Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Landungen

Landungen Foto: © Goethe-Institut Bolivien (Auszug aus dem Roman LANDUNGEN, Seite 52 bis 57)

Die Sonne half ihm, der laue Wind. Es war ein Sonntag, und Sigrid und er waren mit den Fahrrädern unterwegs, gemächlich durchs Ammertal. Er liebte den Duft der Sommerwiesen, in den sich immer mal wieder ein Hauch von frischer Gülle mischte. "Landluft", sagte er dann, und Sigrid lachte ihr helles Lachen. Später würden sie am Waldrand Picknick machen, würden sich liebkosen und einander Erdbeeren verfüttern, der Anwalt und das Blumenmädchen, und er würde, ins Gezweig eines Apfelbaums blinzelnd, für eine Weile ganz ruhig werden und sich eingestehen, dass es auch Vorteile hatte, in einer derart freizügigen oder hemmungslosen Epoche zu leben.

Außerdem hatte er es schon weitgehend geschafft, sie aus dem Sumpf herauszuführen. Sie pflegte kaum noch Umgang mit den Wirrköpfen, nicht zuletzt, weil die es ihr verübelten, dass sie sich mit ihm einließ. Mit einem Spießer, einem alten Sack, mit dem Establishment. In den Momenten, da ihm dieser Blickwinkel glückte, konnte er Triumphgefühle entwickeln.
In anderen Momenten aber musste er alles daran setzen, zu erfahren, wie ihr bisheriges Liebesleben ausgesehen hatte. Nur geradeheraus fragen durfte er sie nicht. Sie sollte nicht denken, dass er übermäßig eifersüchtig war oder dergleichen. Es galt, die Informationen, die er benötigte, aus dem zutraulichen Geplauder der Frischverliebten zu filtern.
Die Radtouren boten dazu die beste Gelegenheit. So oft wie möglich fuhren sie zusammen hinaus, in den Schönbuch oder über Hirschau und Rottenburg, gerne auch auf einen Krug Most in den Gasthof Schwärzloch oder auf einen idyllischen Rundblick hoch zur Wurmlinger Kappelle. Eine Susanne war es gewesen, die sie unter die Aufwiegler gebracht hatte; mittlerweile mit dem Studium fertig und nicht mehr in der Stadt, während Sigrid noch bei der Wahl des Themas für ihre Zulassungsarbeit zögerte. "Es war einfach das Gefühl, dass man was tun muss", sagte sie mit weit geöffneten Augen und fuhr mit dem Vietnamkrieg, den Bonzen in Bonn und mit Unterdrückung und Ausbeutung als Grundpfeilern des kapitalistischen Systems fort, weshalb man, wo immer man könne, auf die Revolution hinarbeiten müsse.
Im Hinblick auf das Körperliche blieben seine Nachforschungen, das Kommando betreffend, ergebnislos. Ihre einzigen Angaben, die im weiteren Sinn in diese Richtung gingen, bezogen sich auf den Plan einer gemeinsamen Reise der Gruppe, in zwei VW-Bussen nach Frankreich ans Mittelmeer, von dort vielleicht hinüber nach Italien, an die Riviera. Doch daraus war bislang nichts geworden, und wenn es noch würde, wäre Sigrid nicht mehr mit von der Partie. In Ungnade gefallen. Zum Glück.
Als Verflossenen erwähnte sie, sporadisch und widerwillig, nur einen gewissen Wolfram. "Das ist schon so lange her", winkte sie ab, als könnte es in ihrem Alter etwas geben, das schon lange her wäre. Ein harmloser Jüngling aus der Zeit vor Susanne, beschwichtigte Udo sich selbst. Aber wer war danach gekommen? Es konnte ja nicht sein, dass da niemand – und dass mit all den lüsternen Ernestos bloß politisiert worden war!
Ein Schockmoment trat ein, als sie, reizend angetrunken, eines Abends in den Sommerferien, sie hatten sich gerade die Kleider vom Leib gerissen und sich aufs Bett fallen lassen, seinen Armen entglitt und Anstalten machte, sein Glied in den Mund zu nehmen.
Das war doch. Oralverkehr. Das war doch nicht. Das ging doch zu. Udo Soltau war Jahrgang 1929, aus bürgerlicher Familie und ohne Bordellerfahrung. Er hatte noch nie wirklich eine Scheide gesehen. Mehr als das Haardreieck zwischen den weiblichen Schenkeln war ihm kaum geläufig. Schamlippen hatte er allenfalls flüchtig und versehentlich erblickt (es sei denn, man zählte die seiner Tochter mit, als sie ein Kleinkind war und er sie zu wickeln versuchte), und jedenfalls nicht die inneren Lippen, geschweige denn das, was dahinter lag. Sich mit dem Gesicht dorthin zu begeben, kam ihm abwegig vor. Auch seinen Penis betrachtete er nie genauer. Als reinlicher Mensch zog er sich beim Einseifen unter der Dusche die Vorhaut zurück, doch nur ganz kurz und ohne einen Blick auf die Eichel zu werfen. Und wenn er sich selbst befriedigte, was zumindest ein-, zweimal pro Woche unumgänglich war, schaute er ebenfalls nicht hin. Er tat es hastig auf der Toilette, zusammen mit anderen Verrichtungen.
Und nun Sigrids Initiative. Und sein Zurückzucken. Sein Schreckenslaut. Ein Rudel panischer Gedanken, von der Leine gelassen: Was hatte das zu bedeuten, wie kam sie auf diese Idee, wer hatte ihr das beigebracht? Sie war aus dem Bett gesprungen, nicht bloß im Gesicht, sondern bis zu den Schultern errötend, und die Tränen schossen ihr in die Augen.
"Oh, nein", hörte er sie stammeln.
"Bitte nicht", stammelte er zurück.
Was war zu tun? Nur nicht erstarren! Nicht zulassen, dass sie weiter so dastand, nackt und rot, zitternd, mit dem Rücken zur Wand!
"Sigrid. Sigrid. Bitte: Willst du meine Frau werden?"
Mein lieber Scholli, Udo!, dachte er, als er wieder denken konnte, von sich selbst überrumpelt. Was für eine Flucht nach vorne! Da hatte er, blitzartig in der Bedrängnis, die Zauberformel gefunden, mit der sich nicht nur die peinliche Situation entschärfen, sondern auch all seine Angst bannen ließ.
Ihr "Was?" war kaum hörbar. Doch er blieb am Ball, getragen von der Adrenalinwelle. Er stand nun bei ihr neben dem Bett, ergriff ihre Hände.
"Meine Frau. Sigrid. Willst du meine Frau werden? Das wollte ich dich fragen. Bitte entschuldige, dass ich damit so herausplatze."
"Du machst mir einen Heiratsantrag."
"Ja. Ja!"
"Udo –"
"Sigrid. Meine Sigrid."
"Aber du bist doch . . . ich meine . . . du hast –"
"Oh, das . . . glaub mir, ich meine es ernst. Es ist alles reiflich überlegt. Mein sehnlichster Wunsch. Mein Leben mit dir zu verbringen. Mit dir. Und alle . . . alle Hindernisse werden nicht mehr bestehen. Dafür ist gesorgt."
"Oh, Udo! Ich kann aber . . . bitte, du musst verzeihen –"
"Schon klar. Natürlich Das war jetzt ein Überfall. Du brauchst Zeit, um dich damit, also mit der –"
"Ja, ein bisschen Zeit."
"So viel du willst, Liebste."
Sie flüsterte seinen Namen und umschlang ihn. Sie küssten sich lange, sanken zurück auf die Matratze und schliefen miteinander, ohne weitere Irritationen.
 
Allen Verunsicherungen zum Trotz hatte Udo seit dem Anblick ihrer Frühstückskrümel in der Morgensonne keine Sekunde mehr gezweifelt: Sigrid war seine Rettung, mit Sigrid wollte er ein neues, sein richtiges Leben anfangen. Unendlich kostbar. Das war sie, das waren sie beide zusammen, das war die Chance, die das Schicksal ihm bot.
Was für ein Feingefühl und was für eine Herzenswärme diese junge Frau an den Tag legte! Nie würde er vergessen, wie sie, als er zum ersten Mal in Andeutungen von seinem Unglück sprach, seinen Kopf an ihre Brust zog, ihm die hohe Stirn streichelte und wisperte: "Mein Udo, mein Ärmster. Ich will dir helfen." Wenn er daran dachte, wurde ihm fast schwindelig. Dass es möglich war, einen Menschen zu finden, mit dem man sich so gut verstand, auch ohne viele Worte! Einerseits die Reinheit ihrer Seele, ihr fast kindliches Weltvertrauen, andererseits die Reife und Tiefe ihrer Empfindungen. "Sigrid, Geschenk des Himmels." Das hatte er in einer Konditorei in Reutlingen, wo man ihn nicht kannte, mit roter Zuckerschrift auf eine kleine Zitronentorte schnörkeln lassen, die er ihr zum zweimonatigen Jubiläum der ersten gemeinsamen Nacht schenkte.

Mit freundlicher Genehmigung des Kein & Aber Verlags
 

Autor

Michael Ebmeyer Foto: © Michael Ebmeyer Michael Ebmeyer, geboren 1973, lebt in Berlin. Er ist Autor mehrerer Romane und anderer Bücher und Übersetzer aus dem Spanischen, Englischen und Katalanischen. Als Texter, Sprecher und Gitarrist war er Mitglied der Literatur-Boygroup Fön. In den letzten Jahren war Bolivien ein Schwerpunkt seiner journalistischen Arbeit.
Mehr...
 
Top