Gesundheitliche und soziale Ungleichheit in Deutschland
„Erhöhte gesundheitliche Risiken für benachteiligte Gruppen“

Mit abgepackten Lebensmitteln, die am Fenster der Heilsarmee im Leipziger Stadtteil Paunsdorf ausgegeben werden, läuft eine Familie nach Hause. Verteilt werden Lebensmittelspenden und nach Bedarf auch selbstgenähter Mundschutz von Unternehmen der Stadt und vom Bundesligisten RB Leipzig. Aufnahmedatum: 15.04.2020.
Mit abgepackten Lebensmitteln, die am Fenster der Heilsarmee im Leipziger Stadtteil Paunsdorf ausgegeben werden, läuft eine Familie nach Hause. Verteilt werden Lebensmittelspenden und nach Bedarf auch selbstgenähter Mundschutz von Unternehmen der Stadt und vom Bundesligisten RB Leipzig. Aufnahmedatum: 15.04.2020. | Foto (Ausschnitt): © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Waltraud Grubitzsch

Mit der Pandemie nahm das öffentliche Interesse am Thema gesundheitliche Ungleichheiten in Deutschland rasant zu. Jan Paul Heisig, Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin, analysiert diese Ungleichheiten und ihre Zusammenhänge mit sozialen Ungleichheiten in der deutschen Gesellschaft.

Von Jan Paul Heisig

„Social Distancing“ war einer der ersten der zahlreichen neuen Begriffe, die wir im Verlauf der Pandemie lernten, obwohl viele den Begriff der „räumlichen Distanzierung“ für passender hielten: Durch das Virus mögen wir uns zwar gezwungen sehen, unsere unmittelbare physische Interaktion einzuschränken. Auf eine sinnvolle Interaktion mit anderen Menschen, die einen wesentlichen Einfluss auf unser Wohlergehen hat, können wir dagegen nicht verzichten.

Die Pandemie zwang uns allerdings nicht nur zu einer räumlichen Distanzierung. Sie hat darüber hinaus auch die enormen – sozial bedingten – Unterschiede in den Fokus gerückt, die Menschen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage und Lebensbedingungen, ihres individuellen Gesundheitszustands und Zugangs zur Gesundheitsversorgung voneinander trennen. Diese Ungleichheiten wirkten sich ganz entscheidend auf die Wahrnehmung der Pandemie in der Bevölkerung aus. Viele Formen von Ungleichheiten gewannen zusätzlich an Gewicht, wenn einige Menschen ihren Arbeitsplatz verloren oder ihr Unternehmen schließen mussten, während andere eine bisher ungekannte Nachfrage nach ihren Dienstleistungen erlebten. Einige konnten dem Coronavirus durch Arbeit im Homeoffice problemlos aus dem Weg gehen, während andere am Arbeitsplatz einer ständigen Infektionsgefahr ausgesetzt waren.

In Deutschland standen die sozialen Ungleichheiten bei den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie schon frühzeitig sehr weit oben auf der politischen Agenda. Mit zahlreichen, nicht in allen Fällen zweckmäßigen Maßnahmen, wie einer Aufstockung des Arbeitslosengelds, wollte man die finanziellen Auswirkungen der Krise auffangen. Ein öffentliches Bewusstsein für die ungleiche Verteilung der gesundheitlichen Risiken entwickelte sich dagegen erst später. Dies mag auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass sich die Pandemie ursprünglich auf relativ wohlhabende Regionen und Nachbarschaften konzentrierte: Die ersten großen Ausbrüche im März 2020 wurden durch Personen ausgelöst, die von einem Skiurlaub in den österreichischen Alpen zurückkehrten und damit einer vergleichsweise kostspieligen Freizeitaktivität für eine entsprechend gut situierte Kundschaft nachgingen. Die weit verbreitete Annahme, das deutsche Gesundheitssystem könne – mit Ausnahme einiger Privilegien für Privatversicherte im Unterschied zu gesetzlich Versicherten – eine qualitativ hochwertige Versorgung für alle gewährleisten, mag ebenfalls zum allgemeinen Eindruck beigetragen haben, dass sich die gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie relativ gleichmäßig verteilten.

Ungleichheiten in den gesundheitlichen Folgen

Sozialwissenschaftler*innen und Epidemiolog*innen warnten schon früh davor, dass von der Pandemie ein erhöhtes gesundheitliches Risiko für benachteiligte und vulnerable Gruppen, wie Menschen mit niedrigem Einkommen, einem niedrigen Bildungsabschluss, und/oder Migrationshintergrund, ausgehen würde. Und die folgenden Monate sollten ihnen Recht geben, denn die Datenlage deutete immer mehr auf ein verstärktes Infektionsgeschehen und eine höhere Sterblichkeit in benachteiligten Regionen und Nachbarschaften mit hoher Armut und Arbeitslosigkeit hin. Davon ausgehend ist die Beweislage für eine ungleiche Verteilung der gesundheitlichen Folgen der Pandemie in Deutschland weniger eindeutig als in vielen anderen einkommensstarken Ländern. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Daten zum sozioökonomischen Status und der ethnischen Zugehörigkeit in der deutschen Sterbestatistik nicht erfasst werden und dass die Verwaltungsdaten der Krankenkassen und anderer Informationsquellen fragmentiert und schwer zugänglich sind. Die verfügbaren Daten stammen daher überwiegend aus Vergleichen auf Kreisebene und anderen Verwaltungsebenen, die möglicherweise keinen Aufschluss über zahlreiche wichtige Variationen zwischen diesen Einheiten geben. Trotz dieser eingeschränkten empirischen Befundlage entwickelte sich im Verlauf der zweiten Welle zwischen September 2020 und März 2021 eine breitere öffentliche Debatte über die sozialen Ungleichheiten in den gesundheitlichen Folgen der Pandemie.

Auf diese Weise rückte die Pandemie die gesundheitlichen Ungleichheiten zumindest vorübergehend stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Debatte kreiste im Wesentlichen um unterschiedliche Infektionsrisiken, die sich auf den Grad der Kontaktintensität am jeweiligen Arbeitsplatz oder beengte Wohnverhältnisse zurückführen lassen, mit denen die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung innerhalb der Familie zunimmt. Nach wie vor gilt: Die ungleiche Verteilung der Infektionsrisiken ist ein entscheidender Faktor. Weniger Beachtung fand hingegen die Tatsache, dass höhere Hospitalisierungs- und Mortalitätsraten auch die Folge einer höheren Vulnerabilität aufgrund von Vorerkrankungen und eines insgesamt schlechteren Gesundheitszustands sind. Mit der Pandemie haben sich diese Ungleichheiten bei der Gesundheit und der Mortalität weiter verschärft. Dabei ist jedoch unbedingt zu bedenken, dass dies nur möglich war, weil sogar in einkommensstarken Ländern mit einem für alle zugänglichen Gesundheitssystem wie in Deutschland grundlegende Ungleichheiten in der Vulnerabilität bestehen. Diese Ungleichheiten haben sogar unabhängig von einer Pandemie grundlegende Mortalitätsunterschiede zur Folge. Aus einer Studie zur Lebenserwartung bei der Geburt aus dem Jahre 2019 geht hervor, dass die Lebenserwartung für alle Angehörigen der höchsten Einkommensgruppe (≥ 150 Prozent des deutschen Median, was ungefähr einer Summe von 2240 Euro pro Monat für eine Einzelperson entspricht) schätzungsweise vier bis fünf Jahre (Frauen) oder sogar acht bis neun Jahre (Männer) über der von Angehörigen der niedrigsten Einkommensgruppe (< 60% des deutschen Median, was ungefähr einer Summe von 900 Euro pro Monat für eine Einzelperson entspricht) liegt.

Eine globale Antwort ist gefragt

Wenn wir die Lehren aus der Pandemie ernst nehmen wollen, müssen wir die strukturellen Ungleichheiten erkennen und angehen, die den genannten gesundheitlichen Ungleichheiten zugrunde liegen. Die Wirkungspfade, die den sozioökonomischen Status mit Gesundheit und Mortalität verbinden, sind komplex und bisher nicht ausreichend erforscht. Gleichzeitig können wir auf Grundlage unseres derzeitigen Wissensstands schon heute aktiv werden. Immer mehr Sozialwissenschaftler*innen und Epidemiolog*innen betrachten chronischen Stress durch allostatische Belastung und Erfahrungen mit Widrigkeiten, Benachteiligungen und Unsicherheit als eine der wesentlichen Ursachen für gesundheitliche Ungleichheiten. Diese Auffassung legt nahe, dass gesundheitliche Ungleichheiten nicht allein in der Gesundheitsversorgung bekämpft werden müssen, sondern vielmehr im Rahmen eines umfassenderen Ansatzes, der auch sozial- und wirtschaftspolitische Strategien berücksichtigt. Was wiederum nicht bedeutet, dass die Gesundheitsversorgung kein Gewicht hat. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen daher ein besseres Verständnis dafür entwickeln, welchen Einfluss der sozioökonomische Status, das Geschlecht und die ethnische Zugehörigkeit auf den Zugang zu sowie auf die Inanspruchnahme und die Qualität von medizinischen Leistungen haben. Für Ungleichheiten in der Versorgung gibt es viele verschiedene Ursachen, darunter eine geringere Nutzung von Versorgungsangeboten durch benachteiligte Gruppen, aber auch eine bewusste Diskriminierung, zumindest durch einige Vertreter*innen der Ärzteschaft. Ein weiterer Schlüsselfaktor ist die fehlende Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen und ethnischen Diversität in der medizinischen Ausbildung und in klinischen Studien. Viele „Best Practices“ in der Medizin sind vermutlich (unbeabsichtigt) auf Angehörige von Mehrheitsgruppen und Gruppen mit höherem sozialen Status zugeschnitten. Den spezifischen physiologischen und sozialen Bedürfnissen der Angehörigen von Gruppen mit einem niedrigeren sozialen Status und Minderheitengruppen werden sie dagegen weniger gerecht. All dies macht deutlich, dass es einer langfristigen Agenda bedarf, um gesundheitliche Ungleichheiten sowohl durch verstärkte Forschungsbemühungen als auch ein massiveres Eingreifen zu reduzieren.

Ich begann meinen Beitrag zur Frage nach gesundheitlichen Ungleichheiten in Pandemiezeiten mit der Situation in Deutschland, doch gesundheitliche Ungleichheiten sind eine globale Herausforderung, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen auf innerstaatlicher Ebene, weil Unterschiede bei Gesundheit und Mortalität zwischen höheren und niedrigeren sozialen Schichten in allen Ländern zu beobachten sind. Zum anderen aber auch auf zwischenstaatlicher Ebene, weil die reichen Ländern des globalen Nordens und die ärmeren Ländern des globalen Südens enorme Disparitäten bei Gesundheit und Mortalität aufweisen. Wirklich umfassend lassen sich gesundheitliche Ungleichheiten daher nur auf globaler Ebene bekämpfen. Allerdings deuten die Erfahrungen im Zusammenhang mit der Pandemie nicht unbedingt darauf hin, dass ein solcher Ansatz ein realistisches Szenario ist. Während der Pandemie gab es viele schlechte Entscheidungen und Fehlurteile. Doch das Unvermögen, einen weltweit fairen und umfassenden Zugang zu Impfstoffen sicherzustellen, zählt zweifellos zu den besonders beschämenden und folgenreichen dieser Fehlleistungen. Das Coronavirus löste eine Pandemie par excellence aus, die sich über den gesamten Planeten ausbreitete und von der Menschen in aller Welt betroffen waren und sind. Es bleibt zu hoffen, dass ein globales Ereignis dieser Tragweite ein Gefühl der Solidarität und Mitmenschlichkeit nach sich zieht. Bisher deutet zwar nur wenig darauf hin, doch für ein Umdenken ist es nie zu spät. Unser Kampf gegen die Pandemie muss, vor allem mit Blick auf die Verteilung von Impfstoffen, endlich dem Gebot der internationalen Solidarität folgen. Darüber hinaus müssen alle langfristigen Strategien zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten auch die globale Perspektive berücksichtigen.

 

Literatur

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