Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

IN DER NACHBARSCHAFT VON RAKETEN

Frau auf Trümmerhaufen
© Pexels

Die Ukraine ist von einem unbekannten Land zu einem Staat geworden, dessen Existenzrecht einleuchtend scheinen müsste. Deshalb muss sie nicht nur kämpfen, sondern ihren Kampf auch an die Welt weiterverkaufen.

Von Lisa Korneichuk

Trotz ihrer geografischen Nähe zu den Grenzen der Europäischen Union und ihrer räumlichen Zugehörigkeit zu Europa war die Ukraine sehr lange ein entferntes Gebiet, ein "unbekanntes Territorium", das ab und zu in den Weltnachrichten erwähnt wurde (meistens nach Katastrophen oder sportlichen Erfolgen). Vor dem großen Krieg befand sich die Ukraine in der Vorstellung eines durchschnittlichen Ausländers irgendwo am äußersten Randgebiet Europas und wurde selbst in spezialisierten Fachbereichen der Slawistik- und Osteuropastudien oft übergangen.

Diese bedauerliche Ungerechtigkeit wurde durch den Krieg behoben. Aber wie bei anderen Dingen auch, kann ein Krieg nichts wirklich beheben oder verbessern, er kann nur die aufrichtigsten Wünsche in erfüllte Albträume verwandeln. Die geografische Lage der Ukraine wurde nun allen bekannt und unsere Grenzen, mit all der Gewalt dazwischen, wurden von der Welt genau beobachtet, wie ein Container mit Giftmüll, den es zu überwachen gilt, damit er nicht ausläuft. Die Nähe der Ukraine wurde plötzlich nahezu greifbar.
In physischer Hinsicht bleibt der Krieg eine ausschließlich ukrainische Erfahrung, die sich auf die Grenzen dieses Landes beschränkt. Die Flugverbotszone, das Kriegsrecht, die Ausgangssperre, die Sirenen und die auf den ukrainischen Boden niederprasselnden Raketen markieren eine unsichtbare, aber eindeutige Grenze zwischen der Ukraine und Europa. Wenn eine russische Rakete die Grenze der Europäischen Union überschreitet und über das Gebiet Rumäniens oder Polens fliegt, ist es die Aufgabe aller Verantwortlichen, dieses Ereignis zu leugnen, denn zumindest auf symbolischer Ebene sollte diese Rakete ein alleiniges ukrainisches Problem bleiben und ihr Ziel kann nur ein ukrainischer Körper sein.

Die Grenzen der Ukraine werden von der Weltöffentlichkeit wie ein Container mit Giftmüll beobachtet, den es zu überwachen gilt

Es ist dabei bedeutungslos, dass das tatsächliche Opfer des Angriffs eine beliebige Person sein kann, wie das am 16. November 2022 im (polnischen) Dorf Przewodów geschehen ist, als eine ukrainische Flugabwehrrakete auf ein Ackerfeld fiel und zwei Menschen getötet hat. Die Bestätigung, dass die Bedrohung durch russische Raketenangriffe über die Ukraine hinausreicht, würde jedoch auch bedeuten, dass man bestätigt, dass die Invasion ein Problem anderer Art ist, dass also einige Maßnahmen früher und andere jetzt ergriffen werden sollten.
"Die Regierung Bidens hat Kiew eindeutig zu verstehen gegeben, dass bestimmte Gewalttaten außerhalb der Ukraine nicht toleriert werden", lesen wir in einem Artikel. Alle Gewalttaten, die in diesem Krieg begangen werden, sollten, wenn nicht physisch, so doch zumindest symbolisch, außerhalb Europas bleiben. Der in diesem Krieg geführte Diskurs macht die sich verteidigende Seite zu einem akzeptierbaren Opfer: Die Ukraine wird zu einer Zone, in der Gewalttaten von der Welt toleriert werden, solange sie sich gegen ukrainische Körper richten. Der Container muss hermetisch verschlossen bleiben.

In einem Artikel darüber, wie hochrangige US-Beamte auf die ersten Kriegstage reagierten, zitiert "Politico" den Senator Lindsey Graham, der auf die Bitte des Kiewer Bürgermeisters um Waffen zur Verhinderung der Invasion antwortete: "Es war eine sehr, sehr leidenschaftliche Bitte. Ich sagte: "Hör' mal, ich weiß nicht, ob wir es schaffen werden, das, worum du uns bittest, rechtzeitig zu tun, um etwas zu bewirken. ' [...] Wenn du durchhältst und zwei Wochen nach der Invasion immer noch stehst, immer noch kämpfst – dann bist du, wie Rocky, ein Kämpfer, oder? Zeig' uns einfach, dass du Rocky bist." Ein anderer Gesprächspartner, der Berater für die internationale Wirtschaft im Weißen Haus, Daleep Singh, meinte: "Die Europäer haben wiederholt betont, dass Visualisierungen von Bedeutung sind.  Mit anderen Worten, diese Invasion musste etwas sein, was die politischen Führer auf dem Bildschirm sehen konnten – etwas, das die nötige emotionale Spannung erzeugen würde, um ambitionierte [Sanktions-]Pakete einzuleiten, wie dieses, das wir vorbereitet haben." Die Ukraine musste also von einem unbekannten Land in einen Staat verwandelt werden, dessen Existenzberechtigung einleuchtend scheinen musste. Die Ukraine muss nicht nur kämpfen, sondern ihren Kampf auch an die Welt "verkaufen".

Die Ukraine wird zu einer Zone, in der Gewalttaten von der Welt toleriert werden, solange sie sich gegen ukrainische Körper richten  

"Schmerz zu empfinden bedeutet, Gewissheit zu haben; zu hören, dass ein anderer Mensch leidet, bedeutet, Zweifel zu haben", bemerkt die Essayistin Elaine Scarry in ihrem Buch "Schmerz. Konstruktion und Dekonstruktion der Welt angesichts des Leidens" (übersetzt von Joanna Bednarek). Gleich, ob sie artikuliert wird oder nicht, wird diese Beobachtung von jedem Opfer und jedem Zeugen am eigenen Leib gespürt. Die ukrainische Bevölkerung, die gleichzeitig Opfer und Zeuge ist, sucht nach Sicherheit, nach Wegen, die Zweifel der Ausländer, die den Krieg auf den Bildschirmen verfolgen, zu überwinden – durch Dokumentation, durch die Schaffung von Verbündeten-Netzwerken, durch die Suche nach einer neuen Sprache des Schmerzes, durch Kunst.

Im Februar 2023, ein Jahr nach Beginn der groß angelegten Invasion, hat die Künstlerin Zhanna Kadyrova das Projekt "Russische Raketen 2022" gestartet. Es handelt sich dabei um einen Satz kleiner Aufkleber in Form einer russischen Kinschal-Rakete, die die Künstlerin zum Kauf anbietet, damit sie auf die Fenster von Bussen, Zügen und Flugzeugen im Ausland geklebt werden können. Die Aufkleber sind so gedruckt, dass die Raketen realistisch aussehen, und auf den Fenstern der Fahrzeuge imitieren sie auch ihre Bewegung am Himmel. Selbstverständlich sollen die Aufkleber optisch echten Raketen ähneln und so die Fahrgäste zumindest für einige Sekunden aus ihrem passiven Zustand aufrütteln und sie dazu bringen, aus dem Fenster zu schauen und den Himmel aufmerksam zu betrachten. Kadyrova gibt zu, dass das Projekt eigens für das ausländische Publikum konzipiert wurde: "Meine Aufgabe war es, die Europäer zu beeindrucken, sie zu erinnern, wie wir leben. [...] Das Projekt hat seine Funktion dann erfüllt, wenn sie sich eine Rakete vorstellen können, die über ihren Himmel fliegt".
 
Die Kinschal ist eine ballistische Hyperschallrakete, die die ukrainische Luftabwehr bis vor kurzem noch nicht abzufangen fähig war (nachdem die Ukraine von ihren Verbündeten Patriot PAK 3-Luftabwehrsysteme erhalten hatte, behaupteten viele offizielle Quellen, die Kinschal über der Ukraine seien erfolgreich abgefangen worden). "Es ist nicht wichtig, um was für eine Rakete es sich handelt. Ich könnte sie freihändig zeichnen und mit 'Russische Rakete' unterschreiben. Ich könnte sogar ein paar fiktive Raketen aufkleben", sagt die Künstlerin. Vermutlich hat sie Recht: Die Art der Rakete ist nicht wichtig. Das Projekt wird jedoch durch die Glaubwürdigkeit des Aufklebers wirksam. Eine echte Rakete am Himmel zu sehen, ist eine harte Erfahrung. Schon zwei Sekunden des Schocks und der Fassungslosigkeit, nachdem man irgendwo aus einem Zugfenster die Illusion einer Rakete gesehen hat, können einen starken Eindruck hinterlassen. Mit ihrem Projekt versucht Kadyrova, die symbolischen Grenzen zwischen der Ukraine und der Welt zu unterwandern und die russische Rakete zu einem Teil der europäischen Erfahrung zu machen.

Aber was teilt Kadyrova eigentlich mit, indem sie Bilder von Raketen in den ungestörten Raum europäischer Städte bringt? Offenkundig ging es der Künstlerin darum, das Sicherheitsgefühl vorübergehend zu stören und damit ein – wenn auch nur kurzfristiges – Malheur zu verursachen. Wenn ich an diese Aufkleber denke, stellt sich mir sofort die Frage nach der Ethik des "Erschreckens" der Menschen in Ländern, die massenhaft ukrainische Flüchtlinge aufnehmen. Ich denke an das Risiko, dass meine Mitbürger im Ausland erneut traumatisiert werden könnten. Wie fühlt sich ein ukrainischer Flüchtling, wenn er irgendwo in Krakau an einem Zugfenster einen Aufkleber mit einer Rakete sieht? Wird es für ihn ein traumatisches Erlebnis sein? Ich kann mir jedoch vorstellen, dass es vermutlich ein ukrainischer Flüchtling ist, der einen Aufkleber mit einer Rakete an ein Zug- oder Flugzeugfenster kleben wird. Der Wunsch, die Grenzen des Krieges auszulöschen, den unschuldigen Passanten den Schmerz entgegenzuschreien, sie dazu zu bringen, dass sie sich in unsere Lage versetzen, ist etwas, von dem ich in Verzweiflungsmomenten während meiner Zeit im Ausland oft fantasierte. Ich bin sicher, dass viele von uns diese Einsamkeit und emotionale Entfremdung spüren, wenn sie weit weg von zu Hause sind.
 

Was teilt Kadyrova eigentlich mit, indem sie Bilder von Raketen in den ungestörten Raum europäischer Städte bringt?

Die Frage "Wie können wir die Erfahrungen des Krieges mit anderen teilen?" tauchte einige Monate nach der großen Invasion auf und blieb auf begrenzte Diskussionen beschränkt. In den ersten Wochen des Großen Krieges bestand die Aufgabe aller – Staatsbeamter, Meinungsbildner, Blogger, Prominenter, normaler Nutzer sozialer Medien und des Militärs selbst – darin, eigene und fremde Erfahrungen schnell in den Netzwerken der Verbündeten mitzuteilen und um Unterstützung zu ersuchen. Jeder handelte nach seinen eigenen Methoden und Taktiken.

Der Krieg wurde zu einer Flut von Inhalten, die aus allen Plattformen gleichzeitig strömten", schreibt der Journalist Kyle Chaika in "Watching the World's First TikTok War" in "The New Yorker". Der Begriff "TikTok-Krieg" ist inzwischen fest im Medienvokabular fest verankert. Und Chaika selbst behauptet, dass die von den Nutzern generierten Inhalte "den ersten und geradlinigsten Beweis für die russische Invasion" lieferten.

In ihrem Buch "The Civil Contract of Photography" argumentiert die Medientheoretikerin und Philosophin Ariella Aisha Azoulay, dass die Verbreitung der Fotografie einen deregulierten und dezentralisierten politischen Raum geschaffen hat, der letztlich nicht allein von der Regierung kontrolliert wird. "Es handelt sich um einen bürgerlichen politischen Raum, den sich die Menschen, die die Fotografie einsetzen – die Fotografen, die Betrachter und diejenigen Menschen, die fotografiert werden – jeden Tag vorstellen." Die Verbreitung von Filmmaterial trägt dazu bei, entfernte Akteure und Beobachter zu Gemeinschaften zu mobilisieren, die sich um die politische Idee einer schwachen, marginalisierten Demokratie scharen, die einer großen und mächtigen Autokratie Widerstand leistet. Oder umgekehrt. Auf diese Weise weitet sich der Raum der Ukraine auf geografisch weit entfernte und über den ganzen Erdball verstreute Gemeinschaften aus, die sich mit Informationen beschäftigen.

Die Verbreitung dokumentarischer Inhalte mittels sozialer Medien ist zu einem Instrument geworden, das die Realität formen und zu politischem Handeln motivieren kann. Die Position des passiven, distanzierten Beobachters, aus der postmoderne Theoretiker jegliche Kriegsfotografie als steril und zensiert ablehnen, wird für die unabhängige, bürgernahe Online-Produktion von Dokumentarbildern immer bedeutungsloser. Azoulay stellt die Haltung in Frage, nach der der Forscher oder Betrachter in jeder Fotografie das Ende des Bildes sieht, anstatt das Bild zu betrachten. Stattdessen stellt Azoulay fest, dass auch nach der Verkündung der Ära des sterilen "Techno-Kriegs" die Produktion von Bildern sowohl bei professionellen Fotografen als auch bei Amateuren nicht zu zirkulieren aufgehört hat, sowohl in den Mainstream-Medien als auch am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit, deponiert in Archiven oder im Internet. "Diese Fotos entkräften die allgemeine Annahme, die postmoderne Kampfführung mache es unmöglich, den Krieg und seine Schrecken zu sehen."

Der Raum der Ukraine weitet sich auf geografisch weit entfernte und über den ganzen Erdball verstreute Gemeinschaften aus

Der russische Krieg in der Ukraine bestätigt die These von Azoulay: Die digitale Betrachtung aus der Ferne kann die Situation beeinflussen und die Beobachter zu Kampfteilnehmern machen. OSINT-Bewegungen (Open-Source-Intelligence), Fundraising-Communities, Initiativen gegen Fake News und massive koordinierte Aktionen in den sozialen Medien (z. B. NAFO) sind das Ergebnis einer aktiven Betrachtung von Bildern, die es ermöglichte, sich in die Lage der Ukrainer hineinzuversetzen und letztlich den Verlauf des russischen Krieges in der Ukraine zu beeinflussen. Es war der von den Bürgern der westlichen Staaten, die den Krieg beobachteten, ausgeübte Einfluss auf ihre Regierungen, der zu einer politischen Unterstützung der Ukraine führte.  
So betrachtet ist Kadyrovas Eingriff in den öffentlichen Raum auch ein Beispiel für ein dezentrales Engagement im Bereich der aktiven Betrachtung. Mit dem Verkauf ihrer Aufkleber-Sets sammelt Kadyrova Geld für den Wohltätigkeitsfonds Kyiv Angels, der Ausrüstung für die Armee kauft. Das Hauptziel der Künstlerin sehe ich jedoch in der subversiven Umdefinierung. Wenn die Europäer selbst anfangen, Aufkleber zu kleben, wird dies zu einem aussagekräftigen Zeichen der Solidarität und zu einer Geste, die bedeutet: "Dies ist nicht nur ein ukrainischer Krieg, und die russischen Raketen sind nicht nur auf ukrainische Menschen gerichtet".*

Im Mai 2022 schlug der Philosoph Paul B. Preciado eine bizarre Lösung des Krieges in der Ukraine vor. Er schrieb: "Der einzige Weg, diesen Krieg zu gewinnen, ist, ihn zu stoppen. Die einzige Möglichkeit, Faschismus, Nationalismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit zu bekämpfen, besteht darin, die Waffenproduktion zu unterbinden und Russland zu zwingen, die Invasion zu beenden. Wir sollten keine Waffen dorthin schicken. Wir müssen friedliche Delegationen nach Russland und in die Ukraine entsenden. Wir müssen Kiew, Lwiw, Mariupol, Charkiw und Odessa friedlich besetzen. Wir müssen alle dorthin gehen. Nur Millionen von nicht-ukrainischen, unbewaffneten Menschen können diesen Krieg gewinnen. Ich höre dich schon sagen, dass meine Meinung utopisch ist. Aber in Wirklichkeit ist diese oder eine beliebige andere Lösung dystopisch."

Ich bin Preciado dankbar, dass er nach einer Lösung sucht, aber um es salopp auszudrücken: Sein Vorschlag macht mich rasend. Und das nicht nur, weil er selbstverständlich ist: Preciado versteht, dass das Leben eines Ukrainers für die russische Armee im Vergleich zu den Leben anderer wertlos ist, und er schließt sich selbst dieser Hierarchie der menschlichen Existenzen an. Und auch deswegen, weil die Meinung verdeutlicht, wie wenig Ahnung ein Theoretiker von moderner Kriegsführung hat, der es wagt, den Krieg der Anderen zu kommentieren. Wie wenig weiß er doch beispielsweise über die Prinzipien der Funktionsweise von Geschütz- und Flugabwehrraketensystemen, die Gebiete beschießen, die Dutzende von Kilometern entfernt sind, ohne dabei überhaupt zwischen zivilen und militärischen 'Körpern' zu unterscheiden, ganz zu schweigen davon, dass diese Körper "ukrainisch" sind. Oder über ballistische Raketen, die, sobald sie abgefeuert sind, den ukrainischen Menschen drei bis fünf Minuten Zeit lassen, sich in ein sicheres Versteck zu retten. Und wie sehr realitätsentfremdet sind seine theoretischen Erwägungen, wie wenig können sie den Opfern des Krieges – den namenlosen Objekten seines utopischen Projekts – bieten. Denn Mitgefühl und Empathie hängen ja immerhin von der Fähigkeit ab, sich etwas vorzustellen zu können.

Preciado versteht, dass das Leben eines Ukrainers im Vergleich zu den Leben anderer wertlos ist, und er schließt sich selbst dieser Hierarchie der menschlichen Existenzen an


In einer Frage stimme ich jedoch mit Preciado überein: Dieser Krieg, beweist, ähnlich wie die vorangegangenen und künftigen, dass die Einteilung der Körper in "ukrainische" und "nicht-ukrainische", die Bewertung des Wertes des Lebens nach der Identität, leider tatsächlich vorkommt. Wir, die Menschen, bewerten die Opfer nach ihrer Nationalität und berechnen sie so, dass sie in unsere politischen Darstellungen passen.

Im Westen, wo ich in den letzten zwei Jahren gewohnt habe, wurde mein Körper fast ausschließlich als ukrainisch empfunden. Die ständige Last, die Ukraine zu repräsentieren, die alle Lebensbereiche beeinträchtigt, lässt keinen Raum für das Private. Wichtig ist immer nur das, was mit der Ukraine geschieht, und dafür werden alle Gefühlsressourcen und intellektuelle Bemühungen eingesetzt. Dies gleicht einem Zustand des veränderten Bewusstseins. Schlimmer noch, die Reduzierung des eigenen Körpers auf die Funktion einer Ukrainerin lässt einen nicht aus dem Körper hinauszuflüchten.

Von Preciados Fantasie über nicht-ukrainischen Körper, die in die Ukraine reisen, ausgehend, denke ich darüber nach, wie diese Fantasie jetzt in umgekehrter Weise umgesetzt wird: Der Krieg drängt ukrainische Körper aus der Ukraine hinaus. In der Zwischenzeit setze ich trotz meiner ideologischen Ablehnung Preciados Vorschlag so gut wie möglich um – ich bringe meinen ukrainischen Körper nach Hause, um einen kleinen Teil meiner Stadt "friedlich zu besetzen".

Die Rückkehr nach Hause ist ein probates Mittel, um meinen Körper von der Macht des binären Gegensatzes zwischen Ukrainern und Nicht-Ukrainern zu befreien. Anstatt ständig an der Repräsentation im Ausland zu arbeiten, kann ich mich zu Hause erleichtert fühlen – ich selbst zu sein. Statt Weltnachrichten, Streit mit Meinungsbildnern in den sozialen Medien, statt unausgesprochener Verzweiflung über die Unkenntnis der ukrainischen Geschichte und die ukrainische Gesellschaft werde ich hier etwas Licht finden. Es gibt nur meine Geschichte, meine Staatsangehörige und mein Wissen über mich selbst. Die Kompliziertheit und die inneren Widersprüche der ukrainischen Geschichte, Gesellschaft und des ukrainischen Selbstgefühls sind offensichtlich und können vor allem nichts an dem Konsens ändern, der keiner Diskussion bedarf: Wir alle, ukrainische und nicht-ukrainische Körper, sind mit derselben Gefahr konfrontiert – mit autoritären Regimes mit enormen militärischen Ressourcen. Nur hier in der Ukraine ist die Priorität dieses Problems für alle klar. Es ist die bedingungslose Akzeptanz dieser Tatsache, die mich von der Last befreit, das Offensichtliche auszusprechen, welche die Ukrainer im Ausland zu tragen haben.

Anstatt ständig an der Repräsentation im Ausland zu arbeiten, kann ich mich zu Hause erleichtert fühlen, ich selbst zu sein

Die Verankerung und die Rückkehr in den Raum des eigenen Körpers ist ein unterschätzter und unbeachteter Aspekt des Verlusts in unseren Gesprächen über die Erfahrung, im Exil als Flüchtling zu leben. Wenn ich aus dem sicheren Raum eines westlichen Landes in den gefährlichen Raum der Ukraine übersiedle, habe ich das Gefühl, dass die Bedeutung der Theorie für mich hoffnungslos schwindet, und alles, was zählt, ist der Ort und das, was ich dort betreibe und was ich mit meinem eigenen Körper erreichen kann. Seit meiner Rückkehr nach Kiew ist genau ein Monat vergangen. In dieser Zeit wurde die Stadt nur ein einziges Mal beschossen. Ein paar Tage später, als ich in einer Kiewer Konditorei eine Zimtschnecke esse, ertönt ein erneutes Alarmsignal. Irgendwo im Nordosten Russlands ist ein strategisches Flugzeug mit Kinschal-Raketen an Bord gestartet, was bedeutet.... Was bedeut es? Ich schaue mich in dem Café um. Andere Menschen sehen sich ebenso verwirrt um. Ich suche nicht nach Handlungsanweisungen, sondern nach der Möglichkeit, überhaupt nicht zu handeln: nirgendwo hinzugehen, nichts zu unterbrechen, so zu tun, als ob ich ein Leben führe, das nicht von Ängsten geprägt ist. Wenn der Start eines Kampfjets Terror ist, ist dann nicht auch die bewusste Untätigkeit der Zivilibevölkerung ein Akt des Widerstands?

Die Rakete am Himmel ist zu einer gewöhnlichen Medienfigur geworden. Bei Luftangriffen geben Anwohner, die eine Rakete über ihrem Gebiet fliegen sehen, deren Richtung in den sozialen Medien an, um andere vor der Gefahr zu warnen. Jedes Mal, wenn ein Kampfjet irgendwo in Russland oder Weißrussland startet, wird das Leben in der Ukraine durch die paralysierende Erwartung eines Angriffs unterbrochen. Kinos unterbrechen die Vorführungen, Krankenhäuser schließen während der Öffnungszeiten, und in Geschäften werden die Kunden gebeten, das Objekt zu verlassen. "Wenn man das Warnzeichen hört, muss man jedes Mal eine Entscheidung treffen: muss ich mich verstecken oder nicht" – sagt die ukrainische Künstlerin Aliona Solomadina. Für diese Art des emotionalem Entsetzens ist nicht einmal die physische Anwesenheit einer Rakete erforderlich, sondern die bloße Möglichkeit, von ihr getroffen zu werden.

Wenn der Start eines Kampfjets Terror ist, ist dann nicht auch die bewusste Untätigkeit von Zivilisten ein Akt des Widerstands?

Es ist November, der Winter steht vor der Tür und alle sind darauf vorbereitet, dass die Stromlieferungen ausfallen werden. Jeder Tag ohne Alarm löst unangenehme Unruhe in uns aus. Jeder ruhige Tag – heute – bedeutet einen verzögerten, späteren massiven Angriff. Dieses "später" kommt wie das Amen in der Kirche, im November oder Dezember, hundert oder zweihundert Raketen, aber es kommt bestimmt. Das Leben in Erwartung auf den massiven Angriff ist ein merkwürdiger Zustand.  Es ist merkwürdig, ganz bestimmt zu wissen, dass man in Gefahr ist. Es ist seltsam, wenn man mit Sicherheit weiß, dass man in Gefahr ist, und statt logisch nach "Flucht" zu rufen, macht man sich selbst etwas vor mit einem trügerischen "es ist alles in Ordnung". Es ist seltsam, seinen Körper davon überzeugen zu müssen, dass er sich so verhält, als ob er sich in einer sicheren Umgebung befände, obwohl er sich der Gefahr bewusst ist.
Unter den vielen Bildern von Raketen, die in den Medien kursieren, fand ich eines besonders interessant. Aufgenommen wurde es aus dem Fenster eines Flugzeugs, das über Moldawien geflogen ist. Es zeigt lange Rauchsäulen über der Ukraine, jede einzelne davon ist das Ergebnis eines Raketeneinschlags. Das Passagierflugzeug fliegt über das Nachbarland und ermöglicht es, eine epische Kriegsszene aus sicherer Entfernung zu beobachten.
 
Der Text erschien ursprünglich im ukrainischen Teil der Kulturzeitschrift "Dwutygodnik" im Rahmen eines von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit unterstützten Projekts.
  FWPN Logo © FWPN
Herausgegeben mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
Die ukrainische Sektion entsteht ebenfalls mit finanzieller Unterstützung des Juliusz-Mieroszewski-Dialogzentrums und des Österreichischen Kulturforums.

Top