiern und Kanadierinnen habe ich als Dating-Partner wenig zu bieten. Ich kann keinen Roman schreiben und nebenher eine Existenz auf einem anderen Kontinent aufbauen: 2014 ging ich für einige Monate nach Berlin. Verliebte mich dort. War seitdem nie wieder weit fort.

Toronto fehlt mir jeden Tag: 2009 bis 2013 war ich von Januar/Februar bis Ende April in der Stadt, fünf Jahre in Folge. Barbara Yelins 1-Seiten-Comic Über Unterwegs: Cosmopolis zeigt und nennt vieles, das ich dort liebe. Yelin, in Zahlen: "Verschiedene ethnische Gruppen: über 200. Einwohner mit Muttersprache, die nicht Englisch oder Französisch ist: 47 Prozent. Hochhäuser: unter 2000. Einwohner der Metropolregion: 5,6 Millionen."

Warum Toronto? Ich brauchte ein letztes Praktikum fürs Studium, war für drei Monate am Goethe-Institut, verliebte mich bei Starbucks in einen Grafikdesigner, der selbst mit neun aus Hong Kong eingewandert war, und kam in seitdem jährlich zurück: drei Jahre in der Fernbeziehung, danach zwei letzte Jahre, weil ich die Stadt nicht aufgeben wollte, nur, weil mein Partner uns zwei aufgegeben hatte.

Auch Barbara Yelin trifft eine Goethe-Praktikantin - und zitiert sie im Comic: "Bevor ich hierher kam, habe ich in Erfurt studiert. Dort gabs wöchentlch AfD-Aufmärsche, das war schlimm. Seit ich hier bin, geht mir das Herz auf. Hier gibt es ein gutes, offenes Zusammenleben." Eine Frau am Nebentisch sagt: "We are ALL immigrants."

In zwölf Bildern zeigt Über Unterwegs: Cosmopolis die Hochhäuser Downtowns - und verweist drauf, das trotzdem weniger als 2000 Gebäude dort besonders hoch sind. Yelin zeigt Niagara-Fälle - und, daneben: die bizarren Casinos, Wachsfigurenkabinette und den Honeymoon-Kitsch 500 Meter stadteinwärts. Geld sparen und drei Monate pro Jahr dort leben: ging für mich. Dort leben, fest: wie? In Cafés an Texten arbeiten, für deutsche Zeitungen: ging. Tatsächlich teilhaben am kanadischen Literaturbetrieb: wie? WG-Zimmer, Imbisse, Konzerte, Bookstores? Das Stadtleben auskosten: ging! Eine Existenz dort aufbauen: wie, zu welchem Preis?

Irmina ist kein Parabel-Comic, sondern fußt auf dem Leben von Barbara Yelins Großmutter. Als Irmina Howard kennen lernt 1934, fragt sie sich, wie ein Mann of Color in Oxford studieren kann. Erst glaubt sie, er sei Barkeeper. In welcher Liga Howard tatsächlich spielt, ist keine Schlusspointe des Comics, sondern muss in jeder Szene neu gewichtet werden: Sie ist weiß. Er erfährt Rassismus. Er ist Mann. Sie "nur" Frau. Als beide Leben Jahrzehnte später noch einmal bloß liegen voreinander, wird alles neu gewertet: Irmina nahm Hitler hin, Pogrome und Hass. War Deutschland zwangsläufig, für sie? War Anpassung unvermeidlich? Wer wäre sie geworden, in London oder Barbados? Stand ihr tatsächlich "alles" offen, 1934?

Ich habe kein Recht, meine Toronto-Sprünge "mutig" zu nennen: Von genau den Geldbeträgen, die ich zwischen 25 und 30 zur Verfügung hatte, holte ich mir Zeit in genau der westlichen, englischsprachigen Stadt, die offen, vielfältig, queer, artsy und entspannt genug war, um dort kaum anzuecken. 2012 verliebte ich mich dort neu, in einen Barista/Journalisten. Auch 2013 gingen wir aus, und als ich (mit Übersetzungen) Extra-Honorar verdient hatte, genug für ca. zwei weitere Toronto-Monate im Herbst, fragte er: "In welche Stadt würdest du gehen mit dem Geld, falls es mich nicht gäbe?" Ich sagte "New York." Er sagte "Dann nimm New York", und trennte sich.

Ich hatte zwei Monate New York, Ende 2013. Im Sommer 2014 nahm sich ein wichtiger Toronto-Freund das Leben. Und Jahr für Jahr kommt es mir seitdem kapriziöser vor, viele Monate lang Geld zu sparen, um einfach nochmal zwei, drei Monate dort zu leben: die Ankerpunkte fehlen, der Sog. Das Wissen, jemand wartet dort auf mich. Ich nahm so lange an Toronto teil, wie Geld, Zeit, Privilegien dafür genügten.

Barbara Yelin fragt oft nach Frauenleben, -Selbstbildern, -Lebensentwürfen und, welchen Wert hat, was Jahrzehnte später davon übrig bleibt. Ihr Comic "Der Sommer ihres Lebens" (zusammen mit Autor Thomas von Steinaecker) zeigt Gerda, die Astrophysikerin werden wollte und heute im Altersheim den Faden verliert. Ich weiß nicht, ob ich hart genug um Toronto kämpfte. Um meine zwei Beziehungen dort. Was hätte ich opfern müssen, um mir sechs, neun, elf Monate pro Jahr dort zu finanzieren?

Meine Mutter schenkte mir Flugtickets zu Weihnachten. Das unbezahlte Goethe-Praktikum konnte, wollte ich mir leisten. Drei Monate 600 Dollar Zimmermiete kriegte ich hin, weil ich den Rest der Zeit im leerstehenden Haus meiner toten Großeltern wohnte, mietfrei. Die simple Lektion aus Ian McEwans Am Strand beherzige ich: "Sag was! Frag nach!"

Die härtere Lektion, die Yelin oft vermittelt: Jede und jeder kommt meist ungefähr so weit im Leben, wie er mit seinen Mitteln, Privilegien und dem Rückhalt aus seinem Milieu halbwegs bequem voran kommt.

Ein Highlight in Yelins Toronto-Comic ist der Besuch von TCAF, dem Toronto Comic Arts Festival, jährlich Anfang Mai. "Drei Etagen Comics aus aller Welt. Über 500 Zeichner von überall. Ich bin im Paradies!" Ich war nie auf dem Festival - weil mir ein Extra-Monat Miete zu teuer war. Als Comic-Journalist tankte ich in Toronto Expertise, kulturelles Kapital, oft Vorsprung, Nischen-Wissen: durch billige Second-Hand-Titel, Lesungen, Büchereien und durch Freundschaften. Eine "Fortbildung", die ich selbst zahlte. Viel Geld ausgeben für Toronto hieß für mich: in Toronto selbst oft wunderbar wenig Geld ausgeben müssen - für Imbisse, Konzerte, Kultur.

Ich glaube nicht, dass ein Leben in Deutschland per se enger, kulinarisch fader, heteronormativer, dörflicher, kulturell homogener sein muss. Doch ich glaube, es gibt wenige Städte, aus denen ich mit meiner Zeit, Kraft und meinem Budget so viele Erinnerungen, Freundschaften, Schwung, Momente-des-Gesehen-und-Verstanden-Werdens, Sushi und Lektüren hätte holen können.

Dass ich dort war, zeigt nicht, dass ich "besonders" war oder Besonderes "wagte" - sondern misst Privilegien, Bequemlichkeit, soziale Klassen, Habitus und Risiko. Mit Eltern, etwas reicher, hätte ich vielleicht fünf Jahre New York. Oder eine Ehe in Toronto. Oder einen Vater, der mich anbrüllt: "Comic-Journalist? Freelancer, ohne institutionelle Anbindung? Was sollen die Leute denken?!"

Dass Barbara Yelin Toronto mochte und genoß, macht Über Unterwegs: Cosmopolis deutlich genug. "Würdest du nochmal hingehen?" frage ich gern Leute, um rauszufinden, ob ein Ort nur angenehm war - oder etwas Tieferes rührte. Ich sehe, wie Yelin die bummeligen Straßenbahnen zeichnet. Chinatown. Queere Comicfans, Leute of Color, laut, selbstbewusst, selbstverständlich im Stadtbild. Das Schwere an Zeit im Ausland? Die ersten Tage denke ich "Reicht mir Deutschland?" Doch dann, beim Rechnen: "Könnte ich Toronto reichen? Zu welchem Preis?" Das ist die Frage, die Yelins Heldinnen spannend macht: "Zu welchem Preis?"

Top