Piret Pääsuke empfiehlt
Herzfaden

Herzfaden von Thomas Hettche © Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020 Schon der Untertitel Roman der Augsburger Puppenkiste setzt beim Lesepublikum in Deutschland wahrscheinlich viele Assoziationen frei. Wird doch das seit 1948 bestehende Puppentheater dort von mehreren Generationen geliebt. Das sollte nichtdeutschen Leser*innen, die das berühmte Theater vielleicht noch nicht kennen, aber gar nicht stören, denn Thomas Hettche versteht es, am Beispiel des Puppentheaters und der mit ihm verbundenen Personen Kindheit und Jugend einer ganzen Epoche exemplarisch zu beschreiben.

Es beginnt im Spätsommer 1939, als die 8-jährige Hannelore mit dem Spitznamen Hatü, die mit ihrer Familie auf dem Land Ferien gemacht hat, zurück in die Stadt fahren muss. Als sie zum letzten Mal die idyllische Umgebung betrachtete, hat sie das Gefühl, dass gerade etwas Schlimmes passiert. Und tatsächlich fliegen auf dem Heimweg mehrere Flugzeuge mit Hakenkreuzen auf den Flügeln über ihr Auto. Das Mädchen versteht natürlich nicht, was das alles bedeutet. Der Schock kommt erst, als der Vater, den Hatü über alles liebt, in den Krieg ziehen muss. Jetzt passieren ganz unverständliche Sachen: Rassenlehre im Biologieunterricht, das Verschwinden einer jüdischen Mitschülerin und Plünderungen bekannter Kaufhäuser.

Für Hatü wird es schwierig, das, was in der Öffentlichkeit gesagt wird, mit dem in Einklang zu bringen, was sie heimlich vom verbotenen BBC-Radiosender erfährt. Glücklicherweise kehrt ihr Vater nach Hause zurück, aber er möchte nicht weiter in dem Theater arbeiten, wo er vor dem Krieg Schauspieler und Regisseur war. Denn Propagandamaterial will er nicht produzieren. Aber während seines Aufenthalts als Soldat in einer Schule in Calais hatte er Figuren für Puppenspiele gefunden und seinen Gefährten damit kleine Aufführungen gegeben. Jetzt ist die ganze Familie vom Unternehmen des Vaters inspiriert, insbesondere Hatü, die eine talentierte Holzschnitzerin und Puppenmacherin wird. Damit ist der Grundstein für ein Theater gelegt, das zunächst zur Freude der Kinder bekannte Märchen spielt und bald auch ganz neuartige Schauspiele inszeniert, die ebenfalls Erwachsene ansprechen, so etwa Der kleine Prinz.

Hettches Fähigkeit, auch schreckliche Ereignisse mit kleinen Details zu beschreiben, ist faszinierend. Manchmal sind es eher zufällige Blicke, die für ein Kind vielleicht nur erstaunliche Bilder bleiben; aber wir erkennen darin die Tragödie einer ganzen Epoche. Andererseits vermag der Autor mit den gleichen spärlichen „Pinselstrichen“ ein Bild zu schaffen, das so schön und hoffnungsvoll ist, dass es die Seele zum Lächeln bringt. Und buchstäblich als rote Linie (rot gedruckt) zieht sich eine märchenhafte Parabel darüber durch das Werk, was im Leben am wesentlichsten ist, wenn auch für die Augen unsichtbar – genau wie ein Herzfaden.
Kiepenheuer & Witsch Verlag

Thomas Hettche
Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020
ISBN  978-3-462-05256-5
288 Seiten

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Rezensionen in den deutschen Medien:
Die Zeit
Buchpremiere: „Herzfaden“ von Thomas Hettche (Video)