Ukraine-Literatur
Schaut auf dieses Land!

Zeigt mehr ukrainische Kunst und Kultur – so lautete der Appell von Kulturstaatsministerin Claudia Roth wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Den Aufruf beherzigen wir und präsentieren einige Werke, die sich mit der reichen Geschichte und dem kulturellen Leben dieses europäischen Landes befassen.

Von Marit Borcherding

Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine © © C.H. Beck Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine © C.H. Beck
Andreas Kappeler, ehemals Professor für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, hat im C.H. Beck Verlag die Kleine Geschichte der Ukraine herausgebracht. Sie setzt im Mittelalter an und reicht bis nahezu in die unmittelbare Gegenwart – entsprechend lautet die Überschrift des letzten Kapitels: Der Euro-Majdan, die Einmischung Russlands und die Destabilisierung der Ukraine. Ansonsten umfasst dieser geschichtliche Abriss, der von der FAZ als kenntnisreich, gut geschrieben und unaufgeregt bewertet wird, auch die Geschichte der im Vielvölkerstaat Ukraine lebenden Polen, Russen, Juden und Deutschen.

Senzow: Haft © © Voland & Quist Senzow: Haft © Voland & Quist
Dem Blick von außen lässt sich ein – ganz anders gearteter – Blick von innen entgegensetzen: der ukrainische Autor und Filmemacher Oleg Senzow wurde 2014, dem Jahr in dem Russland die Krim besetzte, mit drei weiteren Aktivisten wegen angeblicher terroristischer Handlungen vom russischen Geheimdienst festgenommen und zu 20 Jahren Haft verurteilt. Menschenrechtsorganisationen schätzten das Verfahren und Urteil als politisch motiviert ein und stellten gravierende Verstöße gegen internationale Rechtsnormen fest. Im September 2019 kam Senzow nach einem großen Gefangenenaustausch frei und kehrte in die Ukraine zurück. In Haft dokumentiert er seinen 145 Tage dauernden Hungerstreik während seiner Gefangenschaft und schildert den Alltag in der russischen Strafkolonie. „Oleg Senzow schreibt mit großer atmosphärischer Genauigkeit, so dass man über 415 Seiten mit Wucht hinter Gittern landet und von ungebrochenem Freiheitswillen ergriffen wird“, so Christine Hamel in kulturWelt.

Jobst: Geschichte der Krim © © De Gruyter Oldenbourg Jobst: Geschichte der Krim © De Gruyter Oldenbourg
Oleg Senzow ist auf der Krim geboren – eine Geschichte dieser Halbinsel präsentiert Kerstin Jobst, Historikerin und Professorin am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. In ihrem 2020 erschienenen Werk Geschichte der Krim, das den Untertitel Iphigenie und Putin auf Tauris trägt, beschreibt sie die vielgestaltige Vergangenheit der Krim – von den Griechischen Kolonisten der Antike über viele Jahrhunderte bis zur Auflösung der Sowjetunion, in deren Zuge die Krim Teil der unabhängigen Ukraine wurde. Das letzte Kapitel des via Open Access im Internet frei verfügbaren Buches beschäftigt sich mit der Zeit nach der zweiten Annexion von 2014.

Illusionslos

Kapitelman: Eine Formalie in Kiew © © Hanser Berlin Kapitelman: Eine Formalie in Kiew © Hanser Berlin
Dmitrij Kapitelman, in Kiew geboren und seit seinem achten Lebensjahr in Deutschland lebender Journalist, Musiker und Schriftsteller, muss in seiner Geburtsstadt noch etwas erledigen. Die unerbittliche deutsche Bürokratie verlangt die beglaubigte Kopie seiner Geburtsurkunde. Erst dann könne er deutscher Staatsbürger werden. Diesen Antrag hatte er sich – nach 25 Jahren in Deutschland – entschlossen zu stellen, weil ihm vorher „schlicht nicht klar (war), wie krass ein deutscher Ausweis privilegiert, wie sehr er das Leben erleichtert. In fast alle Länder der Welt reisen können, ohne Visaanträge!“ Außerdem wollte er sich von seinen Eltern abgrenzen, die trotz aller erfahrenen Diskriminierung (der Vater war Jude) damit begonnen hatten, die einstige Sowjetunion und Putin zu verklären. Seine Erlebnisse in Kiew bei Behörden und der dortigen Familie erzählt Kapitelman in Eine Formalie in Kiew „mit viel Humor und sprachlicher Fantasie ... immer wieder erfrischend selbstironisch. ... Er vermittelt auf eindrückliche Weise die prekäre Situation des zwischen den Stühlen sitzenden Migranten, der dazu noch von den ambivalenten Gefühlen gegenüber seinen Eltern gebeutelt wird" (Fokke Joel in der taz).

Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung © © Kiepenheuer & Witsch Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung © Kiepenheuer & Witsch
Auch Tanja Maljartschuk ist wie Kapitelman in der Ukraine, genauer in Iwano-Frankiwsk, geboren. Sie hat jedoch dort auch studiert und in Kiew als Journalistin gearbeitet. Seit 2011 lebt sie in Wien. Für ihren auf Deutsch verfassten Text Frösche im Meer erhielt sie 2018 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihren jüngsten Roman Blauwal der Erinnerung (2019) hat sie wieder auf Ukrainisch geschrieben. Und sie wählte eine historische Figur als Protagonisten, der in der ukrainischen Geschichte eine bedeutende Rolle gespielt hat: Wjatscheslaw Lypynski, Geschichtsphilosoph und Politiker. In ihrem Roman verknüpft Maljatschuk das Schicksal dieses Kämpfers für staatliche Unabhängigkeit mit dem ihrer zweiten Hauptfigur, einer Ich-Erzählerin, die nach einer unglücklichen Beziehung ein Leben in Angst führt, wegen Panikattacken ihre Wohnung nicht verlässt und der eigenen Vergangenheit nachspürt. Orientierung und Halt findet sie in der Figur Lypynskis. „Das Tröstliche an diesem Buch ist seine Untröstlichkeit“, schreibt Frank Junghänel in der Frankfurter Rundschau und lobt die akribische Recherche, die poetische Sprache und den illusionslosen Blick der Autorin.

Entscheidung in Kiew

Schlögel: Entscheidung in Kiew © © FISCHER Taschenbuch Schlögel: Entscheidung in Kiew © FISCHER Taschenbuch
Einer der gefragtesten Interviewpartner dieser Tage ist der Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel. Der emeritierte Professor der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder sowie Publizist und Autor zahlreicher Bücher zu Russland und dem osteuropäischen Raum hat schon 2015 in Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, darauf hingewiesen, dass man die Städte in diesem Land in den Blick nehmen sollte, wenn man wissen will, was in Europa gerade passiert. Lwiw und Odessea, Charkiw und Donezk seien neben anderen einst blühende Städte gewesen. Auch weil der Westen sie lange ignoriert habe, so Schlögel, hätte Putin sich zu seiner Expansionspolitik ermuntert gefühlt. Schlögel hat all diese Städte besucht – deshalb berichtet er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sehr bewegt von der Zerstörung eines historischen Gebäudes in Charkiw. Dieses sei zwei Mal zerstört worden: „Einmal von der Wehrmacht und jetzt von den Truppen Putins. Niemand, der weiß, was der Krieg der Deutschen in der Sowjetunion war, wird die Bilder vergessen können, die jetzt aus der Ukraine nach Russland kommen und dort einsickern werden, ganz egal, was die Zensur und was ein Putin versucht zu kontrollieren.“
 
Rosinenpicker © © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank
Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine
München: C.H. Beck, 2019. 431 S.
ISBN: 978-3-406-73558-5

Kerstin S. Jobst: Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris
Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2020. 384 S.
ISBN: 978-3-11-051808-5

Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
Berlin: Hanser Berlin, 2020. 176 S.
ISBN: 978-3-446-26937-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. Roman (Übersetzt von: Maria Weissenböck)
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019. 284 S.
ISBN: 978-3-462-05220-6
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen
Frankfurt am Main: FISCHER Taschenbuch, 2017. 304 S.
ISBN: 978-3-596-29643-9
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Oleg Senzow: Haft. Notizen und Geschichten (Aus dem Russischen von Claudia Dathe)
Berlin: Voland & Quist, 2021. 432 S,
ISBN: 978-3-86391-292-5

Top