Die Wanderratte als Maskottchen für D.C.
Washingtons heimliche Stars

Eine Wanderratte mit goldener Krone
Eine Wanderratte mit goldener Krone | Foto: G. Scott Segler © Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0), bearbeitet vom Goethe-Institut Washington

Washington, D.C. will ein eigenständiger Bundesstaat werden, damit die Einwohner*innen des Bundesdistrikts Senator*innen und stimmberechtigte Abgeordnete in den Kongress wählen dürfen. Aber eine Eigenstaatlichkeit von D.C. hätte noch viel mehr zu bieten. Der neue Status ist mit allerlei Privilegien verbunden: eine Staatsblume, ein Staatslied und natürlich ein Staatstier. Diese Symbole sind Quell des Stolzes und der Identität der Washingtoner*innen. Und welches Tier wäre besser geeignet, Washington, D.C. zu repräsentieren, als Rattus norvegicus, die Wanderratte? Zugegebenermaßen sind Ratten keine Heiligen, aber das trifft auch auf die Menschen zu, die in dieser Stadt wohnen. Es ist an der Zeit, die positiven Eigenschaften der Nager zu würdigen, und insbesondere die Art, wie sie den Geist von D.C. verkörpern.

Von Savannah Beck

In meinen mehr als fünf Jahren im Bundesdistrikt habe ich in Häusern, Wohnungen und Studentenwohnheimen in drei verschiedenen Vierteln gelebt. Meine derzeitige Bleibe, ein Souterrain-Apartment im Stadtteil Northwest, geht auf eine Gasse hinaus. Für eine Gasse macht sie richtig was her – breite Gehwege, ziemlich sauber und kaum Müll. Aber es ist immer noch eine Gasse in Washington, D.C., und daher sind Ratten unvermeidlich. Die verräterischen Anzeichen finden sich überall: Rascheln in der Ferne, huschende Schatten und faustgroße Löcher in den Mülltonnen. Im Winter sind die Tiere zwar etwas ruhiger, aber gänzlich auf der faulen Haut liegen sie nie. Im Sommer hingegen sind sie allgegenwärtig. Als ich anfing, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, sah ich die Stadt in einem neuen Licht und entdeckte die kleinen alltäglichen Dinge in den Vierteln, die ich durchquerte – einschließlich der vielen plattgequetschten Ratten am Straßenrand. Mit diesen Nagern ist in allen Teilen der Hauptstadt zu rechnen.

Das bringt mich zu meinem ersten Argument: Ratten sind beständig. Wo Menschen sind, residiert wahrscheinlich auch eine eingesessene Nagetierkolonie in der Nähe. Mit Ausnahme der Antarktis haben Wanderratten auf allen Kontinenten Abwasserkanäle und Stadtviertel erobert. Als die Amerikanische Revolution begann, war Rattus norvegicus bereits aus Europa eingewandert und hatte sich an der Ostküste niedergelassen. Und daher sind die Tiere unserer Nachbarschaft in dieser Region ebenso heimisch wie die menschlichen Siedler*innen. Bobby Corrigan, Nagetierforscher und Berater für Schädlingsbekämpfung, erklärt diese Beziehung mit einem Meeresvergleich: „Ratten sind Parasiten des Menschen. Sie sind wie die Lotsenfische im Schlepptau der Wale.“ Im Grunde genommen sind sie unsere Schatten, folgen uns und laben sich an unseren Abfällen. Sehr zuverlässig, sehr sparsam.

Seit dem Ausbruch von COVID-19 verzeichnet die Abteilung für Nagetier- und Schädlingsbekämpfung der Gesundheitsbehörde von Washington, D.C. eine Zunahme von etwa 1000 Beschwerden über Nagetiere pro Jahr. Programmleiter Gerard Brown führt den sprunghaften Anstieg der Klagen auf den pandemiebedingten Wandel unserer Lebensgewohnheiten zurück. Während das Virus eine Bedrohung für die menschliche Bevölkerung der Hauptstadt darstellte, profitierten die Nager von den Veränderungen, die die Krise mit sich brachte. Im Homeoffice erzeugten die Menschen in den Wohngebieten immer mehr Müll, einschließlich der Essensabfälle von Lieferdiensten wie Grubhub und Uber Eats. Brown zufolge ist den Stadtbewohner*innen in der Regel nicht bewusst, dass sie mit Lebensmittellieferungen Ratten anlocken. Da die meisten Menschen Nahrungsmittelverpackungen nicht auswaschen, bevor sie sie wegwerfen, stürzen sich die Plagegeister auf die Speisereste und vertilgen sie. Heutzutage bearbeitet jede*r von Browns siebzehn Mitarbeiter*innen bis zu zwanzig Beschwerden pro Tag im Bundesdistrikt, die sich meist auf den Umgang mit Abfällen zurückführen lassen.

Die Tatsache, dass sich die Ratten von D.C. so verlässlich ins Stadtbild einfügen – und übrigens auch kein volles Wahlrecht haben –, ist zum großen Teil auf die unglaubliche Widerstandsfähigkeit dieser Spezies zurückzuführen. 1971 wiesen Wissenschaftler*innen nach, dass Wanderratten in den Vereinigten Staaten eine Resistenz gegen Gerinnungshemmer zu entwickeln begannen, ein gängiges Rattengift, das die Gerinnungsfähigkeit des Blutes beeinträchtigt. Diese Erkenntnis war nicht völlig neu – in Europa war dieses beunruhigende Evolutionsmerkmal bereits Jahre zuvor beobachtet worden –, aber die Studie bestätigte die schlimmste aller Befürchtungen. Die Wanderratten in den Vereinigten Staaten wurden auch resistent gegen Rattengifte. Aus irgendeinem Grund geht Rattus norvegicus aus allem gestärkt hervor, sei es Gift oder eine Pandemie.

Als Collegestudentin war ich als Empfangsmitarbeiterin in einem englischen Pub in der Innenstadt tätig. Die hygienischen Verhältnisse waren typisch für ein gut besuchtes Restaurant, was sich an der strammen Rattenpopulation zeigte, die unsere Küche bevölkerte. Nach Feierabend vertrieb sich die Belegschaft gern die Zeit mit einem einfachen Spiel – Luftpistolenjagd auf Ratten. Trotz der überlegenen Intelligenz und modernen Waffen der Menschen hat keine Ratte je den Kürzeren gezogen. Für eine langjährige Bewohnerin von Washington wie mich kam das nicht überraschend, sondern war nur ein weiterer Beweis für die Unerschrockenheit der Wanderratte.

Die vielleicht am meisten unterschätzte Eigenschaft der Stadtratte ist ihre Intelligenz. Wie Brown von der Washingtoner Gesundheitsbehörde treffend anmerkt, „überlebt man nicht so lange wie sie, wenn man dumm ist.“ Aufgrund ihres logischen Denkvermögens werden Ratten für komplexe Aufgaben wie medizinische Forschung und Minensuche eingesetzt. Corrigan, der die Nagetiere auch selbst noch erforscht, fand heraus, dass Ratten sogar Werkzeuge wie zum Beispiel Stöcke einsetzen, um Rattenfallen auszulösen und den Köder zu stibitzen, ohne sich dabei zu verletzen. Im städtischen Lebensraum kann Rattus norvegicus dank seiner Pfiffigkeit schnell Muster wie den Rhythmus der Müllabfuhr erkennen, ergänzt Brown.

Diese Tiere können jedoch viel mehr, als sich simple Sachverhalte einzuprägen. Für Matthew Frye, Ausbilder im Bereich der Integrierten Schädlingsbekämpfung, ist das Überlisten von Nagetieren sowohl der schwierigste als auch der lohnendste Teil der Arbeit. Um ihre Beute auszutricksen, müssen Schädlingsbekämpfer*innen massiv auf Technik zurückgreifen und Fernsensoren und Infrarotkameras installieren. So können sie feststellen, wann und wo die Ratten aktiv sind. Doch selbstverständlich lernen auch die Ratten lebenslang hinzu, um ihren Feinden immer einen Schritt voraus zu sein. Es ist nur folgerichtig, dass sich so viele dieser cleveren Schädlinge in einer hoch gebildeten Stadt wie D.C. niedergelassen haben, wo fast 60 % der Bevölkerung über 25 Jahren einen Bachelor-Abschluss hat.

Abgesehen von ihrer Klugheit haben die Ratten von D.C. viel mit den Einheimischen gemein. Sie haben einen kultivierten Gaumen und bevorzugen kalorienreiche Süßigkeiten. Sie wissen eine saftige Erdbeertorte von Baked & Wired oder eine Kugel cremiges Stracciatella-Eis von Dolcezza zu schätzen. Selbst wenn Wanderratten nicht schlau genug wären, Fallen auszuweichen, würde ihr Gourmetinstinkt sie wahrscheinlich von Erdnussbutterködern hinweg zu den besten Restaurants der Stadt geleiten.

In vielerlei Hinsicht sind die Nager von D.C. besser als ihre menschlichen Gegenstücke. Corrigan sagt, die emotionale Intelligenz von Ratten habe es ihm angetan. In Laborexperimenten offenbaren sich Ratten regelmäßig als hilfsbereite Geschöpfe und teilen ihr Essen selbstlos mit Artgenossen oder erweisen Freunden anderweitig einen Gefallen. Und da Ratten äußerst höflich sind, vergessen sie diese Freigiebigkeit nicht und revanchieren sich bei nächster Gelegenheit. Eine freilaufende Ratte befreit einen Freund aus einem Gehege und stellt das Wohlbefinden des anderen über einen leckeren Snack vor ihrer Nase. Sobald die Rettungsaktion abgeschlossen ist, teilt sie dann die Delikatesse geschwisterlich mit dem erlösten Artgenossen. Vielleicht kann die Fähigkeit der Ratten, „menschliche“ Gefühle wie Empathie zu empfinden, uns dazu inspirieren, mit unseren eigenen Emotionen wieder in Kontakt zu treten.

Trotz ihrer vielen unglaublichen Eigenschaften haben Ratten kein aufgeblasenes Ego. Sie sind bescheiden und die ersten, die sich ihre Schwächen eingestehen. Nehmen wir zum Beispiel ihr Sehvermögen. Laut Corrigan haben sich Ratten auf Nachtsicht angepasst, was bedeutet, dass sie sehr kurzsichtig sind und nur etwa zwei bis drei Meter weit sehen können. Außerdem haben sie Schwierigkeiten, Bewegungen zu erkennen, wenn diese nicht direkt auf sie zukommen. Beim Überqueren der Straße kann sich diese Kombination als tödlich erweisen. Daher finden sich in Washington natürlich überall überfahrene Ratten, aber die meisten dieser Tiere sind vernünftig genug, um zu erkennen, dass sie eine Straße nicht mir nichts, dir nichts überqueren können und haben im Lauf der Jahre Vermeidungsstrategien entwickelt. Corrigan hat beobachtet, dass sie stattdessen einen vertrauten, unterirdischen Weg durch die Kanalisation wählen, in einen Gully springen und aus einem anderen auf der gegenüberliegenden Straßenseite unversehrt wieder auftauchen.

Welches Maskottchen wäre also passender für unsere Hauptstadt als die Wanderratte, ein Geschöpf, das den Washingtoner Lebensstil verkörpert und von dem wir uns so Einiges abschauen können? Benjamin Franklin war der festen Überzeugung, dass wir einen Fehler begingen, als wir den Weißkopfseeadler, einen Vogel „von schlechtem Charakter“, als Wappentier für unsere Nation wählten. Aber vielleicht können wir, wenn der District of Columbia endlich die Eigenstaatlichkeit erlangt, diesen Patzer ausbügeln und den ehrenwerten Rattus norvegicus zum offiziellen Staatstier küren – ein Symbol der Empathie in einer Zeit der Polarisierung und ständiger Krisen. Denn aus D.C. verschwinden, werden die pelzigen Begleiter ganz bestimmt nicht.

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