Verschollene Bücher, die Brüder Grimm und Posen

Sie könnten auf mysteriöse Weise nach Polen gelangt sein. Mehrere Dutzend wiedergefundene Bücher enthalten bisher unbekannte Notizen von Wilhelm und Jacob Grimm. Sie sind eine unschätzbare Quelle wissenschaftlicher Erkenntnisse und bieten die Chance für eine enge Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Forscher*innen. Professorin Eliza Pieciul-Karmińska, die die Bücher gemeinsam mit der Bibliothekarin Renata Wilgosiewicz-Skutecka entdeckt hat, fragt sich, ob sich weitere Exemplare in anderen polnischen Universitätsbibliotheken finden lassen.
Von Urszula Schwarzenberg - Czerny
Das wichtigste Buch aus der Bibliothek der Brüder Grimm, das Sie gefunden haben, ist fast vierhundert Jahre alt.
Prof. Eliza Pieciul-Karmińska: Ja, es handelt sich um die erste, 1668 erschienene Ausgabe von „Simplicissimus“ von Christophel von Grimmelshausen. Das Buch hat ein sehr kleines Format, es misst nur 13 mal 8 Zentimeter. Seine Bedeutung liegt darin, dass es nicht nur ein Bild des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges vermittelt, sondern auch einen Einblick in die damalige Umgangssprache gibt. Das Exemplar, das wir gefunden haben, enthält außerdem zahlreiche Notizen von Wilhelm und Jakob Grimm. An den Anmerkungen, Unterstreichungen und Eselsohren kann man erkennen, wie häufig sie es benutzt haben. Diese über 50 Jahre hinweg angefertigten Aufzeichnungen liefern uns neue, unschätzbare Informationen. Ich muss auch zugeben, dass es eine einzigartige Erfahrung ist, ein Buch in den Händen zu halten, das die Brüder Grimm in ihrem Regal hatten und so oft gelesen haben. Jakob und Wilhelm Grimm stehen seit fast zwanzig Jahren im Mittelpunkt meiner wissenschaftlichen Forschung. Daher habe ich mich riesig gefreut, als wir „Simplicissimus“ und andere Bücher aus ihrem Besitz gefunden haben! Sie befanden sich in der Abteilung für Sondersammlungen der Universitätsbibliothek in Posen. Derzeit umfasst der Posener Fund 34 Titel in 28 Bänden. Sie galten bisher von Forschern in Deutschland als für immer verschollen.
Haben Sie die Bücher mit Handschuhen angefasst?
Ohne Handschuhe, weil man so ein besseres Gefühl in den Fingern hat und das Risiko geringer ist, das Papier eines mehrere hundert Jahre alten Buches zu beschädigen.
Wie ist es möglich, dass niemand zuvor von der Existenz dieser Bücher wusste?
Die Sache ist nicht so einfach. Die Sammlung der Altdrucke in Posen umfasst ca. 76.000 Bände. Im Jahr 2002, also vor über zwanzig Jahren, hat Professor Wiesław Wydra den „Katalog der Inkunabeln der Universitätsbibliothek in Posen“ veröffentlicht. Er hat dort sechs Bände erwähnt, von denen man wusste, dass die Brüder Grimm zu ihren Besitzern gehörten. Interessanterweise wiesen diese Bände kaum Gebrauchsspuren oder Notizen auf, sodass diese Entdeckung damals nicht viel Aufsehen erregte. Weitere Entdeckungen sind mit Prof. Anna Loba verbunden. Sie ist Romanistin an der Adam-Mickiewicz-Universität und besucht regelmäßig mit ihren Student*innen die Abteilung für Sondersammlungen, damit diese einen Einblick in französische Altdrucke gewinnen können. Professorin Loba wusste, dass ich mich wissenschaftlich mit dem Lebenswerk der Brüder Grimm beschäftige, und machte mich auf die Bücher aus deren privater Sammlung aufmerksam, die sich in den Beständen unserer Alma Mater befinden. Im Februar 2023 begann meine Zusammenarbeit mit der Bibliothekarin Renata Wilgosiewicz-Skutecka aus der Abteilung für Sondersammlungen. Wir stellten uns die Frage: Wenn es in Posen Bücher aus der Bibliothek der Brüder Grimm gibt, warum sollte es dann hier nicht noch mehr davon geben? Die Aufgabe war nicht leicht, denn obwohl die alten Drucke selbstverständlich katalogisiert waren, suchten wir die Bände nicht nach ihren Bibliotheksnummern, Titeln oder Autoren, sondern nach ihrer Provenienz, also ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Besitzern. Leider wurde die Provenienz in den klassischen Bibliothekskatalogen nicht vermerkt. Solche Recherchen werden da erst heutzutage nach und nach durchgeführt, auch in der Abteilung für Sondersammlungen der Universitätsbibliothek in Posen. Bei so riesigen Beständen ist das jedoch eine Arbeit, die Jahre dauern wird.
Sie haben sich sicherlich gefragt, wie die Bücher der Brüder Grimm nach Posen gelangt sind.
Es gab zwei Möglichkeiten. Eine davon ist zuverlässig belegt, die andere basiert auf Hypothesen. Im Jahr 1900 wurde in Posen, das damals unter preußischer Herrschaft stand, die Kaiser-Wilhelm-Bibliothek gegründet. Daraufhin wurden Schreiben an die Bibliotheken im Königreich gerichtet, in denen um die Bereitstellung deutschsprachiger Werke für die neue Bibliothek gebeten wurde. Viele Bibliotheken kamen dieser Bitte nach und schickten einen Teil ihrer Bestände. Auch aus Berlin wurden zahlreiche Werke nach Posen gesandt. Darunter befanden sich unter anderem Dubletten, also gleiche Exemplare von Werken, die bedenkenlos aus den Beständen aussortiert werden konnten. Zwei Bücher aus der Privatbibliothek der Brüder Grimm waren auf jeden Fall solche Dubletten. Sie müssen genau zu dieser Zeit geschickt worden sein, denn wir haben ein Exlibris gefunden, das besagt, dass sie ein Geschenk der Königlichen Bibliothek in Berlin waren. Als Polen seine Souveränität zurückerlangte, gingen die Bestände der Kaiser-Wilhelm-Bibliothek in den Besitz der Universitätsbibliothek Posen über. So verblieben diese beiden Bücher aus der Sammlung der Brüder Grimm in Polen. Eine weitere Möglichkeit hängt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. In vielen Büchern aus Posen sind Stempel der Berliner Bibliothek zu sehen, beispielsweise aus dem Jahr 1943, was bedeutet, dass sie sich während des Krieges noch in Deutschland befanden, darunter auch „Simplicissimus“.
Wie sind die Bücher nach Posen gelangt?
Wir vermuten, dass dies im Zusammenhang mit dem Versuch stand, wertvolle Bestände während der intensiven Bombardierung Berlins durch die Alliierten in Sicherheit zu bringen. Die Bibliotheksbestände könnten damals aus der Stadt abtransportiert worden sein und nach der Verschiebung der Grenzen ins polnische Staatsgebiet gelangt sein. In den Bibliotheksarchiven wurde außerdem ein Brief von Prof. Aleksander Birkenmajer (dem damaligen Direktor der Universitätsbibliothek in Posen) vom 8. November 1945 gefunden. Darin schrieb er, dass er wertvolle Buchbestände gesichert habe und vier Waggons mit Büchern nach Posen schicken werde. Wir können jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob sich die von uns gefundenen Exemplare in diesem Transport befanden. Gleichzeitig wissen wir aber, dass in der Grimm-Bibliothek immer noch mehrere hundert Bücher vermisst werden. Daher stellt sich die Frage, ob diese Bücher 1945 nicht auch in andere Bibliotheken gelangt sind, beispielsweise nach Breslau, Stettin oder Lodz.
Das ist wirklich interessant. Haben Sie vor, die Suche auszuweiten?
Wir sollten die Suche auf jeden Fall fortsetzen, aber das ist eine Aufgabe, die Zeit und die Zusammenarbeit vieler Fachleute erfordert.
Welche Methode haben Sie in Posen entwickelt, um die Bücher der Brüder Grimm zu finden? Wie findet man ihre Exlibris unter 76.000 alten Drucken?
Nach dem Tod der Brüder Grimm wurde nahezu ihre gesamte Büchersammlung von der Königlichen Bibliothek in Berlin erworben und mit dem Exlibris „Aus der Bibliothek der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm“ versehen. Erwähnenswert ist, dass die Büchersammlung der Brüder Grimm mittlerweile als eigenständige Sammlung in der Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin untergebracht ist. Ende der 1980er Jahre hat der deutsche Germanist Prof. Ludwig Denecke einen Katalog der Grimm-Bibliothek erstellt, in dem er auch mehrere hundert verschwundene Titel vermerkt hat. Dank dieses Katalogs konnten wir unsere Suche auf die als verloren gekennzeichneten Bücher beschränken. Das hat sich ausgezahlt: Tatsächlich haben wir in einigen alten Drucken das Exlibris der Grimmschen Bibliothek gefunden. Ich habe großen Respekt vor den Nachkriegsangestellten der Universitätsbibliothek in Posen, die die deutschen Kennzeichnungen in diesen Büchern nicht entfernt haben. Sie haben diese respektiert und die polnischen Exlibris daneben angebracht. Fehlte dieses Exlibris in einigen Büchern, suchten wir nach anderen Gebrauchsspuren wie charakteristischen Unterstreichungen und handschriftlichen Notizen.
Woher kam bei ihnen die Gewohnheit, Notizen in wertvolle Bücher zu machen?
Die Grimms waren sich natürlich darüber im Klaren, dass diese Bücher selten und wertvoll waren. Sie betrachteten sie jedoch gleichzeitig als Arbeitsmittel. Wenn sie etwas notierten, dann um Jahre später auf ihre Aufzeichnungen zurückgreifen zu können. Ihre handschriftlichen Notizen werden in Deutschland erst seit Kurzem im Rahmen der Forschung zum Werk der Brüder Grimm analysiert. Jede neue Entdeckung wirft ein neues Licht auf diese philologischen Untersuchungen. Manchmal kann man selbst anhand eines einzigen Wortes viel herausfinden, beispielsweise, von wem genau sie ein bestimmtes Märchen gehört haben oder aus welcher Region diese Person stammte. So können nun Forscher die Quellen der Märchen leichter bestimmen, beispielsweise ob sie aus Hessen oder Frankreich stammen. Wir sehen auch, welche Motive für sie von Bedeutung waren. In „Simplicissimus” interessierten sie sich etwa für Passagen, in denen Wölfe vorkamen, was mit ihren Forschungen zur germanischen Mythologie und zu mittelalterlichen Tierepen zusammenhing. Mithilfe ihrer umfangreichen Volksquellenverzeichnisse konnten sie zeigen, welche Symbole und Motive sich in der deutschsprachigen Literatur wiederholen und wie sie sich in verschiedenen Epochen manifestieren.
Haben Sie in den gefundenen Büchern auch lose, private Zettel gefunden? So etwas wie Quittungen aus dem Laden, die heute manchmal als Lesezeichen genutzt werden?
Wir wissen, dass die Brüder Grimm viele Dinge in ihre Bücher gesteckt haben. Pflanzen, die sie bei Spaziergängen sammelten, dienten ihnen etwa später als Lesezeichen. Sie haben die getrockneten Blumen sogar mit Beschriftungen versehen, zum Beispiel, dass es sich um das Blatt einer Rose vom Grab ihrer Mutter in Kassel handelt oder um eine Pflanze, die sie im Tiergarten in Berlin gefunden haben. Leider wurden diese losen Einlagen entfernt, als die Büchersammlung an die Bibliothek in Berlin übergeben wurde. Kurz nach dem Tod der beiden Brüder wusste man noch nicht, wie wichtig solche Gebrauchsspuren sein könnten. Die Beziehung zu ihrem Werk war damals ganz anders als heute. In „Simplicissimus” gibt es sogar Buchbinderschnitte, die die Notizen von Jakob Grimm beschädigen. Jetzt sieht man nur noch Abdrücke der Pflanzen und der kleinen Zettel, die sie in die Bücher gesteckt hatten. Wir würden alle gerne wissen, was darauf geschrieben stand, aber das lässt sich leider nicht mehr herausfinden.
Prof. Dr. Eliza Pieciul-Karmińska (geb. 1972) ist Sprachwissenschaftlerin und Übersetzerin aus dem Deutschen. Sie ist Professorin an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen. Sie hat sich auf die Theorie und Didaktik der deutsch-polnischen Übersetzung spezialisiert und forscht seit fast 20 Jahren intensiv zum Werk der Brüder Grimm.
Prof. Dr. Pieciul-Karmińska steht in regelmäßigem Austausch mit führenden Grimm-Forscher*innen in Deutschland und hat alle zweihundert Märchen von Wilhelm und Jacob Grimm neu übersetzt. Die Übersetzung basiert auf der kanonischen Ausgabe von 1857 „Kinder- und Hausmärchen” („Baśnie dla dzieci i dla domu”, Media Rodzina, 2010).
Im Verlag Dwie Siostry veröffentlichte sie 2023 das Buch „Żyli długo i szczęśliwie, póki nie umarli. Nieznane baśnie braci Grimm“ (Sie lebten lange und glücklich. Unbekannte Märchen der Brüder Grimm), das erstmals ins Polnische übersetzte Fassungen aus der Erstausgabe von 1812/1815 enthält, die sich an ein erwachsenes Publikum richten.
Darüber hinaus betreibt sie auf Facebook die Seite „Rumpelsztyk“, wo sie die Märchen der Brüder Grimm und deutschsprachige Literatur in Polen popularisiert.