Sprechstunde – die Sprachkolumne
Sprachhunger

Illustration: Ein Mobilgerät mit rechteckigem weit geöffneten Mund, gezackte Sprechblase
In den sozialen Netzwerken lernt man viel über die menschlichen Untiefen und Dynamiken | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

„Geschälte Realität in geschälter Sprache“: Das sind für unsere Kolumnistin Jagoda Marinić – Schriftstellerin, Journalistin, Podcasterin – die sozialen Medien. Warum verursacht X, vormals Twitter, heute Übersättigung und Hunger zugleich? Und wie holen wir uns die digitalen Spielmomente zurück?

Von Jagoda Marinić

2024 beginnt für mich mit einer Art Sprachhunger. Es ist das fünfzehnte Jahr, in dem ich auf Twitter bin. Und schon so lange hat diese Plattform – seit der Übernahme durch Elon Musk X genannt – meinen Umgang mit Sprache verändert: Nicht nur die Art, wie ich mich selbst ausdrücke, sondern auch die Art, wie ich andere lese, Trolle und Bots natürlich ausgenommen.

Haikus auf Twitter

Anfangs war das Schreiben auf Twitter eine Art digitale Dichtkunst. Es durften nur 140 Zeichen pro Tweet sein, jeder nahm seine Wirklichkeit und verdichtete sie, es war wie kollektives Schreiben von Haikus. Schnell zeigte sich die Kreativität der Nutzer. Wer beherrschte es, komplexe Sachverhalte und Meinungen in wenigen Worten zum Ausdruck zu bringen? Die verlangte Kürze schreckte aber auch viele ab, die lieber auf Facebook in wenigen Worten ihr Parallel-Privatfeuilleton schufen und schon eine Stimmung des diskursiven Terrors gegeneinander andeuteten, der bis heute herrscht. Dann erhöhte Twitter seine erlaubte Zeichenzahl auf 280. Es folgten die Threads, wie eine Art zehn Gebote der Twitterei, und seit 2023 kann man auf Twitter seine Essays platzieren, wenn man der Plattform einen Beitrag bezahlt. Die Texte sind ein Alptraum, meistens komme ich beim Lesen nicht über den dritten Absatz hinaus.

Digitale Massenbewegung

Das digitale Ich und das digitale Wir haben unsere Gesellschaft und das Reden über sie verändert. Was ist das für ein merkwürdiger geistiger Vorgang, morgens schon nach kurzen Sätzen zu suchen, die bei möglichst vielen haften bleiben sollen, folglich das eigene Denken und Schreiben der digitalen Massenbewegung unterzuordnen. Und das in kürzesten Abständen. Obwohl es Millionen deutschsprachiger Nutzer gibt, fühlt sich Twitterlesen manchmal an, als sei alles ein großer einfallsloser Text voller Redundanzen. Jeder, der dort postet, wiederholt dasselbe auf andere Art. Die wenigen Nutzer – man muss wohl besser Menschen sagen –, die auf Twitter noch eigenständig und kreativ mit Sprache und Gedanken umgehen, fallen einem sofort auf. Sie sind die Human Aliens in diesem digitalen Melting Pot der Gleichförmigkeit.

Nah am Geschehen

Zwei Dinge, die auf dieser Plattform stattgefunden haben, waren für mich einschneidend: der Arabische Frühling und Trump. Ich erinnere mich noch, dass man einerseits nicht wusste, was genau Anfang der 2010er-Jahre am Tahrir Platz in Kairo geschah. Und gleichzeitig las man plötzlich im eigenen Handy, was Betroffene vor Ort dachten, als hätte man Einblick in private Aufzeichnungen, auch wenn sie von vornherein für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Da die Presse kaum Zugang zum Geschehen hatte, zitierte CNN plötzlich einen jungen Mann, der in meinem Handy auf 140 Zeichen seinen Widerstand zum Ausdruck gebracht hatte. Es kam mir vor wie eine Revolution, dass mein Handy mehr wusste als CNN.

Ganz anders bei Donald Trump. Als der in den USA regierte, veränderte sich Twitter vom Medium des Widerstandskampfs für Freiheit zum Medium, das ein Staatschef nutzt, um seine Abwertungsmaschine in der Öffentlichkeit zu etablieren. CROOKED HILLARY!!! Die Großbuchstaben und Ausrufezeichen wurden zur Fassade des autoritären Geschreis.

Wo bleiben die Spielmomente?

In den sozialen Netzwerken lernt man viel über die menschlichen Untiefen und Dynamiken, fast mehr, als wenn man die vielschichtige Wirklichkeit und die daraus resultierende Mehrdeutigkeit der Menschen und ihr Reden in Betracht zieht. Soziale Medien sind eine Art geschälte Realität in geschälter Sprache, weil jeder denkt, er müsse sich auf das vermeintliche Wesentliche konzentrieren. Stets wird der Verkündungsmodus gewählt, als wäre jeder seine eigene Pressestelle. Das Empfangene ist nur relevant, wenn man es aufgreifen kann. Der Spieltrieb wurde mit Trump weitgehend von der Plattform vertrieben, er sitzt jetzt nur noch in den letzten Nischen. Vermutlich aber ist auch das ein Sinnbild für unsere Gesellschaft, die immer weniger Raum für Nuancen und Zweifel hat. Die digitale, sozial-mediale Welt ist voller Worte - und doch habe ich den größten Sprachhunger, wenn ich Debatten auf Twitter gelesen habe.
 
Der Sprachhunger schafft manchmal Spielmomente, die auch im Netz das Schönste zusammenbringen können. Es wird so kein viral gehender Post entstehen, aber einer, der die Richtigen erreicht. Nach Silvester durchforstete ich das Netz nach besonderen Worten, die man in der Übersetzung umschreiben muss, weil es für sie im Deutschen keine Entsprechung gibt. Kuchisabishii fand ich, das japanische Wort bedeutet bei uns ungefähr: Wenn du nicht hungrig bist, aber isst, weil dein Mund einsam ist. Als ich es postete, schwirrten andere Sprachhungrige drum herum.

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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