Film Angela Schanelec

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Do, 12.08.2021 –
So, 22.08.2021

21. MFF Nowe Horyzonty, Wrocław 12.-22. August 2021

Angela Schanelec Angela Schanelec © Joachim Gern Angela Schanelec, Gewinnerin des Silbernen Bären bei der Berlinale 2019, für den Film Ich war zuhause, aber… gehört neben Maren Ade, Christian Petzold und Valeska Grisebach zu den bedeutendsten Vertretern der „Neuen Berliner Schule“. Die Formation, die in den 90er Jahren auf der Landkarte der deutschen Kinematografie erschienen ist, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten durch eine avantgardistische Filmsprache und treffende soziale Kritik erheblich auf die Form des europäischen und globalen Arthouse-Kinos ausgewirkt. Der radikale, experimentelle Stil von Angela Schanelec zeichnet sich u.a. durch lange Einstellungen, Ellipsen und antipsychologischen Schauspielstil aus.

Angela Schanelec porträtiert vor allem Frauen und ihre Erfahrungen in der neoliberalen Gesellschaft. Sie beobachtet eindringlich die sich verändernden gesellschaftlichen Rollen, Dilemmata und Herausforderungen, denen sich Frauen in der sich schnell verändernden Welt stellen müssen. Und sie erkennt auch den Preis, den sie für ihre persönliche Freiheit und Erweiterung ihres Wirkungsfeldes zahlen müssen. Welche Formen nehmen zwischenmenschliche Beziehungen in der postmodernen Gesellschaft an? Schanelec erforscht Probleme, die mit familiären, freundschaftlichen und romantischen Beziehungen verknüpft sind – und bringt Emotionen ans Licht, die normalerweise verdeckt bleiben. Ihre Filme bieten keine Lösungen, sie stellen Fragen. Was bedeutet Mutterschaft, was ist Liebe, was ist Loyalität – in einer Welt, in der die traditionellen Rollen bereits verbraucht sind und neue noch nicht geschrieben wurden. Aber vielleicht hat sich auf der tiefsten existenziellen Ebene nichts geändert, denn Gefühle entwickeln sich viel langsamer als die Kultur. Die rohe, aber sensible Weise, auf die Schanelec ihre entfremdeten Protagonistinnen betrachtet, zeigt sowohl deren Sensibilität als auch die Sensibilität der Regisseurin. Sie agiert nicht als Kritikerin, sondern als eine empathische Beobachterin, die am heutigen Leben in der Großstadt teilhat. Denn die städtische, in den meisten Filmen die Berliner Landschaft ist genauso wichtig wie die dort lebenden Menschen.

Ihre schauspielerische Erfahrung kommt in der antipsychologischen Weise der Führung der Schauspieler und in der einzigartigen, nicht auf Dialogen, sondern auf Gesten und Choreographie basierenden Filmsprache zum Ausdruck. Die Welt der flüchtigen Gesten, Schwankungen und nicht einfach zu benennenden Emotionen ist voller Geheimnisse. Es ist ein überaus visuelles Kino, in dem die Erzählung auf Bewegungen und Bildern basiert.
(Ewa Szabłowska, Kuratorin)
Kalender der Vorführungen

Filme

Ich war zuhause, aber…
Regie: Angela Schanelec, Deutschland, Serbien 2019, 105'

Ich war zuhause, aber..., Regie: Angela Schanelec © Nachmittagfilm, Quelle: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen Der mit dem Silbernen Bären für die Regie ausgezeichnete, letzte Film von Angela Schanelec war der meistdiskutierte Spielfilm bei der Berlinale 2019. Keine andere Vorführung hat den Zuschauern so viel Raum für Reaktionen, Reflexionen und Emotionen geboten, die während der Pressevorführung eine Kakophonie von Applaus und Missfallen auslösten.  In ihrem filmischen Essay beobachtet die Regisseurin eine in Trauer versunkene Familie  –  eine alleinerziehende Mutter und ihre zwei Kinder. Der 13jährige Sohn ist für eine Woche von zuhause verschwunden, und seine Rückkehr verändert plötzlich die Beziehungsdynamik in der Familie. Wer betreut wen? Wer schützt wen? Und wovor? Schanelec war schon immer an der Ökonomie interessiert: des Filmrahmens, des Körpers, der Familie, des späten Kapitalismus. In ihrer Welt bleiben Gesten und Worte unsynchron: unpassend scheint sowohl die Passivität der Kinder, die monoton Hamlet rezitieren als auch die Energie der Hauptfigur (Maren Eggert), die in Zorn- und Panikattacken und spontaner polemischer Leidenschaft zum Ausdruck kommt. Sogar ein normaler Fahrradkauf artet bei ihr in ein dramatisches Spektakel aus. Der antipsychologische, mit der klassischen Narration brechende, von den Werken Bressons, Godards und Ozu inspirierte – und dabei humorvolle – Film von Schanelec dekodiert unsere Angewohnheiten und visuellen Klischees.
(Małgorzata Sadowska)
 
Marseille
Regie: Angela Schanelec, Deutschland, Frankreich 2004, 95'

Marseille, Regie: Angela Schanelec © Quelle: SDK | Deutsche Kinemathek Die junge Fotografin Sophie findet eine Annonce mit einem Angebot für einen kurzen Wohnungstausch. Die spontan getroffene Entscheidung ermöglicht ihr, ihr bisheriges Umfeld zu verlassen. In Marseille angekommen, flaniert Sophie ziel- und planlos durch die Stadt, sie verirrt sich in den Gassen, betrachtet die Stimmen und die Bilder der für sie fremden Stadt. Wir sehen sie, wie sie sich umschaut und fotografiert, wir sehen aber nicht das, was sie sieht. Gemeinsam mit ihr erleben wir ihre Einsamkeit, ihre Verlorenheit und die Unfähigkeit, sich der Stadt und ihren Bewohnern zu nähern. Das Gefühl der Entfremdung und der schleichenden Melancholie, das uns anfangs enttäuscht, wird mit der Zeit recht angenehm. In einem derartigen Umfeld fällt es leichter, die Dinge ihrem Lauf zu überlassen, sich den Zufällen und zufälligen Bekanntschaften ausliefern zu lassen und ein Geheimnis zu bewahren. Ein scharfer Schnitt und Sophie ist zurück in Berlin. Sie vermag es weder zu erklären, was sie in Marseille getan hat, noch die erarbeitete Distanz zu wahren. In seiner Heimatstadt empfindet man die Welt anders, und Tourist in seinem eigenen Leben zu sein, ist fast unmöglich. Neben Sophie erscheinen ihre Bekannten und die Welt, die sie verlassen hat oder vor welcher sie geflohen ist. Ein rätselhafter elliptischer Film, in dem viel mehr zu sehen ist, als es auf den ersten Blick sichtbar wird.
Ewa Szabłowska
 
Plätze in Städten
Regie: Angela Schanelec, Deutschland 1998, 117'

Plätze in Städten, Regie: Angela Schanelec © Quelle: SDK / Deutsche Kinemathek Mimmi ist 19 und möchte, wie jedes Mädchen in diesem Alter, ihr eigenes Leben leben. Nach Prinzipien, die sie selbst festlegt. Sie will glücklich, aber vor allem frei sein. Wir lernen sie kennen, als sie mit ihrem viel älteren Freund Schluss macht. Und dieser belehrt sie: – Du wirst noch sehen, du wirst noch darum betteln, verstanden zu werden.  Er setzt anmaßend voraus, dass er als Mann sie besser kennt als sie sich selbst. Ihr Widerstand frustriert ihn. Ähnlich wie ihre Mutter und andere Erwachsene, die der Ansicht sind, dass eine junge Frau nett zu sein hat und fremde Erwartungen erfüllen sollte. Mimmi will aber anders sein: sie geht flüchtige Liaisons ein, sie verreist, tanzt. Macht den Führerschein und zieht nach Frankreich. Die Kamera folgt dem Mädchen zu Orten, wo sie ihre Zeit verbringt. Ihre Welt sind Wohnungen, ein Schwimmbad, Schule, Cafes, Nachtklubs und Straßen, sie definieren sie jedoch nicht. Wie in vielen späteren Filmen baut Angela Schanelec diese Geschichte aus Ellipsen auf. Die dramatischsten Ereignisse spielen sich außerhalb des Filmrahmens ab. Auch Mimmis Emotionen werden sparsam gezeigt, die Regisseurin achtet die Privatsphäre ihrer Hauptfigur. Wir wissen von ihr nur das Nötigste: sie hat einen Pferdeschwanz, sie trägt einen roten Mantel und ihr Vater war Pianist. Sie spricht ein gutes Französisch. Den Rest müssen wir uns selbst dazudichten. 
Ewa Szabłowska
 
Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben
Regie: Angela Schanelec, Deutschland 1994, 47'

Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben, Regie: Angela Schanelec © Deutsche Kinemathek Zwei Paare, die einander nicht vertrauen können. Eine junge Schriftstellerin und der sie besuchende Mann versuchen, einander näherzukommen, ihre Beziehung besteht jedoch aus sporadischen Dialogen und Berührungen. Das zweite Paar wohnt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, oder ist es vielleicht nur die Imagination der Schriftstellerin? Es gibt hier auch eine Frau, die den Anderen in die Fenster lugt und einen Redakteur, der von der Schriftstellerin  „größere Opferbereitschaft“ verlangt. Der Diplomfilm von Angela Schanelec weist bereits eine voll entwickelte Filmsprache auf.  Zwischenmenschliche Beziehungen – traurig, lustig und ungelenk – werden aus der Distanz dargestellt und verlangen vom Zuschauer höchste Konzentration, um die dünnen Fäden der Abhängigkeiten zwischen den Figuren aufzudröseln. Und das mit topografischer Genauigkeit dargestellte Berlin ist ein Feld für fiktive Möglichkeiten und subjektive, persönliche Dramen.
Ewa Szabłowska
 
Orly
Regie: Angela Schanelec, Deutschland, Frankreich 2010, 84'

In Orly ist alles genauso, wie auf anderen großen Umsteigeflughäfen. Funktionale Umgebung, unpersönliche Prozeduren, eilende oder in der Schwebe wartende Menschen. Die Zeit zieht sich hin, das Repertoire der Tätigkeiten und Verhaltensweisen ist begrenzt. Niemandsland, Ort zufälliger Begegnungen und oberflächlicher, ungewollt und nicht von Anfang an belauschter Gespräche. Ähnlich – plötzlich, fragmentarisch und flüchtig – lernen wir die Helden des Films von Schanelec kennen. Eine Frau, die nach Montreal fliegt und ihren Mantel verliert, aber dafür einem nach San Francisco reisenden, alleinstehenden Vater begegnet. Eine Mutter, die mit ihrem Sohn zum Begräbnis fliegt. Ein sich langweilig gewordenes Paar. Orly ist ein Film über zufällige Begegnungen und die Rolle, die sie im Leben spielen. Schanelec erforscht, wie zwischenmenschliche Bande entstehen, wie in scheinbar unwichtigen, flüchtigen Momenten Intimität zwischen den Menschen entsteht und wie verscheiden ihre Form sein kann. Es ist auch ein Film über den Film, der zeigt, wie jede Geschichte aus Episoden entsteht, deren Bedeutung man erst im Nachhinein begreift.
Ewa Szabłowska
 
Schöne gelbe Farbe
Regie: Angela Schanelec, Deutschland 1991, 5'

Schöne gelbe Farbe, Regie: Angela Schanelec © Deutsche Kinemathek Die Geschichte eines Umzugs. Eine Frauenstimme erzählt im Off, was passiert ist und die Kamera schwenkt durch die leere Wohnung. Die emotionale Erzählung über einen schwierigen Mitbewohner kontrastiert mit dem unpersönlichen Inneren, leeren Wänden und dem aus dem Fenster zu sehenden Himmel. Konkrete Worte vor fast abstraktem Hintergrund. Der während des Studiums bei DFFB entstandene, kurze Film knüpft an das Zitat „schöne gelbe Farbe“, aus LE MÉPRIS Jean-Luc Godard's an. 
Ewa Szabłowska
 
Nachmittag
Regie: Angela Schanelec, Deutschland 2007, 97'

Nachmittag, Regie: Angela Schanelec © Reinhold Vorschneider, Quelle: Deutsche Kinemathek Was machst du eigentlich an den ganzen Nachmittagen? – fragt Agnes ihren Ex, obwohl sie eigentlich die Antwort kennt. Konstantin verbringt seine Freizeit mit Schreiben. Er ist der Sohn von Irene, die Schauspielerin und die Schwester von Alex, dem Schriftsteller mit schwankender Gesundheit, ist. Auch Max, der neue Partner von Irene, ist Schriftsteller. Es fällt schwer, in dem Gewirr von Beziehungen und Gefühlen, deren Augenzeugen wir im Sommerhaus am See, in der Nähe von Berlin sind, zurechtzukommen. Im Nachmittag sehen wir Menschen, die ihre Zeit gemeinsam verbringen und recht gewissenhaft die Rollen der Söhne, Töchter, Mütter und Liebhaber spielen. Obwohl wir den Eindruck gewinnen, dass alle aus diesem Schicksalscasting ausbrechen wollen. Sie scheinen abwesend und die sie verbindenden Bande verblichen zu sein. Ein Sommernachmittag geht in den nächsten über und der Zeitablauf ist mit dem Vorhandensein von Gegenständen markiert, die gerade eben benutzt wurden und jetzt verlassen umherliegen. Gleichzeitig laufen Vorbereitungen zur Inszenierung der Möwe von Tschechow, wo Irene mitspielt. Nur in diesem Theater kann sie erleichtert aufatmen, jemand anders sein.  
Ewa Szabłowska
 
Mein langsames Leben
Regie: Angela Schanelec, Deutschland 2001, 85'


Mein langsames Leben, Regie: Angela Schanelec © Quelle: Deutsche Kinemathek Zwei Mädchen treffen sich in einem Cafe: Sophie fährt für ein halbes Jahr nach Rom und Valerie bleibt in ihrer Wohnung in Berlin. Wir verbringen den Sommer in der Stadt, zusammen mit ihr und mit ihren Bekannten. Valerie, eine junge Schriftstellerin mit melancholischem Gemüt und einer Frisur à la Jean Seberg, ist eine aufmerksame Beobachterin. Sie selbst scheint viel zu neurotisch zu sein, um die Reise des Sommers spontan zu genießen. Vielleicht verläuft ihr Leben deswegen langsam und etwas eintönig. Auch die schriftstellerischen Versuche des Mädchens leiden an übermäßiger Kontrolle, so behauptet zumindest ihr Rezensent. Valerie versucht vorsichtig, aber konsequent nach ihrem Platz im Leben: wie, wo und mit wem sie wohnen könnte. Sie versucht auch, Gleichgewicht im Netz der Beziehungen zu finden: unter Freunden, Freundesfreunden und zufälligen Bekannten. Hauptthema ihrer Gespräche sind emotionale Zustände und Lebensverwicklungen. Stadtleben, kleine, sich in Parks, Kinos und Cafes abspielende Dramen: Beziehungen und Trennungen, Familiengründung, Ambitionen und Peinlichkeiten. Der vor dem wunderschönen, grünen Hintergrund Berlins gedrehte Film Mein langsames Leben veranlasste den Kritiker Merten Worthmann, erstmals den Begriff der Berliner Schule ins Spiel zu bringen.
Ewa Szabłowska
 
Das Glück meiner Schwester
Regie: Angela Schanelec, Deutschland 1995, 84'

Das Glück meiner Schwester , Regie: Angela Schanelec © Quelle: Deutsche Kinemathek Christian, ein gutaussehender, freischaffender Fotograf ist zwischen zwei Frauen zerrissen: Ariane und ihrer Halbschwester Isabel. Die eine scheint bescheiden und emotional zu sein, die andere intelligenter und poetisch – aber in Sachen Liebe ist nichts so einfach, wie es scheint. Ihr Gefühlsdreieck zeigt Schanelec, ohne sentimental zu sein und ohne zu moralisieren. Sie meidet leichte Dichotomien (Neuheit kontra Stabilität, Bequemlichkeit kontra Abenteuer, Freiheit kontra Kompromiss), die die Bilder solcher Beziehungen häufig banalisieren. Was bewirkt, dass ein Mann zwei verschiedene Frauen liebt? Ist es wegen ihrer Ähnlichkeit oder wegen ihrer Andersartigkeit?  Das Glück meiner Schwester konfrontiert emotional unschlüssige Charaktere mit den Geheimnissen der Emotionen. Und den Zuschauern liefert der Film keine leichten Antworten auf Fragen, die das Wesen der Liebe betreffen –  wir können nur die Entwicklung der Ereignisse, die Nuancen und die Kompliziertheit schwieriger Beziehungen beobachten. Und das ist kompliziert.
Ewa Szabłowska
 
Der traumhafte Weg
Regie: Angela Schanelec, Deutschland 2016, 86'
 
Die präzise Konstruktion, die Rätselhaftigkeit der fragmentarischen Narration, die wundervollen Aufnahmen von Reinhold Vorschneider und der in allen Einzelheiten durchdachte Schnitt machen den Traumhaften Weg zu dem rätselhaftesten und geheimnisvollsten Film von Angela Schanelec. Ein junges Liebespaar verbringt Ende der 80er Jahre sorgenlose Tage in Griechenland. Theres und Kenneth spielen auf der Straße Trommeln, sammeln Geld in eine Mütze und driften durch die Meereslandschaft.  Eine plötzliche und brillante Ellipse bringt die Filmhandlung 30 Jahre später direkt in die stürmische Beziehung eines anderen Paares: Ariane und David. Ihre Ehe geht gerade in die Brüche und sie selbst treiben in Richtung des getrennten Liebespaares aus der ersten Filmhälfte.  Der traumhafte Weg beschreibt die komplizierte Choreographie zwischen vier Liebenden, deren Wege sich im realistischen Raum kreuzen, der aber genauso gut völlig imaginiert sein könnte.  
Ewa Szabłowska
 

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