Warum war Deutschland so lange nur auf Russland fokussiert?

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projekts "Unprejudiced" mit Unterstützung des Östlichen Partnerschaftsprogramms und des Auswärtigen Amts im Herbst 2022 erstellt.
Autorin: Anja Lordieck

Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Ukraine ist angespannt. Die Haltung Deutschlands gegenüber Russland hat in der Ukraine tiefes Misstrauen geschürt, das noch immer anhält.

Judy Dempsey  © © Carnegie Europe Judy Dempsey © Carnegie Europe
War Deutschland zu fokussiert auf Russland? “Die Beziehung Deutschlands zu osteuropäischen Staaten war immer davon geprägt, was Russland darüber denken könnte”, erklärt die irische Journalistin Judy Dempsey, Senior Fellow des Think Tanks Carnegie Europe, das sich mit europäischer Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt. 
Deshalb müsse sich der Blick auf Osteuropa, fordert Franziska Davies, Historikerin für Osteuropa an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Die sogenannte Ostpolitik sei seit Gerhard Schröder eine Katastrophe gewesen. “Das permanente ‘Man muss mit Russland auskommen’ hatte zur Folge, dass wir mit Beginn des Krieges in der Ukraine 2014 in Deutschland den Ernst der Lage nicht erkannt haben.” Die Verklärung von Russland habe zu katastrophalen Konsequenzen geführt, vor allem zur Abhängigkeit von Russland als Energielieferanten. Doch woher kommt diese Fokussierung? 
 

Historische Gründe

Sie sei vor allem auf die Geschichte zurückzuführen, gibt Historikerin Davies an, deren Forschungsfokus auf der Ukraine liegt. Der Begriff Osteuropa sei schon seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert stark mit Russland verbunden gewesen. In Deutschland habe man Russland und Osteuropa als unzivilisiert und barbarisch angesehen. Diese Vorstellung sei auch im 20. Jahrhundert fortgesetzt worden. Man habe die russische und damit osteuropäische Bevölkerung als unfähig zur Demokratie gesehen.

Auch die Sowjetunion sei russifiziert worden, erklärt Franziska Davies. Das habe sich bis heute nicht vollständig geändert, wie zum Beispiel Aussagen von Bundespräsident Steinmeier in einem Interview Anfang 2021 in der Rheinischen Post zeigen. Darin rechtfertigte er das Festhalten an der Gaspipeline Nord Stream II unter anderem mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Die Gaspipeline verläuft von Russland nach Deutschland und hätte den Gasimport über die Ukraine überflüssig machen können. Die Pläne, die seit Februar 2022 auf Eis liegen, lagen im Interesse Russlands und entgegen dem Interesse der Ukraine. Ein deutscher Bundespräsident argumentierte also mit Millionen Opfern der Sowjetunion für ein Projekt zugunsten Russlands - und ließ dabei außer Acht, dass auch die Ukraine Teil der Sowjetunion war und unter den genannten Opfern Ukrainerinnen und Ukrainer waren. In der deutschen Erinnerungskultur sei lange ignoriert worden, dass der Vernichtungskrieg und Holocaust während des Zweiten Weltkriegs auch in der Ukraine und in Belarus stattgefunden habe, erläutert Historikerin Franziska Davies. Bis heute werde Russland als Global Player und als eigentlicher Gestalter der Region wahrgenommen.
 

Imperiale Perspektive

Das habe sich auch in der Debatte in Deutschland nach der Majdan-Revolution gezeigt. Nachdem die ukrainische Regierung das Assoziierungsabkommen mit der EU Ende 2013 nicht unterzeichnet hatte, kam es zu Protesten auf dem Kyiwer Unabhängigkeitsplatz Majdan. Eine Folge war die Annexion der Krim durch Russland. Man habe in Deutschland im Zuge dessen von “unseren russischen Nachbarn” gesprochen. “Das ist eine zutiefst koloniale Sichtweise, denn Russland ist nicht mehr unser Nachbar, sondern war es zu einer Zeit, als das deutsche und russische Reich imperiale Großmächte waren”, erklärt Franziska Davies. Nachdem Polen Ende des 18. Jahrhunderts durch die Habsburger Monarchie, Preußen und das russische Reich geteilt worden war, lagen die beiden Reiche tatsächlich für über hundert Jahre direkt nebeneinander. Verbunden seien sie auch durch eine antipolnische Politik gewesen, die im Hitler-Stalin-Pakt im Zweiten Weltkrieg gipfelte. In einem geheimen Zusatzprotokoll vereinbarten das deutsche Reich und die UdSSR die Aufteilung des Baltikums und Polens.
 

Deutschland spricht der Ukraine den Status einer “echte” Nation ab

Wie einst Polen wurde der Ukraine 2014 in Deutschland der Status einer “echten” Nation abgesprochen - unter anderem von Altbundeskanzler Helmut Schmidt. “‘Echtheit’ ist keine geeignete Kategorie für eine Nation.” sagt Franziska Davies. Die Ukraine sei auch kein künstlicher Staat - nach dieser Denkweise gebe es nur künstliche Nationen. Auch dies zeige die koloniale Perspektive der Deutschen auf die Ukraine.
Erst mit der Eskalation des Krieges im Februar sei vielen Deutschen klar geworden, dass die Ukraine eine Nation ist, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht zu Russland gehören wollen und viele bereit sind, für ihr Land zu sterben. Trotzdem würden die offenen Briefe gegen Waffenlieferungen von Deutschen, die sich nicht mit der Region auskennen, die andauernde koloniale Sichtweise mancher Deutsche zeigen.

Neben diesem imperialen Blick auf die Ukraine sieht Franziska Davies eine weitere Ursache für die Fokussierung Deutschlands auf Russland: Die russische Literatur und Kultur sei romantisiert und viel stärker wahrgenommen worden als die ukrainische. Im Gegensatz zur Russischen sei nur wenige ukrainische Literatur ins Deutsche übersetzt worden. Als Folge würden die Deutschen zu wenig über die Literatur und Kultur der Ukraine wissen. Wichtig sei, dass sich dies in Zukunft ändere.
 

Strukturelle Defizite in der Auslandsberichterstattung

Das einzig positive, dass die deutsche Journalistin Gemma Pörzgen 

Gemma Pörzgen
© Dietmar Gust

dem schrecklichen Krieg in der Ukraine als Nebeneffekt abgewinnen kann, ist, dass sich endlich mehr Menschen für die Ukraine interessieren und sich mit dem Land beschäftigen. "Ich befürchte aber, dass der Fokus zu sehr auf der militärischen Auseinandersetzung liegt und zu wenig auf der Lebenswirklichkeit in der Ukraine.” Die Journalistin beobachtet seit Jahren strukturelle Defizite in der deutschen Auslandsberichterstattung, die nun umso deutlicher zutage treten. In einem Artikel für die Zeitschrift Osteuropa von 2014 analysierte sie die Berichterstattung deutscher Medien über die Majdan-Proteste und die Annexion der Krim. “Dabei steht auf allen Seiten der Verdacht im Raum, deutsche Journalisten gingen entweder russischer Propaganda auf den Leim oder reproduzierten westliche Stereotypen, die der Realität nicht gerecht werden”, schreibt sie dazu. Die Berichterstattung über die Ukraine von 2013/2014 zeige, dass zahlreiche deutsche Medien nicht ausreichend für eine verantwortungsvolle Auslandsberichterstattung in der globalisierten Welt gewappnet seien. Pörzgen beobachtet einen Trend zu weniger detaillierten Langzeitbeobachtungen durch in den Ländern akkreditierte Korrespondenten zu eher kurzfristigen Einsätzen von entsandten Auslandsreportern, auch „Fallschirmjournalismus“ genannt. “Journalistinnen und Journalisten fahren kurz in Regionen und setzen Geschichten um, die sie schon vorher recherchiert haben. Die Berichterstattung vor Ort ist jedoch der Schlüssel zum Verständnis eines Landes und hilft, die Vielfältigkeit von Themen voranzubringen.” Als Ursache für diese Entwicklung identifiziert sie, dass die Redaktionen aufgrund der Medienkrise vor allem an der kostenintensiven Auslandsberichterstattung zunehmend sparen. In den letzten Jahren wurden weltweit feste Korrespondentenstellen gestrichen, Büros geschlossen und Honorare freier Auslandskorrespondenten zusammengestrichen.

 

Osteuropa in vielen Lehrplänen

Mehr Wissen über die Region sei wichtig, sagt Gemma Pörzgen. Sie ist der Meinung, dass vor allem im Schulunterricht intensiver über die Region Osteuropa aufgeklärt und Vielsprachigkeit gefördert werden müsse. Eine Abfrage bei den Schulministerien der 16 Bundesländer zeigt, dass Osteuropa in vielen Lehrplänen eine Rolle spielt, zum Beispiel im Geschichtsunterricht. Oft sind die Pläne kompetenzorientiert aufgebaut und die Inhalte nicht konkret vorgegeben. Das Ziel ist also weniger, dass die Schülerinnen und Schüler bestimmte Inhalte lernen, sondern eher, dass sie vorgegebene Kompetenzen entwickeln - mit der Folge, dass die Region Osteuropa je nach Lehrkraft besonders intensiv oder auch nur oberflächlich beleuchtet werden kann.

Auch in der deutschen Wissenschaft gibt es Defizite im Bereich Osteuropa. Schon 2012 wies Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa in einem Artikel darauf hin. Nach Ende des Kalten Krieges habe Osteuropakompetenz als überflüssig gegolten. Daraufhin seien 1991 Institute geschlossen und Lehrstühle umgewidmet worden. Als Folge sei die Russlandexpertise von deutschen Ökonomen, Politologen und Soziologen bedrohlich gering. In einem Interview von 2022 mit der Fachzeitschrift DUZ gibt er an, dass sich seit 2012 nicht viel geändert habe. Er bewertet das mittlerweile gegründete Zentrum für Osteuropäische und internationale Studien ZOiS zwar als exzellent. Es sei aber sehr stark kulturwissenschaftlich ausgerichtet und es fehle unter anderem an Ökonomen und Juristen. Außerdem kritisiert er, dass die historische Osteuropaforschung zu sehr auf Russland fokussiert sei. Das beobachtet auch Historikerin Franziska Davies. Es sei eine Seltenheit, dass man sich in der Osteuropaforschung nicht auf Russland konzentriere.
 

Karte Osteuropa  © © Canva Karte Osteuropa © Canva


 

Deutschland muss Privilegien hinterfragen

Deutschland müsse lernen, die Perspektive der Ukraine und anderer Staaten, die unter kolonialer Unterdrückung gelitten haben, einzunehmen, meint Franziska Davies. Die deutsche Wahrnehmung sei oft, dass der Krieg gegen die Ukraine eine Konfrontation zwischen Ost und West sei. Das spiele für Ukrainerinnen und Ukrainer hingegen keine Rolle. Für sie sei Russland ein Staat, der seit Jahrhunderten versucht, ihre Nationswerdung zu unterdrücken. Dies habe sich am schlimmsten während des Holodomor in den 1930er Jahren gezeigt, der Hungersnot in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. “Der Mangel an Empathie vieler Deutscher macht mich ratlos. Wir sollten Demut entwickeln gegenüber unseren Privilegien und unserer Wohlstandsposition und anerkennen, dass es selbst in Europa nicht selbstverständlich ist, nicht für seine Demokratie kämpfen zu müssen.” Lange war die deutsche Sichtweise auf Osteuropa fokussiert auf Russland. Dies hat vor allem historische Gründe - es gibt aber auch deutliche Defizite in der Medienberichterstattung über Osteuropa und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Region.

 

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