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Was ist „indisches Englisch“? Texte aus Indien sind für Übersetzer eine Herausforderung

Indisches Englisch
Indisches Englisch | Foto: © Bernhard Ludewig

Übersetzer haben es nicht immer leicht. Ein Blick ins Wörterbuch reicht oft nicht aus, um bestimmte Textpassagen zu übersetzten. Um alle sprachlichen Feinheiten richtig zu begreifen, muss man auch die Kultur und das Land, in dem die Sprache gesprochen wird, kennen. Das gilt vor allem für Englisch, das in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich verwendet wird.

„Das Englisch, das in Indien gesprochen und geschrieben wird, ist in jeder Beziehung zu einer indischen Sprache geworden“, sagt die bekannte indische Autorin Anita Desai. Nach einer Studie des indischen Linguisten Braj B. Kachru würden 55% der indischen Akademiker ihr Englisch als explizit „indisches Englisch“ bezeichnen.

Eating-Leaves und Loin-Cloths

Tatsächlich finden sich viele Ausdrücke, die so nur in Indien vorkommen, oder die in Indien anders verwendet werden als zum Beispiel in England, Amerika oder Australien. „Loin-Cloth“ heißt im britischen Englisch zum Beispiel „Lendenschurz“. In Indien ist der Begriff weiter gefasst und beschreibt traditionelle Wickelröcke für Männer. Auch die Frage „What is your good name?“ kann zu Missverständnissen führen. Gefragt wird hier nach dem Vornamen, der in anderen englischsprachigen Ländern „first name“ or „given name“ heißt. „Good name“ meint im herkömmlichen Englisch hingegen eher „guter Ruf“. Ein weiteres Beispiel ist „godown“, dass in Indien und der Region häufig anstelle von „warehouse“ (Lagerhaus/Lagerraum) verwendet wird. Und anstelle einer „Lunch Box“ haben indischen Schulkinder eine „tiffin box“ dabei. Schwierig wird es für Übersetzer, die mit dem indischen Alltag nicht so vertraut sind, auch bei „Eating-leaves“, Bananenblättern, die mancherorts als Teller verwendet werden.
Vorsicht gilt auch bei Maßeinheiten und Mengenangaben: Eine Milliarde ist in Indien wie in einigen anderen Ländern „one billion“. Geläufig sind auch „Crore“ für 10 Millionen, „Lakh“ für 100.000 und das Flächenmaß „bigha“ (zirka 2800 Quadratmeter), alles Begriffe, die aus dem Hindi stammen und Eingang in den englischen Sprachgebrauch gefunden haben. Auch das alte englische Längenmaß „furlong“ (zirka 200 Meter) ist in Indien noch gebräuchlich.  Auch altmodische Begriffe aus anderen Bereichen haben sich gehalten, wie die Wendung „she is in the family way“ statt „she is pregnant“. „So drücken sich meist ältere Leute aus, die eine Schulbildung in der Tradition der anglo-indischen Convent Schools genossen haben“, erläutert Reinhold Schein, der 12 Jahre als Lektor für deutsche Sprache, Literatur und Landeskunde in Indien gelebt hat und sich auf die Übersetzung von indischer Literatur spezialisiert hat.

Väter werden gesiezt

Wer das Alltagsleben im Land nicht kennt, macht auch Fehler bei der Verwendung von Du und Sie. Bei der Übersetzung englischer Texte werden hier normalerweise die in Deutschland üblichen Regeln angewendet. „Dass die Situation im indischen Kontext weit komplizierter ist, ahnt der normale Leser gar nicht, also etwa dass der Vater und die Verwandtschaft väterlicherseits gesiezt, die Mutter aber meist geduzt wird, und dass - zumindest in einem traditionellen Kontext - der Ehemann seine Frau duzt, sie ihn aber siezt“, erklärt Schein.
Irritierend für Leser und Übersetzer kann die in Indien und anderen südasiatischen Ländern vom Standard-Englisch abweichende Grammatik sein. Zum Beispiel wird die Bestätigungsfrage „Isn‘t it?“ häufig auch dann verwendet, wenn das britische Englisch eigentlich „doesn’t he?“ oder „aren’t you?“ erfordern würde.
Auch die Wörter „only“ und „itself“ haben sich im Sprachgebrauch mancher Regionen verselbstständigt, wie der indische Linguist S. N. Sridhar bei einer Studie in Bangalore festgestellt hat. Beide Wörter werden demnach auch verwendet, um eine Aussage zu verstärken oder etwas zu betonen. Zum Beispiel: „I got homework, but I forgot it only“. „Only“ wäre hier eigentlich nicht nötig, trotzdem benutzen es manche Inder. Grund könnte sein, dass im Hindi eine solche Aussage mit einem verstärkenden Wort „hi“ ergänzt wird, das als „only“ übersetzt werden kann. Auch „itself“ – im ursprünglichen Englisch reflexiv – wird in Indien benutzt, um etwas herauszustreichen: „I thought he would win the marathon, but he was tired after 2 km itself.” Eine andere Eigenheit hört man, wenn sich Leute gegenseitig vorstellen. Statt „I am Peter“ heißt es häufig „Myself Peter“.

Den regionalen Touch beibehalten

Solche Abweichungen vom Standard-Englisch findet man hauptsächlich in der Umgangssprache. Übersetzer bekommen mit solchen Fällen Probleme, wenn der Autor ganz bewusst solche „Fehler“ einstreut, um Figuren einen regionalen Touch zu verleihen. Wenn der Übersetzer die Fehler ausbügelt, geht dieser Touch und damit ein Stück des Charakters der Figur verloren.
Zu den Herausforderungen beim Übersetzen von Texten aus Indien kommen die auch in englischen Texte eingetreuten Ausdrücke aus dem Hindi und den Regionalsprachen, für die es in Englisch und Deutsch keine Entsprechung gibt, mit deren Erklärung Übersetzer aber ebenfalls beauftragt sind. Dazu zählen landestypische Speisen wie Paneer (eine Art Frischkäse), Ghee (ein Öl aus Milchfett) oder Pan (ein in Palmblätter gewickelter Kautabakmischung), genauso wie traditionelle indische Kleidungsstücke, beispielsweise die Gewänder „Sari“ und „Kurta“.
Die Inderin Namita Khare übersetzt indische Schriftsteller ins Deutsche und bekannte deutschsprachige Literatur, unter anderem von Herta Müller, ins Hindi und ins Englische. Sie beschreibt die Herausforderung, mit der sich Übersetzer konfrontiert sehen, so:  „Sprache wird von der Kultur, in der sie verwendet wird, geformt. Neben Syntax und Semantik muss man auf das ganze Paket an Bedeutungen achten, das ein Wort mit sich bringt, und ob es möglich ist, dieses Paket in der Zielsprache sinngemäß zu entpacken.“
Und in Indien gibt es viele Wörter, die ein ganzes Bedeutungspaket mit sich tragen. Allen voran die vielen religiösen Ausdrücke. „Havan“ zum Beispiel ist eine Segnungszeremonie, die ein hinduistischer Priester bei einem neugebauten Hauses durchführt; „Mundan“ ist ein ritueller erster Haarschnitt für Babys. In der Gänze seiner Bedeutung sind solche Begriffe kaum zu übersetzen. Auf der Suche nach griffigen und kurzen Umschreibungen läuft der Übersetzer Gefahr, wichtige Bestandteile dessen, was ein Wort transportiert, zu verlieren.

Drei Wörter für den Punkt auf der Stirn

Ein gutes Beispiel dafür ist auch der indientypische Punkt auf der Stirn. Für ihn gibt es drei unterschiedliche Wörter: „Sindoor“, „Bindi“ und „Tikka“. Bei „Sindoor” handelt es sich um einen zinnoberroten Punkt am Haaransatz. Er steht für das Verheiratetsein bei Frauen. „Bindi” dagegen heißt der Punkt, den Frauen zwischen den Augenbrauen tragen. Er repräsentiert die Weiblichkeit und kann farblich mit der Kleidung abgestimmt werden. „Tikka” nennt sich der Punkt, den Teilnehmer einer religiösen Zeremonie vom Priester bekommen. Ihn können auch Männer tragen. Der Übersetzer steht also vor der Wahl: Lasse ich den Leser im Unklaren über die genaue Bedeutung oder füge ich einen ganzen Satz hinzu, um ein einziges Wort zu erklären?
Ein Ausweg – zumindest bei wissenschaftlichen Texten und in Büchern - sind Fußnoten und Glossare. Aber selbst dort kommt es zu Unzulänglichkeiten, wie die Heidelberger Indologin Christina Oesterheld bei der Analyse von Premchand-Übersetzungen festgestellt hat. In einem der Glossare ist zum Beispiel das Hindi-Wort „Dupatta“ einfach als „ein Kleidungsstück“ erklärt. Dass es sich um einen langen Schal handelt, den sich indische Frauen über die Schulter legen, oft ihre Sittsamkeit zu demonstrieren, bleibt dem Leser des Glossars verborgen.

Wie ein Kumin-Samen im Maul eines Kamels

Eine der größten Herausforderungen für Übersetzer sind Sprichwörter und Redewendungen, die so landestypisch sind, dass sie in Deutsch einfach nicht funktionieren. In Indien gibt es zum Beispiel den Ausdruck: „Das ist wie ein Kumin-Samen im Kamelmaul“. Klingt auf Deutsch nicht nur seltsam, sondern ist auch schwer zu verstehen, wenn man in einem Land lebt, in dem das Gewürz Kumin und erst recht Kamele nicht zum Alltag gehören. Ein Inder weiß sofort: Ein kleines schwarzes Kumin-Körnchen würde ein Kamel in seinem Maul wohl noch nicht mal spüren, auf keinen Fall reicht es, um es satt zu machen. Da die direkte Übersetzung Verwirrung stiften würde, kann der Übersetzer ein ähnliches Sprichwort suchen. In diesem Fall hat er Glück – der „Tropfen auf den heißen Stein“ entspricht der Bedeutung des indischen Sprichwortes relativ gut.
Schwieriger wird es bei der Redewendung „Vor einem Büffel stehend die Flöte spielen“. Mit einer Flöte kann man eine Klapperschlange betören; dasselbe aber bei einem Büffel zu probieren ist aussichtslos. Der Zusammenhang wird dem Leser auf dem indischen Subkontinent sofort klar. Für den deutschen Leser muss eine andere Formulierung gefunden werden. Die Frage ist nur: Welche?
Bei anderen Beispielen ist der Sinn von sprachlichen Ausdrücken völlig verdreht. Versucht man zum Beispiel das Hindi-Liebeslied „tu hai“ aus dem Film „Jannat“ zu übersetzten, stößt man auf die Zeile „Du gibst mir Schatten im Sonnenlicht“. Im überwiegend heißen Indien ist jeder Schatten eine Erlösung von der brennenden Sonne. In Deutschland ist der Sonnenschein dagegen  ausschließlich positiv besetzt. Wir gieren nach Sonne, weil es oft kalt oder bewölkt ist. Ein Schattenspender ist also oft gar nicht erwünscht und bei weitem nicht so positiv besetzt wie in Indien – bei der wörtlichen Übersetzung dieser Zeilen droht also, ein gutes Stück Romantik verloren zu gehen.
„Es versteht sich, dass Übersetzen außer der sprachlichen auch kulturelle Kompetenz voraussetzt“, bilanziert Indien-Experte Reinhold Schein. Und auch die Autorin und literarische Übersetzerin Ursula Gräfe sagt: „Tatsächlich glaube ich, dass die Schwierigkeiten weniger sprachlicher Art sind, sondern eher auf das komplizierte und vielleicht fremde Weltbild zurückzuführen sind“.