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Medienfreiheit in Belgien
Die wichtigste unserer Freiheiten

Unter (Hoch-)Druck Belgien
© Sandra Kastl

„Vive De Potter“, riefen die Belgier, die 1830 in den Straßen von Brüssel gegen die niederländische Armee kämpften, und ließen damit Louis de Potter hochleben, der zu den führenden Journalisten der damaligen Zeit zählte. Da seine Zeitung für Demokratie, soziale Gleichstellung und Meinungsfreiheit eintrat, wurde er von der Regierung aus Belgien verbannt, woraufhin er nach Frankreich ins Exil ging. Die belgische Revolution war unter anderem aus Protest gegen die Zensur und die Verfolgung von Journalisten und Journalistinnen entbrannt.

Von Karl van den Broeck

In der 1831 verabschiedeten Verfassung wurden sehr klare Worte gefunden: „Die Presse ist frei; eine Zensur darf unter keinen Umständen eingeführt werden“. Diese für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Bestimmung sollte in anderen Ländern erst Jahre später eingeführt werden. Aus diesem Grund verfassten Schriftsteller und Denker wie Karl Marx, Victor Hugo, Charles Baudelaire und Multatuli ihre kritischsten Werke in Brüssel.

2005 wurde vom belgischen Parlament ein strenges Gesetz zum Schutz der „Quellen“ von Journalisten und Journalistinnen verabschiedet. Auskunftspersonen genießen in Belgien fast absoluten Schutz. Journalist*innen müssen ihre Quellen nur dann offenlegen, wenn die öffentliche Sicherheit in Gefahr ist.

(Für Julian Assange wäre es besser gewesen, nach Belgien zu fliehen, als in der ecuadorianischen Botschaft Zuflucht zu suchen.)

Auch heutzutage können Journalist*innen ihre Arbeit in Belgien noch relativ ungestört verrichten (die größte Gefahr liegt derzeit nicht in der Zensur, sondern in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen). In der Rangliste der Pressefreiheit erreicht Belgien 2020 den 12. Rang, was gegenüber dem Vorjahr eine Verschlechterung um drei Plätze bedeutet.

In den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass der Rechtsschutz durch die missbräuchliche Einleitung von Gerichtsverfahren (strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung, SLAPP) unterlaufen werden kann.

Apache, die unabhängige Nachrichtenseite für Investigativjournalismus (als deren Chefredakteur ich tätig bin), sieht sich seit nunmehr drei Jahren mit den bösartigen Angriffen eines Bauträgers aus Antwerpen konfrontiert. Seit 2013 berichtet Apache über die enge Beziehung dieses Mannes, Erik Van der Paal, mit dem Antwerpener Stadtrat unter der Leitung von Bürgermeister Bart De Wever. Erik Van der Paals Unternehmen, Land Invest Group, gelang es, entgegen den Empfehlungen der zuständigen Behörden eine ganze Reihe an lukrativen Aufträgen an Land zu ziehen. 2017 brachte das Unternehmen Land Invest Group (gemeinsam mit Bart De Wevers ehemaligem Kabinettschef) zum ersten Mal eine Klage gegen Apache ein. Da es sich um ein Zivilverfahren wegen übler Nachrede und Verleumdung handelte, musste die andere Partei nicht beweisen, dass Apache Falschmeldungen verbreitet hatte (was nicht der Fall war), sondern nur, dass dem Unternehmen durch die Berichterstattung Schaden entstanden war. Das Gericht kam zu dem Urteil, dass Apache die berufsethischen Grundsätze gewissenhaft befolgt hatte und dass keine Verleumdung vorlag. Die Schadenersatzforderungen in Höhe von 350.000 Euro wurden abgewiesen.

Im November 2017 erhob Erik Van der Paal ein weiteres Mal Klage gegen Apache. Nur wenige Tage zuvor hatte die Website ein Video veröffentlicht, auf dem zu sehen war, dass fast alle Mitglieder des Antwerpener Schöffenrats bei seiner Geburtstagsfeier anwesend waren. Dies war – gelinde gesagt – seltsam, denn zu diesem Zeitpunkt verhandelte die Land Invest Group gerade mit der Stadt über die Vergabe eines wichtigen Bauprojekts an Van der Paals Unternehmen. In diesem Zusammenhang wollte Apache einer möglichen Aufweichung der Vergabevorschriften nachgehen.
Vorgeworfen wurden Apache diesmal Stalking und Verletzung der Privatsphäre. Sollte das Gericht dieser Argumentationslinie folgen, würde die Verfassungsbestimmung umgangen, dass Vergehen der Presse vor einem Geschworenengericht verhandelt werden müssen, wodurch verdeckte Recherchen stark erschwert würden.

Im April 2019 brachte Ogeo Fund, einer der Aktionäre der Land Invest Group, eine Klage gegen einen Journalisten von Apache sowie gegen einen Kollegen von Le Vif/L’Express ein. Die beiden hatten gemeinsam aufgedeckt, dass sich die Geschäftsleiter und Führungskräfte der Land Invest Group selbst bereichert hatten. Ogeo forderte Schadenersatz in Höhe von 500.000 Euro, zog die Klage aber schließlich noch vor Beginn der Gerichtsverhandlung zurück.

Die letzte Klage steht in Zusammenhang mit einem Artikel vom September 2020, in dem darüber berichtet wurde, dass Erik Van der Paal (der die Land Invest Group inzwischen verkauft hat) erneut als Lobbyist in der Immobilienbranche tätig ist. Diesmal setzte Van der Paal eine rechtliche „Atombombe“ ein: Er erlangte durch einen einseitigen Antrag – ein Eilverfahren, in dem die andere Partei nicht angehört wird – die Anordnung einer einstweiligen Verfügung, mit der Apache unter Androhung einer Geldstrafe von 5.000 Euro pro Tag des Verzugs dazu aufgefordert wurde, den Artikel von der Website zu nehmen. Das ist unverhohlene Zensur. Apache sah sich gezwungen, sich der einmonatigen Verfügung zu beugen. Daraufhin wurde ein Verfahren in der Hauptsache eingeleitet, aber die endgültige Verhandlung wird erst 2021 stattfinden. Inzwischen ist der Artikel wieder online. Aber Erik Van der Paal hat auch Strafanzeige gegen Apache erstattet. Die Ermittlungen in diesem Fall müssen abgeschlossen sein, bevor die Zivilverhandlung stattfinden kann. Und das kann Jahre dauern.

Doch auch Apache wird in der Zwischenzeit nicht untätig herumsitzen. Der Flämische Journalist*innenverband (VVJ) kündigte im Dezember 2019 an, (im Namen von Apache) Klage gegen die Land Invest Group zu erheben, denn Apache hat Beweise zusammengetragen, dass das Unternehmen im Jahr 2017 Privatermittler*innen mit der Beschattung von Journalist*innen beauftragt hatte. Dies könnte einen Verstoß gegen das Gesetz über die Geheimhaltung journalistischer Informationsquellen und das Gesetz über Privatermittler darstellen.

Dass ein kleines, unabhängiges Medium wie Apache von einem einzelnen Mann mit einem Schwall von Klagen überzogen wird, hat Belgiens Ansehen auf internationaler Ebene erheblichen Schaden zugefügt. Der Europarat hat Belgien bereits fünf Mal dazu aufgefordert, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, welche Maßnahmen das Land zu treffen gedenkt, um die missbräuchliche Verwendung von Klagen gegen Journalist*innen einzudämmen. Ein Antwort von Belgien steht noch aus.

In dem im September dieses Jahres von Didier Reynders veröffentlichten „Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020“ schneidet Belgien zwar gut ab, aber der Einsatz von Privatermittler/innen zur Beschattung von Journalist/innen, die für Apache tätig sind, wird in dem Bericht ausdrücklich erwähnt. Am 25. November hat das Europäische Parlament einen Änderungsantrag des belgischen EU-Parlamentariers Kris Peeters (EPP) angenommen, durch den die Beschattung von Journalist*innen durch Privatermittler*innen unterbunden werden sollte (sofern die Mitgliedsstaaten zustimmen), wie dies bereits bei Gewerkschafter*innen der Fall ist.

Apache tut sein Möglichstes, um sicherzustellen, dass die Arbeit der Redaktion durch die Flut an Gerichtsverhandlungen nicht beeinträchtigt wird. Aufgrund der Zeit, die nun für die Vorbereitung von Gerichtsverhandlungen aufgewendet werden muss, steht weniger Zeit für investigative Arbeit zur Verfügung. Darüber hinaus sind Gerichtsverhandlungen äußerst kostspielig. Auch wenn in einer Rechtssache zu unseren Gunsten entschieden wird, sind stets die Honorare der Rechtsanwälte bzw. Rechtsanwältinnen zu begleichen. Dass Journalist*innen in Belgien kaum mehr die Möglichkeit haben, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen, verschärft die Lage noch zusätzlich. Diese Tatsache ist eindeutig auf Erik Van der Paals Klagen zurückzuführen. Apache ist in der glücklichen Lage, auf die Unterstützung einer Gemeinschaft von Sympathisant*innen zählen zu können, die Geld sammeln, damit die Rechtsstreitigkeiten weiter ausgetragen werden können.

Apache hat noch nie ein Verfahren vor dem Ausschuss für Berufsethik des Presserats verloren und Erik Van der Paal ist es noch nie gelungen, faktische Ungenauigkeiten in unserer Berichterstattung nachzuweisen. In den meisten Fällen antwortet er nicht einmal, wenn er dazu aufgefordert wird, sich zu unseren Artikeln zu äußern oder er beruft sich auf sein Recht auf Gegendarstellung. Durch seine unbegründeten Klagen untergräbt er nicht nur die Tätigkeit von Apache, sondern auch die Pressefreiheit, auf der die belgische Demokratie beruht.

Am 24. Mai 2017 wurde Apache mit dem Ark Prize of the Free Word, einem der wichtigsten Preise für freie Meinungsäußerung für Journalist*innen und Schriftsteller*innen in Flandern, ausgezeichnet. Mit den Worten: „Wir sprechen uns nachdrücklich gegen die Einschüchterung aus, mit der die Aufgabe der vierten Gewalt untergraben wird: fundierter Investigativjournalismus und geprüfte Fakten“, zollte die Jury den Journalisten und Journalistinnen von Apache Anerkennung für ihre Arbeit.

Diese Auszeichnung hat uns in unserer Überzeugung bestärkt, weiterhin unseren Beitrag zu dem leisten zu wollen, was die Verfasser der belgischen Verfassung als „die wichtigste unserer Freiheiten“ bezeichneten: die Meinungs- und Pressefreiheit.

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