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Rie Yamada im Gespräch
Fotografien sind ein Beweis für unsere Existenz

Die japanische Fotografin Rie Yamada lebt und arbeitet seit 2011 in Berlin. Auf dem Vintage Photo Festival in Bydgoszcz präsentiert sie ihr mehrfach ausgezeichnetes Projekt „Familie werden“, für das sie alte Familienfotos aus Japan und Deutschland sammelte und anschließend nachstellte. „Heutzutage werden Fotografien, außer vielleicht von Hochzeiten oder besonderen Veranstaltungen, kaum noch in Familienalben aufbewahrt. Stattdessen werden sie auf Festplatten gespeichert oder verschwinden in den Tiefen unserer Smartphones. Familiengeschichten werden heutzutage nur noch fragmentarisch erzählt. Ich finde, wir sollten weiterhin Familienfotos machen. Fotos schaffen Kontinuität, sie stärken und festigen die Familienbande, indem sie ihr Ausdruck verleihen. Vielleicht werden Familien auch gerade durch das Fotografieren zur Familie. Fotografien sind ein Beweis für unsere Existenz“, erklärt die Künstlerin im Gespräch mit Anna Tatarska.

Rie Yamada, „Familie werden“ © Rie Yamada / Vintage Photo Festival Anna Tatarska: Wie hat ihr Umzug aus Japan nach Deutschland ihre Wahrnehmung beeinflusst?
 
Rie Yamada: Dieser Umzug hat mir die Chance eröffnet, meine Heimat aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das ist immer der beste Weg, um die eigenen Wurzeln besser zu verstehen.
 
Gibt es irgendwelche Bilder in Ihrem eigenen Familienalbum, die Ihnen besonders am Herzen liegen?
 
Ich besitze Fotoalben aus der Kindheitszeit meiner Mutter und auch neuere. Leider ist jedoch kaum eines der älteren Fotoalben – mit Bildern von Familienmitgliedern, denen ich nie begegnet bin – erhalten geblieben. Unsere Verwandten haben sie einfach weggeworfen. Das war übrigens auch einer der Gründe, warum ich angefangen habe, mich mit dem Thema Familie und Familienfotografien zu befassen. Mein Lieblingsbild ist nicht in dieser Serie enthalten, aber ich habe es ebenfalls nachgestellt: Es entstand vor 37 Jahren und zeigt meine Eltern vor einer gebirgigen Herbstlandschaft. Es ist das Titelbild meines Fotoalbums.
 
Die Art und Weise, wie Menschen für Familienfotos posieren, ist von sehr vielen Faktoren abhängig: dem Ort, der Zeit, der lokalen Tradition… Wie unterscheiden sich das „deutsche“ und das „japanische“ Posieren und was sagt es über die Posierenden selbst aus?
 
Die Fotos, mit denen ich gearbeitet habe, stammen überwiegend aus einer Zeit, in der es noch keine Digitalkameras und Smartphones gab. Ich gehe also davon aus, dass die meisten dieser Bilder von Männern gemacht wurden. Aber seit der Entwicklung des Autofokus in den 1970er-Jahren, gab es viele Fotos, für die die Familienmitglieder sich gegenseitig fotografiert haben. Anstelle von geschlechts- oder nationaltypischen Verhaltensweisen trat nun zunehmend der individuelle Charakter der einzelnen Familien hervor. Die meisten japanischen Familien bringen ihre Gefühle nicht so körperlich zum Ausdruck wie manche Familien in Europa. Deshalb wirken die Beziehungen zwischen ihnen möglicherweise auf den ersten Blick ein wenig distanziert und förmlich. Ich habe mich lange und intensiv mit den von mir gesammelten Fotografien auseinandergesetzt und den Eindruck gewonnen, dass jede Familie, wenn sie vor der Kamera steht, in erster Linie ihre eigene Vorstellung von dem, wie eine Familie sein sollte, zum Ausdruck bringt.
Rie Yamada, „Familie werden“ Rie Yamada, „Familie werden“ | © Rie Yamada / Vintage Photo Festival Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu den Protagonisten ihrer Originalfotografien beschreiben? Sie haben sich fiktive Namen und Biografien für sie ausgedacht?
 
Ich habe nicht versucht, Kontakt zu den Familien aufzunehmen. Ich hatte zu Beginn des Projekts zehn Familienalben auf Flohmärkten und Online-Auktionen erworben. Die einzige Bedingung für mich war, dass sie mehr als 100 Bilder der jeweiligen Familie beinhalteten, damit ich den Familienhintergrund, also die Strukturen innerhalb der Familie, den Zeitpunkt und den Ort nachvollziehen konnte. Ich hatte jedoch nicht das Gefühl, dass diese Familienbilder meine eigenen waren. Dafür machte ich mir zu viele Gedanken darüber, dass ich mich gewissermaßen in diese Familien „eingeschlichen“ hatte und in die Rolle ausgewählter Familienmitglieder geschlüpft war. In der Ausstellung präsentiere ich die Originalfotografien in zehn handgefertigten Alben, die sich direkt unterhalb der von mir nachgestellten Bilder befinden. Diese Alben beinhalten auch fiktive Anekdoten über die jeweiligen Familien, basierend auf der Zeit, in der die Fotografien entstanden. Die Anekdoten, die Requisiten und die Fotografien dieser Familien pendeln zwischen Vergessen und Erinnerung, zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Die Ausstellung enthält auch ein weiteres Album, das meine Arbeit an diesem Projekt dokumentiert. Ich will den Besuchern zeigen, was ich gemacht habe, und was meine Absicht dabei war.
 
Nach welchen Kriterien haben Sie die Bilder ausgewählt, die sie anschließend nachgestellt haben?
 
Unabhängig davon, ob die fotografierten Personen in die Kamera schauten, mitten im Geschehen waren oder eine bestimmte Pose einnahmen, habe ich Bilder ausgewählt, bei denen die Protagonisten sich bewusst waren, dass sie fotografiert wurden. Ihre Intention, ihre Auffassung der Situation sagt mir: „Das ist das Bild, das ich anderen Menschen von unserer Familie vermitteln möchte“ oder „Das ist die Person, als die ich gerne wahrgenommen werden würde“.
 
War Ihnen von Beginn an klar, dass Sie selbst vor die Kamera treten und sämtliche Rollen übernehmen würden?
 
Ich beschloss, selbst vor die Kamera zu treten, weil ich die Lebensumstände dieser Familien am eigenen Leib erfahren und verstehen wollte. Selbstporträts haben eine lange Geschichte: von der Erfindung des Spiegels im 14. Jahrhundert bis hin zum Aufkommen von Smartphones und den durch sie ausgelösten Selfie-Boom. Auch wenn die Zeiten und die Lebensumstände unterschiedlich sind, geben Selbstporträts doch immer einen Einblick in eine bestimmte Kultur und bieten eine Gelegenheit, die auf ihnen abgebildeten Personen besser zu verstehen. Allerdings ging es mir bei meinem Projekt nicht wirklich darum, eine Reihe von Selbstbildnissen zu schaffen, sondern vielmehr darum, in die Rolle der auf den Fotografien abgebildeten Familienmitglieder zu schlüpfen. Ich habe mich gewissermaßen dafür verantwortlich gefühlt, diese Menschen selbst zu verkörpern. Ich dachte mir: Der beste Weg, um diese Familien und ihre Familienfotos zu verstehen, ist, selbst ein Teil der Familie zu werden.
 
In meiner Heimat behauptet die aktuelle konservative Regierung, dass eine Familie aus zwei heterosexuellen Erwachsenen plus Kindern besteht. Manchmal witzeln wir in Polen darüber, dass entgegen dieser Behauptung die meisten polnischen Familien eher aus zwei Frauen, nämlich Mutter und Großmutter, plus Kindern bestehen. Inwieweit ist Ihr Projekt auch eine Auseinandersetzung mit dem Wandel des Familienbegriffs?
 
In „Familie werden“ habe ich mich ausschließlich mit Familien aus der Vergangenheit beschäftigt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich der Familienbegriff in dem von mir untersuchten Zeitraum wesentlich verändert hat. Das japanische Wirtschaftswunder zog viele ehemalige Bauern oder Handwerker in die großen Städte und in die großen Firmen. Dies verstärkte die Trennung zwischen Arbeitsplatz und Zuhause. In den japanischen Haushalten entwickelte sich eine starre Rollenverteilung: Der Mann ging zur Arbeit und ernährte die Familie, während die Frau zu Hause blieb und sich um den Haushalt und die Kinder kümmerte. Die Männer verloren zunehmend den Kontakt zu ihren Nachbarn und zu ihren Kindern, während die Beziehungen zwischen den Müttern und ihren Kindern immer stärker wurden. Unser Begriff von Familie spiegelt immer auch die zeitlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten wider. Ich denke, dass heutzutage jeder die Familienform aussuchen kann, die zu ihm passt. Indem ich sämtliche Rollen – sowohl die weiblichen als auch die männlichen – selbst verkörperte, wollte ich zeigen, dass es keine „korrekte“ Form von Familie mehr gibt. Heutzutage haben wir das Recht, unsere eigene Familie zu wählen.
Rie Yamada, „Familie werden“ Rie Yamada, „Familie werden“ | © Rie Yamada / Vintage Photo Festival Die digitale Revolution hat dazu geführt, dass Familienfotografien heute nicht mehr so eine große Rolle spielen wie früher. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die Art und Weise, wie wir unser Leben und unsere Umgebung wahrnehmen und wie wir uns später daran erinnern?
 
Parallel zu meinem Projekt habe ich meine Diplomarbeit zum Thema Veränderungen in der Familienfotografie und der visuellen Kultur geschrieben. Dabei habe ich sehr viel über die Geschichte von Familienporträts gelernt, von Gemälden bis hin zu Fotos, und auch über ihre gesellschaftliche Bedeutung. Familienfotografien haben unsere Vorstellung von Familie wesentlich geprägt. Doch in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft und damit auch unser Begriff von Familie verändert und in der das Individuum zur sozialen Grundeinheit geworden ist, wird auch das Fotografieren zu einer individuellen Handlung. Heutzutage werden Fotografien, außer vielleicht von Hochzeiten oder besonderen Veranstaltungen, kaum noch in Familienalben aufbewahrt. Stattdessen werden sie auf Festplatten gespeichert oder verschwinden in den Tiefen unserer Smartphones. Familiengeschichten werden heutzutage nur noch fragmentarisch erzählt. Ich finde, wir sollten weiterhin Familienfotos machen. Fotos schaffen Kontinuität, sie stärken und festigen die Familienbande, indem sie ihr Ausdruck verleihen. Das gemeinsame Fotografieren ist eine Möglichkeit, familiäre Beziehungen immer wieder neu zu konstituieren. Natürlich kann es sein, dass das Foto nur die Form einer Familie annimmt. Aber vielleicht werden Familien auch gerade durch das Fotografieren zur Familie. Fotografien sind ein Beweis für unsere Existenz.
 
„Familie werden“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie. Wie sehen die anderen beiden Teile aus?
 
Die Trilogie spannt einen Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft. Im zweiten Teil, an dem ich gerade arbeite, beschäftige ich mich mit gegenwärtigen Familienformen. Dafür nehme ich an Veranstaltungen zur Partnersuche teil (dem sogenannten „konkatsu“) und teste Dienstleistungen in Japan, bei denen man sich eine Familie ausleihen kann. Im dritten Teil wird es dann um mich und meine zukünftige Familie gehen. Ich hoffe, dass ich in dieser Phase auch all die Zeit wiedergutmachen kann, in der ich meine eigene Familie vernachlässigt habe.
 

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