Polnischer Faden – die Geschichte des ältesten lebenden Deutschen
Arnolds Familienfoto

Beispielbild
Beispielbild | Foto: Pexels

Der deutsche Architekt Arnold Leissler ist 109 Jahre alt und hat den größten Teil seines Lebens in einem von ihm selbst entworfenen Haus in Hannover verbracht. Grażyna Jędrzejczak ist 66 Jahre alt und stammt aus einer Bauernfamilie in Staw in der Woiwodschaft Lebus. Wie kam es dazu, dass Arnold und Grażyna heute unter einem Dach wohnen, obwohl sie noch vor zehn Jahren nichts von der Existenz des anderen wussten?

Von Urszula Jabłońska

Mit 106 Jahren schrieb Arnold Leissler aus Hannover ein Gedicht. Man kann es in einem von ihm veröffentlichten, aufwändig gestalteten Gedichtband lesen:

„60 Jahre im eigenen Haus
Doch irgendwann ist alles aus
Einsam ohne Sohn und Frau
Ist mein Leben öd und grau (…).
Mein schönes Haus, der große Garten
Doch Ich will nicht länger warten
Und ziehe hier für Polen aus
Dort bauen wir ein neues Haus.“

Das neue Haus steht in Staw in der Woiwodschaft Lebus, 425 Kilometer östlich von Hannover und sechzig Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze. In der Mitte des Dorfes steht eine neogotische rote Backsteinkirche, und auf dem Schornstein eines der Häuser haben Störche ein Nest gebaut. Das Dorf hat etwa 500 Einwohner.

Arnold lebt in Staw zusammen mit Grażyna Jędrzejczak und ihrem Mann Tadeusz. Arnold spricht kein Polnisch, und Grażyna nur schlecht Deutsch. Doch sie leben zusammen wie eine Familie, obwohl sie noch vor zehn Jahren nichts von der Existenz des anderen wussten.

Arnolds Familie

Arnold hatte in seinem Leben nur einen einzigen Beruf, aber viele Leidenschaften.
Sein Vater war Tischler, und er selbst machte bereits mit 20 Jahren seinen Abschluss als Innenarchitekt an der Kunstgewerbeschule in Hannover. In den Dreißigerjahren arbeitete er im Büro des Architekten Wilhelm Fricke, für den er Lichtreklamen entwarf und eine Industriellenvilla renovierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er seine Karriere als Architekt fort. An Arbeit mangelte es nicht, beinahe ganz Hannover war durch die Luftangriffe der Alliierten dem Erdboden gleichgemacht worden. Arnold entwarf fünf Kinos, eine Drehbank- und eine Pinselfabrik sowie zahlreiche Wohngebäude („Nur für Reiche“, sagt er heute sarkastisch). Mitte der 50er-Jahre entwarf er ein Haus für sich, seine Frau Gertrud und seinen Sohn Arnold. Das Haus stand in Hannover, im Stadtteil Isernhagen-Süd. Es war von einem großen Garten umgeben, dessen Büsche und Sträucher in Kugelform geschnitten waren und in dem sich auch ein Teich befand.

„Meine Frau war zu Hause, und ich habe mein ganzes Leben lang hart gearbeitet“, erinnert sich Arnold heute an jene Zeit. „Das war nicht einfach, ich hatte ständig Probleme mit der Gesundheit.“

Erst Mitte der 80er-Jahre, als er seinen Beruf an den Nagel hängte, konnte er sich endlich seinen Leidenschaften widmen: der Poesie und der Malerei. Er flog nach Venedig und machte Fotografien vom dortigen Karneval. Und anschließend malte er anhand dieser Fotografien bunte Gestalten in exotischen Kostümen vor dem Hintergrund venezianischer Landschaften.

Arnolds Sohn machte seine Leidenschaft zum Beruf: Er war Maler und lebte viele Jahre in Italien. Doch seine Bilder sind anders als die seines Vaters, eher surrealistisch. Eines von ihnen hängt in Arnolds Zimmer: Ein Schachbrett vor dem Hintergrund einer italienischen Landschaft, darauf ein geschlossener Visierhelm, eine Espressokanne und eine Pflaume.

Auf einem Familienfoto aus jener Zeit sieht man einen schmächtigen Arnold mit grauem Schurrbart, in elegantem Hemd und bunter Fliege, und eine lächelnde Gertrud, in einem gemusterten Pullover, vor dem Hintergrund eines Bücherregals. Zwischen den beiden steht ihr Sohn Arnold junior, in braunem Anzug und Mantel, und hält feierlich ein Glas Sekt empor.

Grażynas Familie

Herr Arnold mit seiner Frau Gertruda und seinem Sohn Arnold
Herr Arnold mit seiner Frau Gertruda und seinem Sohn Arnold | Foto: Familienarchiv
Grażyna hatte in ihrem Leben viele Berufe: zwei in Polen und drei in Deutschland. Das Leben in den 70er-Jahren in Polen, in einem kleinen Dorf in der Woiwodschaft Lebus, ließ ihr keine große Wahl. Nach ihrem Schulabschluss arbeitete sie im Kiosk und im Laden der lokalen Gemeindegenossenschaft. Und anschließend auf dem Hof, zusammen mit ihrem Mann, der gemeinsam mit seinem zwei Brüdern eine Schweinezucht betrieb. Sie holten sich Futter aus dem staatlichen Landwirtschaftsbetrieb, der ihnen auch die schlachtreifen Tiere abkaufte. Die Schweine gedeihten prächtig, das Geschäft lief gut. Doch dann kam die Zeit Wałęsas und der Transformation, und es war vorbei mit dem Wohlstand. Sie hatten niemanden mehr, der ihnen ihre Schweine abkaufte. Und ihre drei Töchter wurden langsam erwachsen und erklärten, sie würden gern studieren.

Tadeusz fuhr als Erster nach Deutschland. Er fand Arbeit in einer Autowerkstatt. Doch dort lief es unterschiedlich. Mal gab es Arbeit, und er erhielt seinen Lohn, mal gab es keine Arbeit, und Tadeusz saß nur herum und trank Bier. Für das Studium ihrer Töchter reichte das Geld nicht. Also beschloss Grażyna, ebenfalls nach Deutschland zu fahren, wie so viele Polen aus der Region in den 90er-Jahren. Grażyna packte ihre Koffer und ließ ihre drei Töchter bei der Großmutter zurück.

Zunächst arbeitete sie in einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Nähe von Hannover. Sie erntete Kohlköpfe, befreite sie von den äußeren Blättern und warf sie auf einen Anhänger. Im Winter pflanzte sie Stiefmütterchen, unter einer Folie, damit sie bereits im Frühling verkauft werden konnten.

„Es war nicht einfach, aber ich kam zurecht“, erzählt mir Grażyna heute in ihrem neuen Haus in Staw. „Ich komme aus einer Bauernfamilie. Der Besitzer des Betriebs sah sofort, dass ich Ahnung hatte. Das Schlimmste war die Sehnsucht nach meinen Töchtern. Wenn ich mich mit ihnen am Telefon unterhielt, bekam ich jedes Mal einen Knoten im Hals.“

Sie verdiente gut, aber die Arbeit war einfach zu schwer. Außer ihr arbeiteten in dem Betrieb nur Männer, was für Grażyna ebenfalls nicht einfach war. Dann hörte sie von einem Taxifahrer aus Posen, der polnische Putzfrauen nach Deutschland vermittelte. Vielleicht, dachte sie sich, wäre diese Arbeit etwas leichter?

Also begann Grażyna, als Putzfrau zu arbeiten. Sie zahlte 1200 Mark an den Vermittler, der anschließend eine Annonce in der Zeitung aufgab, Anrufe von Interessenten entgegennahm und Grażyna zu den jeweiligen Haushalten fuhr. Sie sprach zwar nur wenige Worte Deutsch, doch er versicherte ihr, dass es genügte, wenn er ihr einmal zeigte, was sie machen sollte – anschließend käme sie schon zurecht. Grażyna arbeitete bis zu elf Stunden täglich. Jeden Morgen um 6.30 Uhr putzte sie in einem italienischen Restaurant, buk Brötchen und machte belegte Brote, damit alles fertig war, wenn das Restaurant mittags öffnete. Anschließend fuhr sie mit der Straßenbahn durch die Stadt, von einem Putzjob zum anderen. Und an den Freitagabenden putzte sie noch ein Treppenhaus.

„Damals arbeiteten die meisten Polen hier schwarz“, erinnert sich Grażyna. „Wenn es Kontrollen gab, musste man sich schnell irgendwo verstecken. Und wenn man nach Polen zurückfuhr, wurde man oft an der Grenze angehalten und kontrolliert. Die Grenzbeamten fragten einen, wo man gewesen sei und wie viel Zeit man dort verbracht hatte. Das war ein ständiger Stress.“

Grażyna fuhr alle drei bis vier Wochen für ein Wochenende nach Polen. Sie fuhr freitags nach der Arbeit um sieben Uhr abends los und kam um fünf Uhr morgens in Staw an. Dann setzte sie sich mit ihrer Mutter und manchmal auch mit ihren Töchtern an einen Tisch und rechnete zusammen, wie viel Geld sie für das Studium, für Benzin, für Strom und für Essen benötigten. Und am Sonntag musste Grażyna bereits zurückfahren. Manchmal ließ sie ihr ganzes Geld in Polen.

Ein Familienfoto aus jener Zeit gibt es nicht. Grażyna lebte mit Tadeusz in Hannover, während ihre älteren Töchter studierten. Schließlich begann ihre jüngste Tochter, zu rebellieren. Sie war nur 14 Jahre alt gewesen, als ihre Eltern nach Deutschland fuhren. Sie waren nicht bei ihr, als sie in die Pubertät kam. Das Studium musste warten, denn mit 18 wurde sie schwanger.

Arnolds Haus

An Putzjobs mangelte es nicht, also arbeitete Grażyna zwölf Jahre lang in diesem Beruf. Die Schwierigkeiten begannen, als sie in die Wechseljahre kam. Sie kam völlig durchgeschwitzt von der Arbeit, und draußen war es kalt. Sie hatte das Gefühl, dass die Arbeit sie kaputtmachte.

In all den Jahren, in denen Grażyna in Hannover lebte, wohnte sie zur Untermiete bei einer älteren, aber sportlichen und distinguierten Dame namens Ursula. Zweimal im Jahr nahm Ursula sie mit in die Philharmonie. Sie zog dann immer ein elegantes Kleid an, in dem sie sich gern während der Sektpausen zeigte. Grażyna war überglücklich, dass sie dank ihrer Arbeit an einem so schönen Ort mit so vornehmen Menschen zusammen sein konnte. Sie lauschte wie verzaubert der Musik. Bis heute erinnert sie sich an einen japanischen Dirigenten, bei dem nicht nur der Kopf zuckte, sondern jedes einzelne Haar.

Nicht mehr aktuelle Bilder befinden sich in Alben.
Nicht mehr aktuelle Bilder befinden sich in Alben. | Foto: Pexels
Eben zu jener Zeit erzählte Ursula Grażyna, dass Bekannte von ihr nach einer Pflegekraft suchten. Sie fuhr sogar gemeinsam mit ihr zu einem Vorstellungstermin, um sich persönlich für sie zu verbürgen. Es war schließlich etwas anderes, ob man jemanden für einige Stunden zum Putzen ins Haus ließ, oder ob man gemeinsam unter einem Dach lebte.

Und so stand Grażyna also eines Tages auf der Schwelle des Hauses in Isernhagen-Süd, in dem Arnold lebte. 2007 war er 96 Jahre alt gewesen, seine Frau Gertrud war sechs Jahre jünger. Doch Grażyna sollte sich vor allem um Gertrud kümmern. Gleich bei ihrer ersten Begegnung sagte Arnold zu ihr: „Grażyna, du kommst nicht als eine Pflegekraft oder als Putzfrau in dieses Haus, sondern als ein Familienmitglied.“ Und eben dieses Gefühl vermittelte er ihr von Anfang an.

Immer wieder sagte er Grażyna, dass sie einkaufen sollte, worauf sie Lust hatte, und nicht, was gerade im Sonderangebot war. Wenn sie sich zu Tisch setzten, saß Arnold immer am Kopf des Tisches, Gertrud zu seiner Rechten und Grażyna zu seiner Linken. Gäste konnten ihre Plätze nach Belieben wählen.

So kam es also, dass Grażyna sich schon bald wie zu Hause fühlte. Und sie brachte dieses Gefühl auch zum Ausdruck. Bis heute bezeichnet sie Arnold und Gertrud liebevoll als „Oma“ und „Opa“. Sie hatte ihr eigenes Zimmer, doch sie ließ ihre Tür immer offen, für den Fall, dass Gertrud sie nachts benötigte. Es kam vor, dass Gertrud schrie oder sich schmutzig machte. Grażyna stand auch um drei Uhr nachts auf, um sie umzuziehen. Sie wartete nie bis zum Morgen.

Als Grażyna sich bei Arnold vorgestellt hatte, hatte sie ihn gefragt: „Bitte sag mir: Wie viele Polen hast du im Krieg getötet?“

Das war ihr wichtig gewesen. Auch Grażynas Eltern hatten einst in Deutschland gearbeitet, auf Bauernhöfen in der Nähe von Magdeburg, jedoch nicht um Geld zu verdienen, sondern weil sie keine andere Wahl hatten. Ihre Mutter stammte aus Kiew, ihr Vater aus Grodno. Sie molk die Kühe, und er versorgte die Pferde. Dann verliebten sie sich ineinander. Als sie nach dem Krieg in den Osten zurückkehrten, hörten sie in Warschau eine Lautsprecheransage, in der von verlassenen Wohnhäusern in den neuen polnischen Westgebieten die Rede war. Und so kamen sie nach Staw.

„Ich habe niemanden getötet“, antwortete Arnold Grażyna. „Ich habe nicht aktiv gekämpft.“

Während des Krieges war er zunächst in Bothfeld stationiert gewesen, dort hatte er Plakate gemalt und den Soldaten ihren Sold ausbezahlt. Dann hatte man ihn in die Niederlande versetzt, wo er für die Korrespondenz zuständig gewesen war. Seine Kriegserzählungen handeln hauptsächlich von den Paketen mit holländischem Käse, die er seiner Frau nach Deutschland schickte. Einige wenige erklärende Worte genügten, um dieses schwierige Thema ein für allemal aus der Welt zu schaffen.

Gertrud litt an Demenz, und es schien, als wollte sie nicht mehr leben.

„Wenn ich ihr das Essen anreichte, spuckte sie alles wieder aus“, erinnert sich Grażyna. „Wenn ich sie morgens aus dem Bett hob, verhielt sie sich völlig passiv und ließ sich überhaupt nicht anziehen. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Ich rief meine Tochter an und sagte ihr: »Hör mal, ich glaube, ich kehre nach Polen zurück. Ich schaffe das hier nicht mehr.« Und es war, als hätte Gertrud damals verstanden, was ich am Telefon gesagt hatte. Am nächsten Tag zog sie sich ihre Hose selbst an, und machte den Mund weit auf, als ich ihr das Essen anreichte. Also blieb ich.“

Nur das Zähneputzen war Gertrud bis zum Ende verhasst. Arnold öffnete ihr dann immer, so gut es ging, den Mund, und Grażyna versuchte, zu putzen. Gertrud wehrte sich mit aller Kraft und schrie immer wieder: „Du Schwein!“

Abgesehen von diesen kleinen Herausforderungen des Alltags verliefen die Tage recht beschaulich. Grażyna stand morgens auf und frühstückte gemeinsam mit Arnold. Sobald Gertrud aufwachte, bereitete Arnold ihr Frühstück zu und schnitt den Toast in kleine Stücke. Grażyna ging mit ihr ins Wohnzimmer und reichte ihr das Essen an. Dann ließ sie Arnold und Gertrud im Wohnzimmer zurück und machte Einkäufe – entweder fuhr sie mit dem Fahrrad, oder Arnold junior nahm sie mit dem Auto mit. Nach dem Mittagessen hielten Arnold und Gertrud Mittagsschlaf, und Grażyna ruhte sich aus oder bummelte durch die umliegenden Geschäfte. Anschließend bereitete sie das Abendbrot zu. Und dann klingelte es fast jeden Abend an der Tür, und es erschienen Gäste, vor allem Künstler. Arnold junior hatte hinter dem Haus ein großes Atelier voller Pinsel, Farben und Staffeleien, in dem er malte und Gäste empfing. Sie saßen dann gemeinsam am Kamin und tranken Rotwein. Auch Gertrud war dann mit dabei. Arnold wollte nicht, dass sie sich allein fühlte, wenn alle anderen lachten und sich unterhielten. Also saß auch Grażyna mit ihnen zusammen, manchmal bis in die Nacht hinein.

Herr Arnolds Zimmer
Herr Arnolds Zimmer | @ Urszula Jabłońska
Doch nach einigen Jahren des beschaulichen Lebens in Hannover trat der Tod in Arnolds Familie.
Gertrud starb 2011. Arnold litt sehr unter ihrem Tod. Eigentlich endete damit auch Grażynas Arbeitsverhältnis, doch Arnold schlug ihr vor, bei ihm und seinem Sohn zu bleiben. Er war schließlich selbst bereits alt und benötigte Hilfe.

„Ich sagte zu, weil ich mich bei ihnen sehr wohl fühlte“, erzählt Grażyna. „Aber ich wollte auch wieder öfter in Polen sein und nach all den Jahren endlich wieder mehr Zeit mit meiner eigenen Familie verbringen. Also begann ich, mich nach einer Vertretung umzusehen. Ich fragte mehrere Bekannte aus meinem Dorf und auch einige Frauen, die ich in Hannover in der Straßenbahn kennengelernt hatte, ob sie sich nicht mit mir bei der Pflege abwechseln wollten.“

Schließlich meldeten sich einige Interessentinnen. Doch keine wollte wirklich ein Teil der Familie werden. Wenn es Abend wurde, schlossen sie ihre Tür hinter sich, und Arnold musste allein zurechtkommen. Und eben dies fiel ihm mit zunehmendem Alter immer schwerer. Schließlich kam Grażyna auf die Idee, ihre Schwester Krystyna zu fragen, die seit einigen Jahren in Deutschland lebte und ebenfalls als Pflegekraft tätig war. Krystyna verließ also die Familie, in der sie bis dahin gearbeitet hatte, und kam nach Hannover, um Grażyna zu helfen. Die beiden wechselten sich monatlich ab. Sie putzten und kochten, und als der Gärtner erklärte, er wolle nicht mehr kommen, weil die Anfahrt zu lang sei, übernahmen sie auch die Gartenarbeit. Sie mähten den Rasen, schnitten die Sträucher, pflanzten Blumen und entfernten das Unkraut zwischen den Gehwegplatten.

Dann starb 2014 Arnold junior. Er hatte seit Jahren an Diabetes gelitten, war jedoch zu sehr Künstler gewesen, um sich groß darum zu kümmern. Er hatte nie auf seinen Blutzucker geachtet und war mehr als einmal mit dem Krankenwagen aus seinem Atelier abgeholt worden. Eines Tages war er dann nicht mehr aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Er war 75 Jahre alt geworden. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits 103.
Arnolds Familienfoto war nicht mehr aktuell. Er nahm es aus dem Rahmen und legte es in das Familienalbum.

Grażynas Haus

Arnold blieb also allein in seinem riesigen Haus mit Garten zurück. Dies ist wohl das Schlimmste, was Eltern widerfahren kann: Den Tod des eigenen Kindes zu erleben. Das Atelier stand leer. Es kamen zwar nach wie vor ein paar alte Bekannte zu Besuch, jedoch bei Weitem nicht mehr so viele wie früher.

Krystyna erzählt: „Eines Tages saßen wir auf der Terrasse und tranken Kaffee, da fragte Arnold mich plötzlich: »Grażyna hat gesagt, dass sie und ihr Mann gern ein neues Haus bauen würden. Denkst du, dass sich dort auch ein Platz für mich fände?«“

Arnold wusste, dass Grażyna schon seit Langem von einem neuen Haus träumte. Sie hatte in Staw bereits ein Grundstück gekauft, und die Bauarbeiten sollten bald beginnen. Doch Arnold wollte – wie so viele ältere Menschen in Deutschland – seinen Lebensabend nicht in einem Altersheim, und sei es auch noch so luxuriös, verbringen. Er hatte seine Schwester vor Jahren in einer solchen Einrichtung besucht und den Eindruck gewonnen, dass man dort nur auf den Tod wartete. In Polen hingegen würde er in einem Haus leben, gemeinsam mit einer Familie.
Alle seine Bekannten rieten ihm ab. Sie sagten: „Arnold, lass gut sein, einen alten Baum verpflanzt man nicht!“ Doch Arnold blieb bei seiner Entscheidung. Er verkaufte sein Haus in Hannover und beteiligte sich finanziell am Bau des neuen Hauses in Staw. Grażyna sagt, dass er auch die anderen ehemaligen Pflegerinnen großzügig bedachte.

Auch in Staw leben sie wie in einer Familie zusammen, lediglich in anderer Zusammensetzung. Am Kopf des Esstisches sitzt jetzt Grażyna, zu ihrer Rechten Arnold und neben ihm ihr Mann Tadeusz. Gäste können ihre Plätze nach Belieben wählen. Und sie haben oft Gäste: Magda, Grażynas Tochter, wohnt nebenan mit ihren Kindern. Und manchmal kommen auch Arnolds Bekannte aus Deutschland zu Besuch.

In seinem neuen Zuhause hat Arnold ein Zimmer mit eigenem Badezimmer und auch einen Zugang zur Terrasse, auf der er bis vor Kurzem noch Bilder gemalt hat. Über dem Bett hängen seine venezianischen Porträts, auf dem Schreibtisch stehen frische Blumen.

Die Tage verlaufen ruhig. Morgens frühstücken sie gemeinsam in der Küche und trinken Kaffee, anschließend malt Arnold, schreibt oder ruht sich aus. Nach dem Mittagessen hält er zwei Stunden Mittagsschlaf. Um vier Uhr gibt es Kaffee und Kuchen, dann spielen sie Karten. Nach dem Abendessen schauen sie polnisches Fernsehen – Arnold versteht nicht allzu viel, doch er kennt bereits sämtliche polnischen Politiker. Er trinkt ein Glas Whisky und geht um zehn zu Bett. Die beiden Schwestern kümmern sich abwechselnd um ihn: zwei Wochen Grażyna und zwei Wochen Krystyna. Auf diese Weise haben beide genügend Zeit für ihre eigenen Angelegenheiten. Arnold zahlt ihnen weiterhin ein Pflegehonorar.

Herr Arnold mit Grażyna Jędrzejczak und ihrem Ehemann Tadeusz
Herr Arnold mit Grażyna Jędrzejczak und ihrem Ehemann Tadeusz | Foto: Familienarchiv
Arnold Leissler ist heute 109 Jahre alt und wahrscheinlich der älteste lebende Deutsche. Sein neues Familienfoto sieht wie folgt aus: Ein schmächtiger älterer Herr mit grauem Schnurrbart und in einem blauen Hemd, der sich an einer Gehhilfe festhält. Von der einen Seite umarmt ihn die lachende Grażyna, von der anderen ihr Mann Tadeusz. Im Hintergrund sieht man ein weißes Haus mit dunklen Dachziegeln und einen Teil des Gartens. Und so soll es von nun an auch bleiben.

Im weiteren Verlauf des Gedichts über den Umzug nach Polen schreibt Arnold:

„Ein Hauptgrund war die Dankbarkeit
Für Grażynas Pflegezeit (…).
Von nun an – hat sie es leichter mit der Pflege.
Und will es so lange wie ich lebe
Auch Ihre Schwester Krystyna
Ist genauso für mich da.“
 

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