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Autofreie Zonen in Montreal
Nachbarschaften für Menschen anstatt für Autos

Mont-Royal Avenue, eine der wichtigsten Geschäftsstraßen des Plateaus
Mont-Royal Avenue, eine der wichtigsten Geschäftsstraßen des Plateaus, wurde 2020 für mehrere Monate für den Verkehr gesperrt. Das Projekt sollte Unternehmen helfen, die mit Einschränkungen durch das Coronavirus zu kämpfen haben und war ein Erfolg. Es wird 2021 wiederholt. | Foto (Detail): © Goethe-Institut Montreal

Im Jahr 2009 war der Montrealer Stadtteil Plateau-Mont-Royal geprägt von viel Verkehr, Unfälle waren fast alltäglich. Der Bürgermeister des Stadtteils hatte andere Vorstellungen und setzte gegen erheblichen Widerstand ein radikales Verkehrsberuhigungskonzept durch.
 

Von Simon Van Vliet

An der Kreuzung von Laurier Avenue und Saint-Hubert Street in Montreal lässt sich nachvollziehen, wie stark Luc Ferrandez in seiner Amtszeit als Bürgermeister von Plateau-Mont-Royal das Stadtviertel geprägt hat. Heute befindet sich dort eine typische ruhige Straße mit harten und weichen Gestaltungselementen, einer begrünten Gehwegvorstreckung an einer Straßenecke und zwei farblich von der Fahrbahn abgetrennten, ganzjährig befahrbaren Radstreifen. Nur zehn Jahre zuvor lag hier eine viel befahrene Kreuzung, an der es häufig zu Unfällen kam.

Im Jahr 2008 galt sie als eine der gefährlichsten Kreuzungen in ganz Montreal, denn allein hier hatten sich im Jahr zuvor insgesamt 53 Unfälle ereignet. Dabei kam es Jahr für Jahr auch immer wieder zu Unfällen mit Schulkindern.

In den Jahren 2004 bis 2008 stellte Marie-Soleil Cloutier, die heute als Professorin am Institut national de recherche scientifique arbeitet, im Auftrag der Gesundheitsbehörde von Montreal die Verkehrsunfallstatistiken anhand von Karten dar. Diese Karten zeigten Hunderte von Unfällen im gesamten Stadtgebiet, darunter auch an vielen Kreuzungen auf dem Plateau, das täglich tausende Autos auf dem Weg in das und aus dem Montrealer Stadtzentrum passieren.

„Es brauchte einen langen Atem, um einen Wandel der Mentalitäten herbeizuführen“, berichtet sie, „weil es zu dieser Zeit kaum Verständnis dafür gab, dass wir es mit einem grundsätzlichen Problem zu tun hatten“, weder auf Seiten der Politik noch in der Verwaltung.

Luc Ferrandez war von 2009 bis 2019 Bürgermeister des Bezirks Plateau-Mont-Royal. Luc Ferrandez war von 2009 bis 2019 Bürgermeister des Bezirks Plateau-Mont-Royal. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag ein Jahrzehnt lang auf dem Bau von grüneren und sichereren Straßen und öffentlichen Räumen. | Foto (Detail): © Simon Van Vliet Luc Ferrandez verspürte bei seiner Amtsübernahme im Jahr 2009 nach eigenen Angaben dringenden Handlungsbedarf. Allerdings hatte er sich vor allem zum Ziel gesetzt, den durch den Autoverkehr vereinnahmten städtischen Raum für die Menschen zurückzugewinnen.

„Der Autoverkehr beherrschte einfach alles, auch den städtischen Raum“, erinnert er sich.

Sein Programm war einfach und radikal: Stadtviertel sollten ihren Bewohner*innen mehr Lebensqualität bieten und nicht nur von Pendler*innen passiert werden.

Das Plateau als Vorreiter

Als erste Maßnahme wandelte er ein zweispuriges Teilstück der Laurier Avenue über zehn Häuserblocks in eine Einbahnstraße um. Diese Umwidmung war die erste von vielen Veränderungen, die Ferrandez durchsetzte, um die Sicherheit auf den Straßen zu verbessern und den Durchgangsverkehr wieder auf die Hauptstraßen umzuleiten. Der Umbau zielte auf eine Verkehrsberuhigung ab und sollte mehr Raum für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen schaffern, sah aber auch eine ökologische Oberflächenentwässerung und Platz für Bäume, Büsche und Grünanlagen vor.

Die Stadtteilverwaltung legte Straßen still, die durch Parkanlagen verliefen, und änderte in mehreren Fällen die Fahrtrichtung, um den Verkehr umzuleiten.
Rue St-Denis, eine weitere wichtige Geschäftsstraße des Plateaus Rue St-Denis, eine weitere wichtige Geschäftsstraße des Plateaus, war früher eine autozentrierte, vier- bis sechsspurige Durchgangsstraße. Inzwischen wurden zwei Fahrspuren entfernt, um Platz für belastbare Fahrradspuren auf beiden Seiten der Straße zu schaffen. | Foto (Detail): © Simon Van Vliet „Sie gingen wie die Bulldozer vor“, sagt Marie Plourde, Bezirksstadträtin von Mile End und Vorsitzende des städtischen Verkehrsausschusses. „Das tägliche Leben der Menschen und insbesondere der Geschäftsinhaber*innen wurde völlig auf den Kopf gestellt“, berichtet sie. Plourde erinnert sich, dass ein „offener Krieg“ zwischen der lokalen Geschäftswelt und Ferrandez‘ Partei Projet Montréal entbrannt war, als sie sich damals seinem Team für die Wahlen 2013 anschloss.

Jean-François Rheault, Geschäftsführer des Interessenverbands für Radfahrer*innen Vélo Québec, kann sich noch gut an den Aufschrei erinnern, als Ferrandez etwa um das Jahr 2010 seine Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung und zur Reduzierung des Durchgangsverkehrs einleitete.

„Das Plateau galt als Vorreiter“, erläutert er. „Niemand sprach damals von nachhaltiger Mobilität. Es gab keinen integrierten Ansatz“, führt er weiter aus und stellt fest, dass einige einschneidende Veränderungen ganz offenbar ohne größere Planung oder Beratung vorgenommen wurden. Tatsächlich orientierte sich Ferrandez an den Leitlinien eines Plans für städtische Mobilität, der kurz vor seiner Amtsübernahme verabschiedet worden war und in dessen Mittelpunkt unter anderem eine Verbesserung der Umweltqualität stand.
Die Fahrradspur auf der Laurier Avenue ist zu einer der beliebtesten in Montreal geworden. Die Fahrradspur auf der Laurier Avenue ist zu einer der beliebtesten in Montreal geworden. Seit 2011 sind über 5,8 Millionen Radfahrer*innen vorbeigerollt, so die Statistik, die mit einem interaktiven Zähler erstellt wurde. | Foto (Detail): © Simon Van Vliet Nach Angaben von Marie-Soleil Cloutier war es vor allem dieser Aspekt, auf den sich Ferrandez während seiner ersten Kampagne konzentrierte. „Inhaltlich drehte sich sein Wahlkampf nicht einmal um Straßenverkehrssicherheit, sondern vor allem um die Lebensqualität in den Stadtvierteln“, erinnert sie sich.

Ein radikaler Vorstoß

Während sein Programm zur Verkehrsberuhigung – und der Widerstand, den es hervorrief – in seiner ersten Amtszeit die Schlagzeilen beherrschten, führte Fernandez auch Baumpflanz-Aktionen und verstärkte Initiativen für den Ausbau von Parkanlagen durch, die bei Bedarf auch die Stilllegung von Straßen beinhalteten. Er ließ sich nicht beirren und ist noch immer von seinem Vorgehen überzeugt. „Man kann niemals und unter keinen Umständen auf 100 Prozent Unterstützung zählen. Das funktioniert nicht. Ein realistisches Ziel sind 50 Prozent“, so sein Rat.

Ungeachtet des umfassenden Widerstands und der lautstarken Proteste gegen sein Vorgehen konnte er sich eine zweite und eine dritte Amtszeit sichern und seine Mehrheit bei jeder Wahl ausbauen. Dies ermutigte ihn, sein Vorhaben noch weiter voranzutreiben: Er ließ weitere Straßen schließen und Hunderte von begrünten Gehwegvorstreckungen sowie größere Gehwege und Radstreifen anlegen.
 

Als Projet Montréal bei den Wahlen 2017 als stärkste Kraft in den Stadtrat von Montreal einzog, übernahm Ferrandez die Leitung der Behörde für Umwelt, nachhaltige Entwicklung, Parks und Grünanlagen. Ausgehend vom Engagement der Bürgermeisterin Valérie Plante im Kampf gegen den Klimawandel und die Umweltzerstörung legte er einen Oath of the Gardener (Eid des Gärtners) ab, in dem er schwor, die Natur vor alles andere, auch vor den Durchgangsverkehr und die Parkplatzproblematik zu stellen. Zwei Jahre darauf kehrte er der Politik den Rücken mit dem Hinweis, die finanziellen und politischen Prioritäten der Regierung seien bei weitem nicht radikal genug, um die drohende Klimakrise zu bewältigen.

Ironischerweise wurde die Stadtverwaltung durch eine weitere – von der Corona-Pandemie ausgelöste – globale Krise zur Durchführung einiger einschneidender Maßnahmen bewegt, von denen Ferrandez nur hätte träumen können. Und in diesem Fall wurde sie dabei sogar aktiv von der lokalen Geschäftswelt unterstützt.

Kein Weg zurück für Montreal

Von Mitte Juni bis Ende September 2020 schloss die Stadt ein zwei Kilometer langes Teilstück einer der Hauptgeschäftsstraßen auf dem Plateau, der Avenue Mont-Royal, für den Kraftfahrzeugverkehr. „Die Verwaltungsbeamten handelten ausgesprochen schnell“, so Jean-François Rheault. Ganz begeistert berichtet er vom innovativen, zügigen und flexiblen Vorgehen der Verwaltung und betont, dass es weniger als acht Wochen von der Planung über den Entwurf bis hin zur Umsetzung von Projekten brauchte, deren Entwicklung normalerweise mehrere Monate oder Jahre in Anspruch nahm.

Marie-Soleil Cloutier spricht in diesem Zusammenhang von einem Höhepunkt der jahrelangen Experimente im Bereich des taktischen Urbanismus (tactical urbanism). Der damit verbundene „Planning-by-doing“-Ansatz hat das Plateau im Verlauf eines Jahrzehnts nachhaltig geprägt. „Damit wurde wirklich für alle sichtbar, dass derartige Maßnahmen möglich sind“, sagt sie.

Gemäß einem aktuellen Bericht konnten die Geschäfte an Straßen, die für den Autoverkehr geschlossen waren, bessere Umsätze erzielen als an Straßen, die weiterhin für den Verkehr geöffnet blieben. Dies veranlasste die Stadtverwaltung dazu, ein Programm in Höhe von vier Millionen Dollar in die Wege zu leiten, um diese Verkehrsstrategie im Jahr 2021 fortzusetzen und auszuweiten.
Nahezu 2.000 Personen nutzen den Radweg in der Laurier Avenue im Jahresdurchschnitt täglich. Nahezu 2.000 Personen nutzen den Radweg in der Laurier Avenue im Jahresdurchschnitt täglich, zwischen Frühjahr und Herbst erreicht die Zahl der täglichen Nutzer*innen Spitzenwerte im Bereich von 5.000 Menschen. | Foto (Detail): © Simon Van Vliet Im vergangenen Herbst löste die Regierung von Valérie Plante zudem ein Wahlversprechen von 2017 ein und richtete ein umfangreiches Radwegenetz ein, das zum Teil entlang einer weiteren Hauptgeschäftsstraße auf dem Plateau, der Rue Saint-Denis, verläuft.

Seit ihrer Einweihung im November wurde die neue Infrastruktur von mindestens 87.000 Radfahrer*innen genutzt. Sie hat sich zu einer der am stärksten frequentierten Radstrecken in Montreal entwickelt. Doch auch diese Umgestaltung vollzog sich wie die der Laurier Avenue zehn Jahre zuvor nicht ohne Widerstände. Nichtsdestotrotz lässt sich mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass der Umbau der Rue Saint-Denis in weiteren zehn Jahren als Paradebeispiel für den Übergang von einer auf den Autoverkehr ausgerichteten Stadtplanung hin zu einem Konzept der sanften Mobilität gelten wird. Somit könnte Montreal als Modell für andere vom Autoverkehr geprägte Großstädte dienen. Hier hat sich gezeigt, dass es sich trotz eines anfänglichen Widerstands auszahlen kann, an zukunftsweisenden Entwicklungsstrategien festzuhalten. Nach Ansicht von Plourde ist eines ganz sicher: „Es gibt keinen Weg zurück.“

Dieser Artikel ist für „Ecologues“ produziert worden, das Webdossier des Goethe-Instituts zu den Herausforderungen ökologischer Problemstellungen. 
 

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Ecologues ist ein Kofferwort aus „Ecology“ und „Dialogues”. Das verweist bereits auf den inhaltlichen und redaktionellen Ansatz des Magazins des Goethe-Instituts: globale Debatten über die Herausforderungen, vor die uns der Klimawandel stellt. Was kann, was muss jetzt getan werden? Welche Initiativen gibt es in verschiedenen Ländern auf der Welt, die stellvertretend für einen komplexen Lösungsansatz stehen könnten? Wie schaffen wir eine klimagerechte Welt, in der wir alle in Zukunft gut leben können? Das sind die Fragen, denen sich Ecologues seit Oktober 2020 widmet, frei nach dem Untertitel des Magazins: „Wie wir das Zeitalter des Menschen überleben“. Entdecken Sie das Dossier hier:

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