Uttaran Das Gupta über „Reiseskizzen aus Vietnam“
Momentaufnahmen aus Vietnam

Hanoi oder Saigon? Am besten beides. Hanoi ist für Tourist*innen interessanter. Die Hauptstadt Vietnams scheint „verrückter“, irgendwie spezieller. Und älter als das moderne Saigon. Hanoi bietet zahlreiche Sehenswürdigkeiten und ist ein guter Ausgangspunkt für Tagestouren nach Sapa, Ninh Binh oder in die Halong Bucht. © Reinhard Kleist


Bei der Betrachtung der Bilder des deutschen Graphic-Novel-Zeichners Reinhard Kleist fühlt sich der Autor in das Kalkutta seiner Kindheit unter kommunistischer Herrschaft zurückversetzt.
 
Das US-Generalkonsulat in der ostindischen Metropole Kalkutta liegt an einer Straße, die nach dem vietnamesischen Revolutionsführer Ho Chi Minh benannt wurde. Die Kommunisten, die 35 Jahre lang über die Stadt und den Bundesstaat Westbengalen herrschten, gaben dieser Straße auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs einen neuen Namen. Es war ein grausamer Scherz gegen das Konsulat, das die New York Times als „eine der am meisten belagerten diplomatischen Vertretungen der USA in aller Welt“ beschrieb. Für all diejenigen von uns, die im kommunistischen Kalkutta aufwuchsen – das Linksbündnis wurde 2011 abgewählt – ist Vietnam so etwas wie ein Xanadu oder ein Eldorado.
 
Die „Bilder“ (was im Englischen für Fotos steht), die der deutsche Grafikkünstler Reinhard Kleist von seinen Reisen in diesem Land zeichnete, wecken bei vielen von uns Kindheitserinnerungen an einen kommunistischen Slogan in Bengali: „Amar naam, tomar naam, shobar naam Vietnam (Mein Name, dein Name, unser Name Vietnam)!“ Für Inder*innen sind Reisen nach Vietnam nichts Ungewöhnliches. Es gibt Direktflüge von Kalkutta nach Hanoi und Ho-Chi-Minh-City mit einer durchschnittlichen Flugzeit von 10 Stunden. Im vergangenen Jahr besuchten fast 170 000 indische Tourist*innen Vietnam. Doch der Anblick von Kleists Zeichnungen vermittelt einen anderen Eindruck von diesem Land als das Scrollen durch die Instagram-Feeds der Tourist*innen. Es ist ein Eindruck, der sich in ähnlicher Weise auch beim Lesen der Geschichten von Pico Iyer oder Paul Theroux einstellt.
 
Comic-Journalismus oder Comic-Sachbücher sind kein neues Genre. Es gibt jedoch neue Entwicklungen in dieser Sparte. Auf persönliche Geschichten wie Maus (1980) von Art Spiegelman und Persepolis (2000) von Marjane Satrapi folgte Gaza (2009) von Joe Sacco. „Illustration kann eine ausgesprochen eindrucksvolle Form des Geschichtenerzählens sein“, so Carrie Ching, die für das Panama-Papers-Projekt des internationalen Konsortiums investigativer Journalisten ein animiertes Video gestaltete. Andere Journalist*innen nannten drei Genres – Politik, Geschichte und investigative Ermittlungen –, die sich besonders gut als Themen für zeitgenössischen Comic-Journalismus eignen.
 
Auch Kleist hat in seiner Arbeit verschiedene Genres in Comicform erkundet, unter anderem in Biografien wie Cash (2006) und Der Boxer (2011). Letztere erzählt die Geschichte des jüdischen Boxers Harry Haft, der im Konzentrationslager Auschwitz an von Nazioffizieren organisierten Todeskämpfen teilnahm. Der Gattung Reisebericht widmet sich Kleist mit seinen zeichnerischen Eindrücken aus Vietnam und anderen Ländern. Auch diese Form ist für den Künstler nicht neu. In seinem 2008 erschienenen Comicroman Havanna erkundet er die kubanische Hauptstadt auf 100 Seiten in Skizzen und detaillierten Zeichnungen. Die Skizzen aus Vietnam sind Teil einer Art Triptychon, zu dem auch Zeichnungen aus Laos und Kambodscha gehören. Alle drei Nationen waren Schauplätze eines der heftigsten Stellvertreterkriege des Kalten Krieges.
 
Allerdings ist der Vietnam-Teil mit 23 Skizzen der längste der drei – zu Laos gibt es nur 12 und zu Kambodscha nur 11 Bilder. Er ist zudem farbenfroher, bietet mehr Abwechslung bei den Schauplätzen und Charakteren und hat, was vielleicht besonders wichtig ist, eine humorvolle Note. Da sind zum Beispiel die beiden letzten Bilder aus dieser Reihe. Ein Soldat in grüner Uniform hockt mit teilnahmsloser Miene auf dem Sitz eines geparkten Motorrads. Auf einer Seite des Lenkers hängt eine Tasche mit einer Flasche oder einer Lunchbox. Auf der anderen Seite blickt ein Junge in den Rückspiegel. Sein Mund ist zwar nicht zu sehen, doch seine Augen lassen ein Lächeln vermuten. Vietnamesische Soldaten dienen oft als kulturelle Bedeutungsträger – insbesondere nach Filmen wie Die durch die Hölle gehen (1978), Apocalypse Now (1979) und Full Metal Jacket (1987). Die Gegenüberstellung des Soldaten mit dem Jungen soll möglicherweise den Übergang des Landes von den Schrecken des Krieges zum relativen wirtschaftlichen Wohlstand der jüngsten Vergangenheit darstellen.
 
Ein weiteres Bild von Saigon zeigt Hochhäuser an einer belebten Straße. Auf der schwarz-weißen Zeichnung sind nur die Werbetafeln farbig. Die Zahl „40“ ist die einzig sichtbare Information auf diesen Tafeln und ein Hinweis darauf, dass Kleist das Land 2015 während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Sieges des sozialistischen Nordens über den von den USA unterstützten Süden bereiste. Es gibt keinen weiteren Text. „Nach dem militärischen Sieg begann der Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Vietnam“, schreibt Nick Davies im Guardian. „Heute boomt die Wirtschaft – aber auch Ungleichheit und Korruption haben Konjunktur.“ Kleist verzichtet auf einen Kommentar, doch seine Motive sind aussagekräftig genug, um das zwiespältige Verhältnis des Zeichners zu den politischen und sozio-ökonomischen Zusammenhängen, die er beschreiben will, zum Ausdruck zu bringen.
 
Womöglich kommt dies am besten in der Zeichnung des Ho-Chi-Minh-Mausoleums in Hanoi zum Ausdruck. Auf diesem ebenfalls schwarz-weißen Bild schreiten Besucher*innen mit ernster Miene – und vermutlich schweigend – am einbalsamierten Körper des Sozialistenführers vorüber. Auf dieser nicht ganz ernsthaften Illustration geht vom Leichnam ein leichtes Leuchten aus. Der Künstler oder Betrachter (?) nimmt eine distanzierte Perspektive außerhalb des Bildausschnitts eins. Letztlich wird die hier dargestellte Vergötterung auf harmlose Weise ein wenig auf die Schippe genommen – womit der Zeichner die gesunde Skepsis eines professionellen Journalisten an den Tag legt.
 

Top