Polizeiarbeit und Kolonialismus
Der „gewaltige Bumerang“

Mehrere Polizisten behelmt rennen durch eine Straße bei einer Demonstration
Die Polizei im Einsatz bei einer Demonstration am 1. Mai in Paris | Foto (Detail): Julien Mattia / Le Pictorium © picture alliance/dpa/MAXPPP

Was hat die heutige Polizeiarbeit mit Praktiken zu tun, die in den Kolonialstaaten eingesetzt wurden? Tanzil Chowdhury erklärt den „kolonialen Bumerang“ – ein Konzept, das beschreibt, wie beispielsweise in den Kolonien angewendete Formen von Gewalt in die kolonisierenden Gesellschaften zurücktransportiert wurden.

Von Tanzil Chowdhury

Kolonien und postkoloniale Staaten waren häufig entscheidende Versuchsfelder für westliche Staaten. Dort konnten sie „innovative“ Formen von Gewalt oder die Umstrukturierung der Wirtschaft austesten.

2005 wurde der brasilianische Installateur Jean Charles de Menezes in London von verdeckten Ermittler*innen der Antiterrorpolizei erschossen, die ihn zuvor als Person mit „mongolischen Augen“ beschrieben hatten. Angeblich ähnelten sie denen des eigentlich gesuchten arabischen Verdächtigen. Diese Tragödie ist kein Zufall. Racial Profiling und Polizeigewalt sind das Echo früherer kolonialer Praktiken, die Personen rassifizierten, kriminalisierten und polizeilich überwachten.

Der „koloniale Bumerang“

Die Methoden, die der Staat benutzt, um Gewalt zu entwickeln und herzustellen, pendeln zwischen Europa und seinen Kolonien – oder heutzutage zwischen „entwickelten“ und postkolonialen Staaten – hin und her. Das kann man insbesondere bei der polizeilichen Kontrolle rassifizierter Bevölkerungsgruppen beobachten. Dies wird gemeinhin als „kolonialer Bumerang“ bezeichnet. Bei genauerer Betrachtung des „kolonialen Bumerangs“ wird klar, warum er auftritt und was er mit zeitgenössischer Polizeiarbeit zu tun hat.

Der „gewaltige Bumerang“ ist ein Begriff, den der aus Martinique stammende Autor Aimé Césaire verwendete. Er wies die Behauptung zurück, der Nationalsozialismus sei aus einer „Massenpsychose der deutschen Nation“ hervorgegangen, und argumentierte, dass Hitler sich dieselbe Logik von Entmenschlichung und Herrschaft zu eigen machte, die europäische Kolonialmächte in Indien oder afrikanischen Staaten, wie beispielsweise in Algerien, ausgeübt hatten. Mit anderen Worten, Europa war weit davon entfernt, als Bastion der Aufklärung zu gelten, die im Ausgang eines dunklen Zeitalters begriffen war, in dem der Rest der Welt nach wie vor feststeckte. Césaire enthüllte, wie die europäisch produzierte koloniale Gewalt in die imperiale Metropole zurücksickerte.
 

Die unterdrückenden Methoden, die in den Kolonien angewendet wurden, hatten ihren Weg zurück in die Institutionen des Westens gefunden.

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Andere Denker*innen beobachteten diesen Bumerangeffekt ebenfalls. 1936 beschrieb der trinidadische Kommunist George Padmore die Kolonien als „Brutstätte für genau die Art von faschistischer Mentalität, die heute in Europa losgelassen wird“, während der französische Intellektuelle Michel Foucault anmerkte, dass die Unterdrückungsmethoden, die die europäischen Kolonialherren in den Kolonien anwendeten, ihren Weg zurück in die Institutionen des Westens gefunden hatten.

Das „Ausprobieren“ staatlicher Gewalt an rassifizierten Bevölkerungsgruppen

Warum aber setzen ehemalige Imperialstaaten neue Formen staatlicher Gewalt – wie beispielsweise militarisierte Polizeiarbeit oder Überwachungsmethoden – nicht einfach gegen ihre eigene ausgebeutete Bevölkerung ein? Die Antwort hat vor allem mit der blutigen Geschichte des „Ausprobierens“ an rassifizierten Bevölkerungsgruppen zu tun. Sie reicht von wissenschaftlichen Erklärungsversuchen vermeintlicher Rassenunterschiede bis hin zu Experimenten, die an rassifizierten Gemeinschaften durchgeführt wurden.

Ein berüchtigtes Beispiel ist das Tuskegee-Experiment, bei dem Schwarze Farmpächter im Gegenzug für kostenlose medizinische Versorgung zur Teilnahme an einer Studie gebeten wurden, die sogenanntes „schlechtes Blut“ behandelte. Tatsächlich jedoch bestand das Experiment darin, die Auswirkungen von an Syphilis Erkrankten zu beobachten. Vielen wurde eine wirksame Behandlung verweigert, was dazu führte, dass die Teilnehmenden weiter erkrankten und in einigen Fällen sogar starben. Der koloniale Bumerang reproduziert diese Stratifizierung der Menschheit, bei der kolonisierte oder rassifizierte Bevölkerungsgruppen als „testenswerte“ Versuchspersonen gelten, die ausbeutbar und letztlich austauschbar sind.

Polizeiarbeit und Kapitalismus

Was kann uns der koloniale Bumerang über zeitgenössische Polizeiarbeit und Kapitalismus verraten? Kritische Geschichtsschreibung behauptet, dass die britische Metropolitan Police nicht eingerichtet wurde, um Verbrechen an sich zu verhindern, sondern um eine sich herausbildende industrielle Arbeiterklasse ruhigzustellen, die die Interessen einer ebenso neuen kapitalistischen Klasse bedrohte. Der französische Marxist Louis Althusser beschreibt die Polizei als Teil des „repressiven Staatapparates“, der mithilfe von Gewalt funktioniert und für die Reproduktion des Kapitalismus entscheidend ist. Dazu kommt, dass die Polizeiarbeit in modernen kapitalistischen Staaten von Einsätzen, in welchen Aufstände in den Kolonien niedergeschlagen wurden, zutiefst beeinflusst ist.

Antikoloniale Rebellion als Echos der Vergangenheit

Adam Elliott-Cooper schildert, wie beispielsweise in Malaya und der Kolonie Kenia die Polizeieinsätze, die die antikolonialen Rebellionen niederschlugen, „Echos der Vergangenheit“ erzeugten. Diese prägten die Antiterror-Polizeieinsätze während des sogenannten Kriegs gegen den Terror und die polizeiliche Kontrolle Schwarzer Gemeinschaften. Dadurch, dass bestimmten Menschen eher zugesprochen wurde, kriminell zu sein, wurden diese Taktiken weiter legitimiert. In der Regel galt das für rassifizierte Bevölkerungsgruppen in den Kolonien. Die polizeiliche Kontrolle von rassifizierten Diaspora- und Migrantengemeinschaften, eine der polizeilichen Taktiken, wurde später in die imperiale Metropole übertragen.

Britisch-Malaya war ein in etwa im heutigen Malaysia und Singapur gelegenes Gebiet (reich an Zinn- und Kautschukressourcen), das sich im 19. und 20. Jahrhundert unter britischer Kontrolle befand; die Kolonie Kenia war eine britische Kronkolonie in Ostafrika. Die Polizei pflegte kommunistische Rebell*innen in Britisch-Malaya als „Gangs“ oder „Terroristen“ zu bezeichnen. Dies verschaffte ihr einen Vorwand, Aufstände gewaltvoll niederzuschlagen, chinesisch-malaiische Personen zu überwachen und kollektiv zu bestrafen. Bei dem brutalen Massaker von Batang Kali wurden 24 unbewaffnete Dorfbewohner*innen von britischen Soldaten getötet. In gleicher Weise stufte die Polizei die Kikuyu in der Kolonie Kenia aufgrund ihrer angeblichen Verbindungen zum antikolonialen Mau-Mau-Widerstand als verdächtige Bevölkerungsgruppe ein. Für die Gemeinschaft bedeutete das die ständige Gefahr vor Massenfestnahmen, Inhaftierungen und Umsiedlungen. Genau wie in Malaya wurden die Mau-Mau-Rebell*innen als „Gangs“ bezeichnet, was dazu führte, dass die Kolonisator*innen die Kikuyu massenweise verhörten und bestraften und im Zuge dessen Internierungslager errichteten.

Der Fall „Nordirland“

Auch in „Nordirland“ wandte die Polizei ähnliche Strategien an, um Aufstände niederzuschlagen. Sie setzte Tränengas, Körperpanzerung und Plastikgeschosse ein und bestrafte kollektiv verdächtigte Gemeinschaften in „Nordirland“. Der anhaltende Krieg in „Nordirland“ prägte die Polizeidienste in Großbritannien zutiefst. Zahlreiche höhere britische Beamt*innen besuchten „Nordirland“, um aus den Einsätzen zur Aufstandsbekämpfung gegen Republikaner*innen und die irisch-katholische Bevölkerung zu lernen. Arthur Wellesley, Sir Robert Peel und Sir Henry Goulborn waren maßgeblich daran beteiligt, den Gesetzesentwurf zu verfassen, der den modernen Polizeidienst in Großbritannien schuf. Sie alle hatten als Chief Secretary in Irland gedient. Sir Kenneth Newman, ehemaliger Beamter im britischen Mandatsgebiet Palästina und später auf dem Höhepunkt des Nordirlandkonflikts Polizeichef der Royal Ulster Constabulary (RUC), sollte dann 1982 Polizeipräsident der Metropolitan Police werden. Sir Robert Mark, der zu Beginn des Nordirlandkonflikts Polizeipräsident der Metropolitan Police war, erklärte bekanntlich, dass die Polizeikräfte in London einige der militarisierten Polizeitaktiken übernehmen, die von der Armee und der RUC (Royal Ulster Constabulary) in „Nordirland“ entwickelt worden waren.

„Die Kolonien sind nach hause zurückgekehrt“

Wie Elliott-Cooper argumentiert, sind rassifizierte Gemeinschaften von staatlicher Gewalt bedroht, da die Polizeiarbeit in den ehemaligen Kolonien und im heutigen Großbritannien rassistisch geprägt sind. Das gängigste Beispiel, das er anführt, ist das des oben in der Einleitung bereits genannten Jean Charles de Menezes. In der Tat waren diese Polizeitaktiken zur Aufstandsbekämpfung entscheidend für die Antiterror-Polizeiaktionen gegen „verdächtige“ muslimische Gemeinschaften nach dem 11. September 2001.

Der koloniale Bumerang behauptet nicht, dass es eine direkte Kausalität zwischen Formen staatlicher Gewalt in den Kolonien und den ehemaligen imperialen Zentrum gibt. Stattdessen drückt das Konzept aus, wie bestimmte Techniken, die gegen rassifizierte Personengruppen angewandt werden, in anderen Teilen der Welt aufgegriffen und auf ähnliche Weise benutzt werden. Faktisch sind die Kolonien nach Hause zurückgekehrt. In einer komplexeren Version von Churchills alter Devise, dass diejenigen, die nicht aus der Geschichte lernen, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen, legt Césaire faktisch nahe, dass die „Echos der Vergangenheit“ eine Anleitung dafür lieferten, wie staatliche Gewalt in die imperialen Zentren übernommen werden konnte. Auf diese Weise beobachten wir tatsächlich, dass moderne Polizeiarbeit sich keineswegs von klassischen Formen des Kolonialismus abwendet, sondern sie vielmehr fortsetzt.

 

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