Sprechstunde – die Sprachkolumne
Haibun – oder wie mich mein Japanwissen das Humpeln lehrte

Illustration: Eine Person mit einer Sprechblase in Form eines Buches auf dem die Buschstaben B, U, C, H zu lesen sind
Welche Büche hatte ich eigentlich dabei? | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Unser neuer Kolumnist Jan Snela denkt an eine Japanreise, die einige Monate zurückliegt. Erinnerungen an Erlebnisse verweben sich dabei mit Gedanken an die Reiselektüre.

Von Jan Snela

Seit drei Monaten wieder zurück von meiner Japanreise frage ich mich: Welche Bücher hatte ich eigentlich dabei? Zwischen einer duty free erworbenen Sake-Flasche, einigen Päckchen dieser really Irresistible Rice Crackers and Peanuts, die man in jedem Combini (Japans Pendant zu den Spätis) kaufen konnte, einem Notizbuchblatt, auf dem mir Kimie, die Wirtin des Bed’n’Breakfast in Kamakura, ein Haiku Matsuo Bashōs in japanischen Zeichen, in alphabetischer Umschrift der japanischen Laute sowie in englischer Übersetzung notiert hat, vier aus dem Pachinko-Parlour in Nara entwendeten Eisenkugeln und Dutzenden, aus mir heute unerfindlichen Gründen aufgehobenen, Kassenbons, wühle ich vergeblich nach Anhaltspunkten. Auf keinem der vielen Zettelchen, von denen ich manche bekritzelt habe, findet sich auch nur die Spur eines Zitats, das mir darüber Aufschluss geben könnte.

Genug Ballast

Geschlossenes Buch mit der Aufschrift „Roland Barthes – Im Reich der Zeichen“, daneben ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit
Japan-Reiselektüre: Roland Barthes’ „Das Reich der Zeichen“ | Foto: Jan Snela
Natürlich: Das Reich der Zeichen von Roland Barthes, mit seiner faszinierten Stilisierung japanischer Phänomene zum total Anderen der europäischen Tradition – mein liebster Japan-Fetisch. Selbstverständlich Matsuo Bashōs Haibun, die klassische Gattung der japanischen Literatur, kurze Prosa, geschrieben von Haiku-Dichter*innen. Aber was sonst? Ich bin mir sicher, es war eher nicht so grundsätzliches, japonisierendes Zeug. Weder Der japanische Geist von Karl Löwith noch Ruth Benedicts Chrysantheme und Schwert. Formen japanischer Kultur. Eher: Tage in Tokio von Christoph Peters. Wahrscheinlicher: Tagame von Kenzaburo Ōe. Für meine Verhältnisse waren es jedenfalls nicht sonderlich viele Bücher. Trotzdem: Genug des Ballasts, um mir mehrfach den Rücken zu verheben auf meinen realen Wegen vom Regionalzug zum Shinkansen, vom Großen Buddha in Kamakura bis vor die mir verschlossen gebliebenen Türen des Nachtclubs Mist in den Vergnügungsvierteln von Kochi-shi.

Geöffnetes Buch, daneben eine Tasse mit Kaffee
Von 833 Stunden lediglich zwei lesend verbracht | Foto: Jan Snela
Vom Augenblick meiner Landung auf dem Airport Narita bei Tokio bis zu meinem Abflug ebendort standen mir in Japan insgesamt 833 Stunden zu Verfügung. Lesend verbracht habe ich davon: zwei. Zumindest, wenn man unter Lesen versteht = in einem Buch zu blättern, aus Buchstaben Wörter, aus Wörtern Sätze zusammenzusetzen im Druckstock Hirn. In allen übrigen Stunden bestaunte ich, wenn ich nicht schlief, die den tötenden Buchstaben widerlegenden Lebenszeichen einer mir bis dahin vor allem lesend nähergebrachten Kultur. Und kalligraphierte dem so Erstaunlichen wie Tatsächlichen, dem sich mir Zeigenden wie Entziehenden, dem sich nur schwerlich unter dem Begriff für eine „Kultur“ Zusammenfassbaren, vag hinterher.

Ein altes Paar

Zwei Personen mit Atemschutzmaske sitzen sich an einem Tresen gegenüber, beide scheinen sehr konzentriert jeweils mit einer Arbeit beschäftigt zu sein
Die beiden wirkten wie unablässig voreinander verbeugt | Foto: Jan Snela
Zwei Stunden also. In einem Café im ersten Stockwerk eines kleinen Gebäudes in Kyoto. Darin ein philemon-und-baucishaftes, in seiner wortlosen Trautheit unwahrscheinliches, altes Paar, das sich irgendwann – vielleicht vor Jahrzehnten – dazu entschlossen haben musste, den gemeinsamen Lebtag mit dem Rösten, Sortieren und Mahlen von Kaffeebohnen und dem Brühen von Kaffee zuzubringen. Ich staunte über den Grad an Eingenischtheit, über die zweisame Stille. In mir lief ein japanischer Film.

Wie die beiden sich erst am Abend verhalten angeregt über die Fremden unterhalten würden, die tagsüber in ihren Laden gekommen waren = eine jener bei Ōe zu lesenden dialogischen Meditationen, zugefallene Zeichen als bedeutsame Spuren. Getrieben allerdings vom genauen Gegenteil des europäischen Wunsches, dem Rätsel oder Geheimnis irgendwann auf den Grund zu kommen.

Barthes, Philemon und Baucis

Zwei Stunden im Reich der Zeichen. Mit Rückenschmerzen. Ein Klassiksender am Grunde meines Gehörs. War das noch die okzidentale „innere Radiophonie, die das unausgesetzte Gespräch mit dem Selbst in Gang hält“ oder vernahm ich bereits den „Schnitt ohne Echo“ = das „Ende der Reden“? Fi-le-mon und Bao-tsi blieben für die Dauer meines Aufenthalts jedenfalls still.

In Japan war ich übrigens, um meinerseits für ein Buch zu recherchieren. Um genauer zu sein: für einen Haibun. Ich würde gerne jetzt hier sofort noch etwas darüber erzählen.  Aber das werde ich aufs nächste Mal vertagen. Vor vielen Jahren erzählte mir eine Japanerin auf einem Gartenfest, in Japan möge man es nicht, mehr als 60 Prozent einer Sache auszusprechen. Und was die für diese Kolumne veranschlagten circa 3.500 Zeichen angeht, bin ich schon bei deutlich über 100 Prozent.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

Top