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Risse in der Zeit, eine Stunde Schlaf

Mara Still
© Her Docs Forum

Klara Cykorz über Filme ukrainischer und belarussischer Regisseurinnen im Programm des Her Docs Forum
 

Von Klara Cykorz

I

Wir brechen morgens auf.
1976 drehte Claude Lelouch einen achtminütigen Film mit dem Titel „C'était un rendez-vous”: ein kleines Experiment, ein buchstäblicher Piratenwitz, eine Aufnahme aus der Motorhaube eines Mercedes, der mit heulendem Motor durch das noch leere Zentrum von Paris rast. Nadia Parfan nimmt dieses kraftvolle – und vor allem sehr männliche – Konzept und stellt es in „It's a Date“ auf den Kopf. Auch ihr Motor schnurrt gewaltig und ihr gefährlicher, ungeschnittener Schwung erhöht den Druck in den Kurven der Kiewer Hügel. Doch diese Schamlosigkeit der risikofreudigen Kameraarbeit hat an einem Frühlings- oder Sommermorgen in Kiew im Jahr 2022 offensichtlich eine andere Bedeutung. Abgesehen von den landschaftlichen Qualitäten – die Strecke führt von einem flach bebauten Vorort ins Zentrum und durchquert dabei die unterschiedlichsten Räume – ist eine solche Frivolität unter Kriegsbedingungen, die hier vor allem durch Panzerabwehrgeschütze signalisiert wird, keine Kaprize, sondern eine Manifestation der Vitalität.

Die neuen ukrainischen Spielfilme, die in Polen gezeigt werden, haben uns an modernistische, starke kinematografische Entscheidungen gewöhnt; sei es auf der Suche nach einer filmischen Sprache zur Beschreibung des Krieges (Filme von Valentin Vasyanovich[KG1] , oder „Klondike“ von Maryna Er Gorbach) oder bei der Aufarbeitung des ersten Jahrzehnts der Unabhängigkeit (Oleg Sentsovs „Rhinoceros“, Philip Sotnychenkos „La Palisiada“). Nadia Parfans Experiment wirft also – ganz dezent, eigentlich beiläufig – die Frage nach der Verortung des Kurzfilms als Form in diesem Puzzle auf. Schließlich lässt sich das Interesse am Kino ukrainischer Filmemacher und Filmemacherinnen mit einer Diskussion über die Emanzipation des Kurzfilms, seinen Platz in der Kinematographie, seine Zugänglichkeit und vor allem seine Besonderheiten und Möglichkeiten verknüpfen. Die Zeit fließt anders in Kurzfilmen – sie ist auch viel weniger formatiert und experimentierfreudiger.
Städte in der Morgendämmerung haben natürlich ihre eigene Besonderheit – aber die Morgendämmerung bedeutet auch etwas anderes in Städten, die von Beschuss bedroht sind. Die zeitliche Sensibilität, die in Parfans Projekt vorhanden ist, ist etwas, das praktisch alle Kurzfilme der aktuellen Doku-Reihe ukrainischer Regisseurinnen auf dem Her Docs Forum vereint: Diese Filme suchen nach Momentaufnahmen, die nicht einmal grenzwertig sind, sondern eher nicht selbstverständlich, geprägt von einer anderen Erfahrung der vergehenden Sekunden, Minuten, zerrissenen Tage und Nächte. Sie suchen nach Rissen in der Zeit, nach Brüchen, nach Momenten zwischen dem „Kriegsgeschehen“, nach dem, was nicht ins mediale Narrativ passt.

Daryna Mamaisurs „I Stumble Everytime I Hear From Kyiv“ beginnt zwar mit einem Bild von Rauchwolken, nach einer Weile wird aber klar, dass es eher die Mai-Gewitter sind, die zum Leitmotiv des Films werden – die in Kiew und die in Brüssel, wo die Regisseurin lebt. Die Dachrinnen spucken Wasser, die Bäume biegen sich; nach dem Regen glitzern die Knospen an den Bäumen, getränkt in großen, schweren Wassertropfen. In einer Collage aus Bildern, mit dem Handy aufgenommenen Fragmenten, Gesprächen mit Freunden – wird das Licht, die Feuchtigkeit, das städtische Wetter gefangen, und als entscheidend für die Identität eines Ortes gezeigt, der in ständiger Gefahr lebt. Der Vergleich zwischen dem Mai in Kiew und dem in Brüssel ist paradox, seine Seltsamkeit hebt den Unterschied hervor, mach aber auch die „Maihaftigkeit“, die Besonderheit des Monats deutlich, der (in Europa) ein wuchernder, gefräßiger, feuchter Monat ist, eine Explosion neuen Lebens. Die Regisseurin empfängt Signale aus Kiew im Mai – der Krieg wird fortgesetzt, aber der erste Schock ist bereits vorbei, die russische Armee ist von Kiew abgezogen. Die Bilder des Gewitters duften nach Leben, sie sind intim und fern zugleich. Auch hier wird die Zeiterfahrung eigenartig, verdoppelt, denn mit den Freunden in der Ukraine ist man zwar ständig auf Messenger und in Clips, gefangen aber in einer unüberbrückbaren Vermittlung.

Zoya Laktionova fängt die Erfahrung ein, weit weg zu sein, indem sie die Zeit mal verlangsamt und mal anhält. In „Remember the Smell of Mariupol“ verwendet sie Fotografien der Küste und Standbilder; sie verwebt statische Bilder mit fragmentarischen Ausschnitten des Meers. In dieser Collage finden sich auch vergilbte Kindheitsfotos und Worte aus einem Flüchtlingstagebuch, ohne eine Stimme aus dem Off, sondern nur in Untertiteln, die langsam auf dem Bildschirm erscheinen, in halben Sätzen, als wäre das Erzählen mühsam. „Ich bereue es, nie in Mariupol gewesen zu sein“, sagt eine der Kiewer Figuren in Olha Tsybulskas „You Know it's Going to Be About War“ an einer Stelle. Laktionova greift Erinnerungssplitter auf, zeichnet Assoziationen von Kindheitsstädten und Gerüchen auf, findet am anderen Ende Europas – irgendwo in einem Zug, der von Barcelona losfährt – ein Fragment der eigenen Identität, an das sie sich klammern kann. Eine südliche Küstenidentität ist das, der Geruch des erhitzten Asphalts am Wasser. Ihre Bilder sind in verschiedene Zeitebenen unterteilt. Mal wird ein Teil des Bildes angehalten, wie eine durch eine Kriegskatastrophe zerbrochene Uhr; auf der anderen Seite schlagen Wellen träge an ein Ufer. Mit einem, von dem ukrainischen Fotojournalisten Gleb Garanich, der für Reuters arbeitet, aufgenommenen Foto, arbeitet wiederum Maria Ponomarowa in „Three Windows on South West“. (Der Film beginnt mit einem Telefongespräch mit der Mutter, und das ist nur einer der Gründe, warum es schwierig ist, die Assoziation mit Chantal Akerman zu vermeiden, einer Regisseurin, die so fundamental für das Verständnis von Zeit im Kino ist). Die einzige Bewegung im Bild besteht im Enthüllen einzelner Teile des Fotos, das während des Raketenangriffs am 26. Juni 2022 in Kiew entstanden ist. In der Erzählung aus dem Off, die aus vier Gesprächen zusammengeschnitten wurde, wandert die Regisseurin jedoch weiter zurück in die Vergangenheit – sie enthüllt die Zeit kurz nach dem „Zerbrechen der Uhr“, dem Moment kurz nach der Explosion, den der Reporter festgehalten hat.

In „Waking Up in Silence“ schlendert die Zeit, zumindest oberflächlich betrachtet, ruhig und langsam vor sich hin. Es ist ein Film über die Langeweile, beziehungsweise über die Abenteuer eines Kindes, das in einer zum Flüchtlingsheim umfunktionierten Militärbasis in Schweinfurt im Norden Bayerns spielt. (Schweinfurt ist auch die Heimatstadt von Daniel Asadi Faezi, einem Teil des Regie-Duos. Faezi hat aserbaidschanisch-iranische Wurzeln, während Mila Zhluktenko als Teenagerin aus der Ukraine ausgewandert ist. Seit 2016 arbeiten die beiden mit dem Kiewer Kollektiv Babylon ´13 zusammen). Die Rauheit der Filmrolle und die Intensität der Farben bringen uns die Mikroperspektive des Kindes näher – alles ist hier nah, greifbar, interessant. Kinder klettern über einen Zaun, erkunden die Nachbarschaft, flechten Kränze auf der Wiese, toben auf dem Spielplatz (ein besonders eindrucksvoller Ausschnitt zeigt ein Mädchen mit langen Zöpfen, das sich mit vollem Schwung auf einer runden Ein-Personen-Karussell dreht bis sie dann zu einem verschwommenen Fleck wird). Sie lernen zusammen die Grundlagen des Deutschen, aber es ist ihre Freizeit, ein unstrukturiertes Stück kindlichen Daseins, ohne Schule und jeglicher Erwachsenenautorität, was nicht heißt, dass es den Krieg nicht gibt (auch das Kritzeln von Parolen gegen Putin mit Kreide fällt in den Bereich der kindlichen Aktivitäten). Diese Kindeslogik spiegelt sich in der Struktur des Ganzen wider, die losgelöst ist vom Regime der Einführung, Entwicklung und des Höhepunkts. Ein Gespräch zwischen einem Mädchen im Teenageralter und einem Jungen mit ihrem Vater in der Ukraine, das in einer traditionellen Erzählung eher am Ende angesiedelt wäre, findet hier in einem Drittel des Films statt. In dem Gespräch geht es übrigens auch um Zeit: der sehnsüchtige kleine Junge möchte, dass sein Vater vor seinem Kindergarten vorfährt und der Vater erklärt ihm, warum das nicht geht. Es geht nicht, weil gleich die Sperrstunde beginnt.

Aber auch an die Sperrstunde kann man sich gewöhnen und die Routine geht in die Praxis des Selbstschutzes über; es sind die Reflexe, die sich im Körper festsetzen. Olha Tsybulskas „You Know it's Going to Be About War“ erzählt ebenfalls von Freizeit, diesmal von jungen Erwachsenen, im späten Frühling, vielleicht im Sommer 2022, im sonnendurchfluteten Kiew. Clubs, Konzerte, Menschenmassen am Dnjepr, Schwimmen im Fluss, Musikanten auf Brücken, die nicht aufhören zu spielen, auch wenn die Sirenen ertönen, als wollten sie der russischen Gewalt trotzen. Tage, die durch den Gang in Schutzräume zerrissen werden – manchmal wird die Arbeit für eine halbe Minute unterbrochen, um aufzustehen und in den Flur zu gehen um dort weiterzumachen. Aber auch, um sich an einen Tisch zu setzen und ein Glas Wein zu trinken. Man muss wieder lernen, mit eigener Zeit umzugehen, damit man, wenn sich ein freier Moment, eine zusätzliche Viertelstunde aus dem Tag rausreißen lässt, durchatmen – so gut es geht – und etwas machen kann, was nicht direkt mit dem Kriegsgeschehen zu tun hat. Im Augenblick zu verharren, jenseits dieser Kriegslogik, jenseits der Zeitorganisation des Krieges.

In  „The Bee” von Oleksandra Tsapko ist die Zeit bereites aus dem Rahmen gefallen. Es ist der Alptraum eines Emigranten – der verkrümmte Körper bewegt sich auf allen Vieren rückwärts, die Räume der winzigen Wohnung wurden in ihren Funktionen durcheinander gebracht, das Leben läuft rückwärts, auf den Kopf gestellt, ohne Farbe. Selbst die schwarz-weißen Bilder sind hier befremdlich, poliert und leuchtend, künstlich wie der Nagellack, mit dem die Protagonistin ihre ganzen Finger lackiert; wie die Müllsäcke, die sie durch eine leere Wohnblocksiedlung schleppt, die aussieht, als sei sie auf dem Mond entstanden.

II

Und hier dreht sich die Kamera einfach mal um hundertachtzig Grad und sie schaut auf die Welt wie ein Kind, das mit dem Kopf nach unten auf dem Spielplatz wippt. Die Titelfigur Mara, eine schlanke Frauengestalt mit Maske, taucht aus einem Kindermalbild auf, aus roten Farbflecken. Die Kinder auf dem Spielplatz helfen ihr mit einem langen – sehr langen – Schleier. Schließlich sind Sirenen zu hören, der Übergang vom Spielplatz unter dem Wohnblock zur Straße erfolgt fließend, Jugendliche binden eine weiß-rot-weiße Fahne an einen Baum. Dann wird gesagt, Proteste seien ein „Versteckspiel mit dem Bösen“. Die Erfahrung massenhafter staatlicher Gewalt hat offensichtlich nichts Märchenhaftes an sich. Oder doch? Die Regisseurin Sasha Kulak bedient sich der Poetik von Märchen und Legenden, um die Erfahrung der belarussischen Proteste 2020 auf einer sinnlichen und körperlichen Ebene wiederzugeben. Sie bringt die Dokumentation aus dem Feld an einen Punkt, an dem die Konvention des „Realismus“ zu zerbrechen beginnt. Weibliche Figuren in Masken – es gibt hier eine rote und eine weiße Maske – tauchen aus den Bildern der Protestierenden auf den Straßen auf, als ob sie schon immer dorthin gehörten.
Kulak sagt in Interviews, dass sie das Gefühl der Zerrissenheit vermitteln wollte, das charakteristisch für die Erfahrung von Gewalt ist; das Gefühl, gleichzeitig mittendrin und direkt daneben zu sein und die Realität aus der Ferne zu beobachten. „Man konnte typische Interviews mit Aktivisten und Protestanführern finden, aber es gab nichts über diese Erfahrung der Dissoziation, die wir alle teilten [...]. Man hörte von allen, dass die Leute nicht schlafen konnten oder Alpträume hatten, so erschütternd und surreal waren diese Tage.“ Ihr Film bringt so die Verträumtheit der Proteste zum Ausdruck, die aus dem Schlafentzug resultiert und die mit dem Zerreißen der Zeit, der plötzlichen Unterbrechung des Alltagsrhythmus und der gewaltsamen Metamorphose von (in diesem Fall städtischen) Räumen einhergeht. Der Film verbindet verschiedene Techniken und Formen – Fragmente einer Performance im Theaterraum und am Ufer eines Sees werden zwischen Straßen-Dokumentationen eingebettet. Während des Protests verlangsamt und beschleunigt die Zeit gleichzeitig, dehnt sich und zieht Schleifen. Das überreizte Gehirn flüchtet in die Ferne, versucht aber auch, alles zu einer größeren Erzählung zusammenzufügen – daher das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein und sich gleichzeitig davon zu distanzieren.

Auch hier gibt es Fragmente bloßer Aufnahmen: Menschen werden von Bürgersteigen entführt, Bedienstete zerren einzelne Personen, herausgerissen aus der Menge, in Lieferwagen. Dann wird die Kamera der Regisseurin zu einer von vielen – weitere Menschen holen ihre Handys raus und nehmen das Geschehen auf. Aber Kulak bezieht in ihre Chronik auch eine weibliche Lachkultur gegenüber Männern ein, eine weibliche Bravour. Vor allem ältere Frauen sprechen und lachen hier über junge Männer in Uniformen, die im Kreis oder an einem Gewirr von Stacheldraht stehen und auf Befehle von oben warten. Zu den Protesten gehört eben auch dieses Warten, die zahlreichen Momente des Stillstands, eine leere Zeit, in der „nichts“ passiert; das frustrierende Aufschieben von Gewalt, die schließlich doch wiederkehren wird. Die Langeweile ist ein integraler Bestandteil der Gewaltmaschinerie. Die Zeit verlangsamt wieder, verdünnt sich. Das Paradoxe an diesem Stillstand: auf der einen Seite sieht man Gruppen von Demonstrierenden und dicht gedrängte Uniformen mit Schilden, Panzern, Transportern und der ganzen Brutalitätsmaschinerie. Auf der anderen Seite entsteht ein Gefühl der Leere, denn die Stadt, herausgerissen aus ihrer normalen Funktionsweise und ihrem Rhythmus, ohne der alltäglichen Urbanität und des Verkehrs, vermittelt den Eindruck der Verlassenheit, auch wenn es an Menschen auf den Straßen nicht mangelt. Auf den breiten Straßen von Minsk lichten sich die Menschenmassen. Der Film beginnt an fast ballardischen Orten: eine Überführung hier, Hochhäuser dort, irgendein Neubaugebiet, irgendwelche Hügel entlang einer breiten Straße.

An dieser Stelle setzt Unheimlichkeit ein. Mara schleicht sich unter die Demonstrierenden. Mara spricht von der Bühne. Mal mit Schleier, mal ohne, die Masken sind auch zwei, eine weiße und eine rote, ihre Figur stabilisiert sich nie, friert nie in einem Bild, einem Kostüm, einer Stimme, einer Person ein. Das Objektiv dreht sich auf den Kopf, oder kippt, oder blickt in den Himmel und in die Baumkronen, segelt durch die Luft. Über dem See dreht es sich langsam zur Seite und stellt die Horizontlinie aufrecht. Manchmal passiert im Bild etwas Abruptes – aber die Kamera selbst beschleunigt nie. Die Aufnahmen bleiben fließend, an der Grenze zum Irrealen. Wenn überhaupt, vermitteln sie das Gefühl der Entschleunigung, einer Dehnung des Augenblicks. In dieser formalen Dissoziation gelingt es der Regisseurin, die karnevaleske Natur des Protests und die Einmaligkeit der aus dem Rahmen gerissener Zeit leibhaftig einzufangen.

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