„Wachs“ – der neue Roman von Christine Wunnicke
Wo finde ich bitte schön eine Leiche?

Weibliches anatomisches Wachsmodell (um 1785) im Josephinum in Wien
Weibliches anatomisches Wachsmodell (um 1785) im Josephinum in Wien | © picture alliance / Jeff Mangione / KURIER / picturedesk.com | Jeff Mangione

Christine Wunnicke unternimmt in ihrem neuen Roman einen Ausflug ins 18. Jahrhundert und erzählt die ungewöhnlichen Lebensgeschichten zweier willensstarker Frauen in Paris.

Von Holger Moos

Paris, 1773: An einem Novemberabend schleicht ein 15-Jähriges Mädchen in eine Kaserne und äußert gegenüber den Soldaten einen nicht gerade alltäglichen Wunsch: „Ich möchte bitte eine Leiche kaufen, so Sie eine für mich haben.“

So spektakulär beginnt Christine Wunnickes neuer Roman Wachs. Die vielfach ausgezeichnete Autorin und Übersetzerin stellt darin zwei historisch verbürgte Personen in den Mittelpunkt: Zum einen die junge Apothekerstochter Marie Marguerite Bihéron (1719-1795), die sich zu einer berühmten Bildnerin von anatomischen Wachspräparaten entwickelte. Die zweite wichtige Frauenfigur des Romans heißt Madeleine Françoise Basseporte (1701-1780). Bei der 18 Jahre älteren Pflanzenmalerin lernte Bihéron das Zeichnen.

Schon die Eingangsszene zeigt Maries Mut, Ehrgeiz und Eigenwilligkeit. Da es im Frankreich des 18. Jahrhunderts für Frauen nicht möglich ist, sich anatomische Kenntnisse anzueignen, muss sie dies zeitweilig in London tun. Obwohl sie sich zu einer Könnerin von anatomischen Wachspräparaten entwickelt, wird ihr in Frankreich die Anerkennung versagt – zu Lebzeiten, aber auch danach. Keines ihrer zahlreichen Wachsmodelle blieb erhalten.

Wunnicke: Wachs © Berenberg

Wüsste ich, wie Liebe sich anfühlt

Anfangs versucht Marie es zwar mit ein paar Anatomie-Lehrern, doch keiner hält es lange mit ihr aus. Stattdessen suchen sie „sich danach einen anderen Beruf. Madeleine ist ein Wesen aus einem Albtraum. Wüsste ich, wie Liebe sich anfühlt, ich sagte, ich liebte sie“, schreibt Madeleine in einem Brief an den schwedischen Naturforscher Carl von Linné. Zur Benachteiligung der Frau in einer von Männern dominierten Welt hält sie fest:
Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht.
Die beiden Frauen freunden sich an, im Roman werden sie sogar ein Paar, wobei die Jüngere die Ungestüme ist, der sich Madeleine nicht zu erwehren weiß: Marie „stürzt sich auf alles mit Raserei, seien es Leichen, sei es diese atmende Frau, die dort auf dem Möbel sitzt und nicht weiß, wie ihr geschieht“. Von ihrem Wesen her sind sie zwar grundverschieden, haben aber doch Einiges gemein: Beide beschäftigen sich mit Dingen, die damals Männern vorbehalten waren. Sie sind Autodidaktinnen und gesellschaftliche Außenseiterinnen.

Gotteszweifel und rollende Köpfe

Und beide, sowohl Marie als auch Madeleine, sind aufgrund familiärer Prägung fromm. Dennoch sind religiöse Zweifel ein Antrieb für sie, insbesondere für Marie, die durch ihre Arbeit mit den Leichen unablässig an die Vergänglichkeit erinnert wird: „Man bekommt den Geruch nicht heraus. Und es bleiben doch immer Leute. Man deckt das Gesicht zu, doch das macht es kaum leichter.“ Ihre lebenslange Beschäftigung mit dem Tod hat auch eine sehr persönliche Komponente, hatte doch der frühe Verlust ihres Vater die ersten Gotteszweifel ausgelöst:
Er lag da, und ich sollte ihn küssen... Das ist Vater, hieß es, er ist bei Gott, aber da lag er doch, und ich wollte ihn bloß nicht küssen. Er erschreckte mich mehr, als dass ich ihn liebte.
Christine Wunnicke wechselt in ihrem Roman gekonnt die Zeitebenen. Abwechselnd erzählt sie aus verschiedenen Lebensphasen ihrer Protagonistinnen, außerdem blickt die alte, sich nach dem Tod sehnende Marie im Jahr 1793 auf ihr Leben zurück. Da ist die Französische Revolution in die Phase der Terrorherrschaft eingetreten, die Köpfe rollen, Madeleine ist schon lange tot, Marie lebt in ärmlichen Verhältnissen. Wunnicke dichtet ihr einen tierischen Gefährten an, einen gefräßigen kleinen Affen, vor dem man alles in Sicherheit bringen muss.

Die Guillotine und die deutsche Klavierbaukunst

Die Nebenfigur des jungen Edmé, der nicht weiß, wer seine Eltern sind, bezeichnet Wunnicke in einem Interview im Kulturmagazin Westart als den „großen Liebenden“ ihres Romans. Er kümmert sich rührend um die auf den Tod wartende Marie, die seit Jahren das Haus nicht mehr verlassen hat. Er bringt ihr nicht nur die Zeitung, sondern berichtet ihr auch von den Ereignissen in der Stadt. Besonders aufsehenerregend: ein neues Fallbeil, konstruiert von einem deutschen Cembalobauer. Das regt Maries Fantasie an: „Der Schnitt würde hoffentlich lotrecht gelingen … Das wäre sonst eine Schande, für die deutsche Klavierbaukunst und die französische Republik.“ Für Edmé hat Wunnicke sogar das Ende des Romans so geschrieben, dass er vor der Schreckensherrschaft gerettet wird.

Wachs hat viele Facetten. Der Roman erzählt eine Liebesgeschichte, aber beschreibt ebenso einen persönlichen Akt der Emanzipation. Ganz beiläufig gibt er Einblicke in die Zeit einer der großen Zäsuren in der Geschichte Europas. Christine Wunnicke erweist sich einmal mehr als versierte Spezialistin für abseitige Kurzromane, in deren Mittelpunkt historische Figuren mit unkonventionellen Lebensläufen stehen.
Christine Wunnicke: Wachs. Roman
Berlin: Berenberg, 2025. 192 S.
ISBN: 978-3-911327-03-9
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.

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