Tanzresidenz in Potsdam
NODE von Amélie und Nelly-Ève Rajotte

Amélie Rajotte - Chateau
© Nelly-Ève Rajotte

Die Choreographin und moderne Tänzerin Amélie Rajotte und die Video- und Tonkünstlerin Nelly-Ève Rajotte sind die neusten Residentinnen des Programms in der fabrik Potsdam. ​Im Rahmen dieses jährlichen Austauschprogramms werden kanadische und deutsche Choreographen*innen und Künstler*innen aus verwandten Bereichen eingeladen, mehrere Wochen im jeweils anderen Land zu arbeiten.

Während ihrer Residenz in Potsdam haben die Schwestern Rajotte ein neues Projekt mit dem Namen NODE ins Leben gerufen. Es ist eine Konzeptualisierung, die das künstlerische Medium der beiden Schwestern, Tanz und digitale Kunst, umfasst.
 
Philip Szporer hat nach ihrer Rückkehr nach Montreal mit Amélie und Nelly-Ève Rajotte gesprochen.
 
 
Amélie und Nelly-Ève Rajotte, warum war diese Residenz in Potsdam wichtig für Sie?
 
Amélie Rajotte Amélie Rajotte | © Julie Artacho Amélie : Ich hatte gerade eine Magisterarbeit über Tanz abgeschlossen, eine Kombination aus Forschungsarbeit und kreativem Werk, in die ich drei Jahre lang meine ganze Energie gesteckt hatte. Um eine neue Forschungsarbeit zu beginnen, brauchte ich ein neues Umfeld; und das implizierte ein weites Entfernen von meiner gewohnten Umgebung. Es war außerdem eine Gelegenheit, endlich einmal mit meiner Schwester zusammenzuarbeiten. NODE ist ein Projekt, das wir seit langem machen wollten: es war der richtige Moment für uns beide und wir waren bereit dafür.

Nelly-Ève : Die Residenz hat es mir ermöglicht, Abstand zu meinem künstlerischen Schaffen zu bekommen, ihm neuen Schwung zu verleihen und zugleich mit einer Choreographin zusammenzuarbeiten. Es war maßgeblich für das Projekt, dass ich mich aus meinem kreativen Umfeld entferne, denn schließlich ging es uns darum, uns mit dem Verlust der physischen und räumlichen Bezugspunkte zu beschäftigen.
 
Amélie, hat der Ort Potsdam eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Projekts gespielt?
 
Amélie : Ja, Potsdam und einige andere Orte. Vor der Abreise wussten wir, welche Thematik und welche Medien wir angehen wollten, aber der Rest ergab sich durch Begegnungen und Gespräche und die Orte, die wir besuchten.

Der überwiegende Teil der Videoaufnahmen, die Nelly-Ève für dieses Projekt verwendet hat, wurden in Potsdam und auf der Insel Rügen bei zahlreichen Ausflügen aufgenommen. Zur Inspiration haben wir auch Museen besucht und waren in Potsdam mit dem Fahrrad unterwegs. Wir wurden von den Schlössern, dem Licht und den Farben sowie von der deutschen Romantik inspiriert, unter anderem von den Gemälden Caspar David Friedrichs. Der Maler platziert den menschlichen Körper in die ungeheure, erhabene Größe der Landschaft. Das Erhabene wurde zum Antriebsthema bei unserer Erkundung des Verlusts von Bezugspunkten. Dies war umso passender angesichts der Tatsache, dass sich Nelly-Ève in ihrem künstlerischen Schaffen bereits mit Landschaft befasst hat und ich mich in meinem Werk für die Auswirkungen von Emotionen und den Zustand von Körpern interessiert habe. Und schließlich hat die fabrik Potsdam auch eine Rolle gespielt, denn die Residenz dort erlaubte uns, uns völlig auf Forschung und kreatives Arbeiten zu konzentrieren.

Amélie und Nelly-Ève: Wie haben sich diese Ideen für die Zusammenarbeit für jede von Ihnen entwickelt?

 
Nelly-Ève Rajotte Nelly-Ève Rajotte | © Christian Barré Amélie et Nelly-Eve :Die Idee besteht darin, dass sich unsere jeweiligen Medien nicht parallel entwickeln, sondern jeweils im anderen Medium widerhallen und aufeinander antworten, um auf diese Weise den oftmals als „aufgesetzt“ wahrgenommenen Effekt von Videos in einem künstlerischen Werk zu vermeiden. Wir wollten unsere Ansätze zusammenbringen, ohne dem einen oder dem anderen Medium mehr Wichtigkeit zu verleihen. Doch die Idee dahinter ist natürlich auch, etwas zu schaffen, was uns jeweils ähnlich ist.
 
Aus diesem Grund haben wir weite Passagen improvisiert und darin Tanz, Musik und Video integriert. Wir wollten zunächst auch die Methode des Mapping (bei der Bilder zwei- oder dreidimensional auf Objekte projiziert werden) auf geometrische Formen anwenden, stellten bei unseren Nachforschungen dann jedoch schnell fest, dass runde Formen aussagekräftiger sind, um dem Werk einen gewissen femininen Charakter und einen traumweltartigen Aspekt zu verleihen.
 
Unsere Forschung hat uns dann in Richtung monumentaler aufblasbarer Formen geführt, die in dem kurzen Zeitraum allerdings schwer zu finden waren. Deswegen haben wir mit zwei riesigen Ballons gearbeitet, die uns „maßstabgetreue“ Tests erlaubten. Dies hat uns ermöglicht, mit Umfängen, Relief und Perspektiven zu arbeiten und zu erkennen, wie sich Licht und Bilder an Formen anpassen können.
 
Amélie, erzählen Sie von Ihren Ideen für die „Körperarchive“.
 
Amélie : Alles, was unsere Körper gestaltet, fasziniert mich – die Fähigkeit des menschlichen Körpers Informationen aufzunehmen, zu speichern und sich anzueignen. Wenn ich eine Forschungsarbeit beginne, erstelle ich als erstes ein Archiv der Bilder (Gemälde, Fotos, Filmausschnitte) mit Positionen, Handlungen und Gesten, die ich gesehen, selbst erfahren oder gesammelt habe, die ich liebe und von denen ich besessen bin. Das ist das Grundmaterial meiner Arbeit. Als nächstes untersuche ich, wie ich diese Bilder, Formen und Einstellungen zum Vorschein bringe, dekonstruiere und aus ihrem Kontext herausholen kann, d.h. ich erkunde, welche Eigenschaften und welche körperlichen Zustände sich nutzen lassen, um diese körperlichen Archive weiterzugeben und ihnen neue Bedeutung zu verleihen. Dies ist eine Methode, um sie aus ihrem althergebrachten Sinn zu befreien und die Bedeutung von Verhaltensprozessen zu entschleiern. Ich liebe es, Bezugspunkte und wichtige Rahmenparameter an andere Orte zu verlagern.
 
Nelly-Ève, können Sie Ihre Nachforschungen im Bereich körperlicher Empfindungen und psychologischer Zustände erläutern - wie sie zu einem Zustand der Aufnahmefähigkeit zusammenlaufen?

Nelly-Ève : In meinem künstlerischen Schaffen habe ich stets an der sinnlichen Destabilisierung auf der Grundlage des Prinzips der Psychoakustik und an der visuellen Verzerrung gearbeitet. Die Idee dahinter ist, ganz besonders bei diesem Projekt, beim Betrachter einen Verlust der sinnlichen Bezugspunkte zu erzeugen. So habe ich Klangkompositionen auf der Basis langer Tonschleifen erarbeitet, die sich sammeln und dann langsam verschwinden. Die Videoaufnahmen habe ich auf ähnliche Art bearbeitet und einige pulsierende Effekte in den Bildern wurden in Echtzeit mithilfe verschiedener Tonfrequenzen erzeugt. Die niedrigen Frequenzen beziehen sich direkt auf die Empfindungen des Körpers bei der Wahrnehmung der mehr destabilisierenden hohen Frequenzen. Die Komposition steigert sich dramatisch bis zu dem Moment, wo das Bild zerreißt. Somit erfolgt eine Steigerung des ehrfurchtsgebietenden Landschaftsbilds beinahe bis hin zur Abstraktion. Der Verlust der Bezugspunkte passiert somit auf zwei Ebenen, bei der Tänzerin und beim Betrachter.
 
Und die letzte Frage: Wie hat der Aufenthalt in Deutschland sich auf Sie ausgewirkt? Hat er sie beeinflusst, künstlerisch bereichert oder verändert? Wie beschreiben Sie im Rückblick Ihre Erfahrungen?
 
Amélie : Ja, die Zeit in Deutschland hat mich beeinflusst und bereichert und mir auch erlaubt, erneut eine Verbindung zu mir selbst herzustellen und Bilanz zu ziehen: Was habe ich als Künstlerin erreicht und was will ich als nächstes? Dafür Zeit zu haben ist eine großartige Chance. Ich habe auch viel dadurch gelernt, mit meiner Schwester in einem Arbeitsumfeld zusammenzutreffen. Es war stimulierend, eine neue Perspektive von Körper und Raum zu bekommen. Wir hatten überdies die Gelegenheit, höchst inspirierende Künstler kennenzulernen und mit einigen von ihnen aufzutreten. Ich hoffe im Übrigen, dass meine künstlerische Laufbahn und dieses neue kreative Projekt mich erneut nach Deutschland führen werden. In der Zwischenzeit konnten wir die Grundlage für dieses in der Entwicklung befindliche Werk legen und die Arbeit am Stück bis zur Schaffensphase und anschließenden Produktion hier Montreal voranbringen.
 
Nelly-Ève : Diese Erfahrung hat mich persönlich in meinem künstlerischen Schaffen bereichert. Ich glaube auch, dass sich mein Schaffen an einem Punkt befand, an dem ich das Bedürfnis hatte, in einem anderen Schaffensumfeld zu sein, aus meinem Alltagsdasein herauszugehen, mich komplett auf das künstlerische Schaffen zu konzentrieren und zu lernen, an einem Gesamtkunstwerk mit Körpern zu arbeiten. Meine Kunst mit der einer anderen Künstlerin zu verbinden war höchst stimulierend. Die deutschen Maler der Romantik haben mich auch stark inspiriert und in meinem künstlerischen Schaffen bestärkt. Die Residenz hat uns viele wichtige Begegnungen ermöglicht für eine künstlerische Recherche, wodurch sich neue kreative Wege ergeben.