Über den Feminismus in Quebec
Für die Frauen - und alle anderen

Ausstellung „Hunger“ von Jillian McDonald, Dezember 2017
Ausstellung Hungervon Jillian McDonald, Dezember 2017 | © La Centrale

Um den Feminismus in Quebec zu begreifen und in einem Artikel zu porträtieren, muss man sich mehrere Fragen stellen, wie z.B. „Wo überhaupt beginnen?“ Da Kunst und Literatur meine persönlichen und beruflichen Fundamente darstellen, orientieren sich meine Gedanken automatisch an den künstlerischen Sphären, die mich umgeben. Daher schlage ich eine Übersicht über den Feminismus vor, ähnlich einer allgemeinen Einführung; diese ist geprägt von meinem individuellen Standpunkt und wird gespeist von meinen Erfahrungen und meinem sozialen Umfeld.

Im Alltag findet sich Feminismus überall und nirgendwo zugleich. Auf breiter Ebene hat er in den vergangenen Jahren allmählich Wurzeln geschlagen. Die gegenwärtige Situation beruht, neben anderen Faktoren, auf der Vergangenheit. Der Kampf einiger Feministinnen in der Vergangenheit hallt noch heute wider. Dieser Kampf mündet nach und nach in Gleichberechtigung und den Respekt von Mann und Frau voreinander. Die historischen Meilensteine des Feminismus verleihen dem zeitgenössischen Kontext eine gewisse Perspektive. Im Oktober erhielt die Historikerin und Geisteswissenschaftlerin Micheline Dumont die Auszeichnung Prix du gouverneur général en commémoration de l'affaire personne/Governor General’s Award in Commemoration of the Person’s Case (Preis des Generalgouverneurs für die Anstrengungen um die Gleichstellung von Frauen). Diese Auszeichnung wird für das Engagement von Kanadierinnen für die Gleichberechtigung der Geschlechter verliehen. Für ein ähnliches Ereignis muss man bis ins Jahr 1929 zurückgehen, als fünf Feministinnen (Emily Murphy, Nellie McClung, Irene Parlby, Louise McKinney und Henrietta Muir Edwards) die Anerkennung von Frauen als vollständige gesetzliche Personen im Sinne der kanadischen Verfassung erkämpften. Die für Frauenbelange sehr engagierte Micheline Dumont war auf die Geschichte der Frauen in Quebec spezialisiert. 2003 erschien ihre in Zusammenarbeit mit der Autorin Louise Toupin verfasste Anthologie La pensée féministe au Québec: anthologie, 1900-1985 (Feministisches Gedankengut in Quebec, 1900-1985).

Im Schatten der Wörter

Wir tendieren dazu, zu vergessen, dass den Frauen in Quebec bestimmte Rechte erst vor einigen Jahrzehnten zugebilligt wurden. Eines dieser Rechte ist das Wahlrecht. 1920 erhielten Kanadierinnen landesweit das Wahlrecht als Belohnung für ihre Teilnahme am Ersten Weltkrieg; 1922 besaßen die Frauen in allen kanadischen Provinzen das Wahlrecht – mit Ausnahme von Quebec. 1921 formierte sich das Comité provincial du suffrage féminin (Provinzkomitee für Frauenwahlrecht), das von Marie Gérin-Lajoie und Anna Lyman angeführt wurde. Im Februar 1922 zogen 400 Frauen vor das Parlament der Provinz Quebec, um ihr Wahlrecht einzufordern. Thérèse Casgrain, eine der Hauptakteurinnen in diesem Kampf, erweckt das Komitee im Jahr 1929 unter dem Namen Ligue des droits de la femme (Liga für Frauenrechte) zu neuem Leben. Dank ihrer Hartnäckigkeit erhielten die Frauen in Quebec schließlich im Jahr 1940 das Wahlrecht.
 
Das Aufblühen der Frauen in Quebec und ihre Emanzipation verdanken wir Feministinnen und zahlreichen Künstlerinnen, Vordenkerinnen, kulturellen Organisationen und anderen. Eine nennenswerte Autorin ist Madeleine Gagnon, die sich in ihrem Werk mit dem menschlichen Dasein beschäftigt. Sie schreibt Gedichte, Romane und Essays und hat seit 1968 insgesamt 40 Bücher veröffentlicht. Gagnon wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter im Jahr 2002 mit dem Prix Athanase-David für ihr Gesamtwerk. 2007 erschien À l'ombre des mots. Poèmes 1964-2006 (Im Schatten der Wörter. Gedichte 1964-2009) eine Retrospektive ihrer Dichtung. Monique Durand, eine Journalistin, die Gagnon mit dem Verfassen des Buches Les femmes et la guerre (Die Frauen und der Krieg) beauftragte, erklärt, was sie bei der Autorin anspricht: „Ich habe Madeleine Gagnon ausgewählt wegen ihrer Erzählweise und der Art, wie sie über Leben, Tod, Weiblichkeit und Männlichkeit denkt. Sie ist jemand, der über Komplexität schreiben kann, über die große Komplexität der Welt und der Gefühle.“ (aus: Gagnon, Madeleine. 2000. Les femmes et la guerre, Montreal, vlb éditeur, S. 14.). In den Jahren 1999 und 2000 reisten die beiden Frauen gemeinsam auf den Balkan und in den Nahen Osten und von dort weiter nach Südostasien. Sie interviewten Frauen, deren Leben sich in Kriegsgebieten abspielt. Aus diesen Begegnungen entstanden Zeitzeugnisse, die großes Leiden widerspiegeln und die zugleich wertvolle Lektionen in Mut und Menschlichkeit sind.

oft gewagt, aber immer notwendig

Marie-Louise Arsenault, Noémie Désilets-Courteau et al Illustratrice Sarah Marcotte-Boislard, Abécédaire du féminisme, Montréal, Éditions Somme Toute, 2016, 232 pages Abécédaire du féminisme (ABC des Feminismus) | © Éditions Somme Toute Ebenfalls aus dem literarischen Bereich ist l’Abécédaire du féminisme (ABC des Feminismus) zu nennen, ein unumgängliches Werk über Feminismus aus dem Jahr 2016. Der Titel des Buches wurde von einer Ausstrahlung der Literatursendung Plus on est de fous, plus on lit! (Je verrückter wir sind, desto mehr lesen wir!) von Radio-Canada inspiriert und ist ein vollständiges Lexikon der Frauenbewegung. Das Buch, illustriert von Sarah Marcotte-Boislard und mit Texten von Noémie Désilets-Courteau, liefert ein Panorama der zentralen Themen des Feminismus (Gleichberechtigung, Mutterschaft, Geschlechter, Sexualität etc.) und zugleich Informationen über die Pionierinnen und Feministinnen in den verschiedenen Stadien der Frauenbewegung.
 
In Quebec gibt es eine Vielzahl engagierter literarischer Akteure. Ein wichtiges Beispiel ist zweifelsohne der Verlag Les Éditions du Remue-ménage, der seine Aufgabe darin sieht, „das Nachdenken über die Situation der Frauen anzuregen und innovative Themen und Ansätze zu erkunden, sowie neue Autoren bekannt zu machen und die Arbeit etablierter Autoren zu unterstützen. Die von uns veröffentlichten Bücher sind oft gewagt, aber immer notwendig". (aus: Webseite von Les Éditions du Remue-ménage, 3. März 2018.) Bemerkenswert ist die im Jahr 2013 erschienene Anthologie, Les femmes changent la lutte. Au cœur du printemps Sous la direction de Marie-Eve Surprenant et Mylène Bigaouette, Les femmes changent la lutte. Au cœur du printemps québécois, Montréal, Les Éditions du Remue-ménage, 2013 Les femmes changent la lutte (Frauen verändern den Kampf) | © Les Éditions du Remue-ménage québécois (Frauen verändern den Kampf. Im Zentrum des Frühlings von Quebec) aus zuvor veröffentlichten Werken des Verlags. Die Feministin, Aktivistin Karine Philibert, die als Krankenschwester in der Psychiatrie arbeitet, ist Co-Autorin des Artikels „Femmes au front: les infirmières dans la lutte“ („Frauen an der Front: Die Krankenschwestern im Kampf“). Philibert, ein Mitglied des Krankenschwestern-Kollektivs gegen Erhöhung der Studiengebühren, legt Zeugnis ab über ihre Teilnahme an den Bürgerprotesten und über die Ereignisse rund um den Studentenstreik im Frühjahr 2012. Sie beschreibt die Schwierigkeiten, denen sie in einer Atmosphäre von sozialer, politischer und polizeilicher Unterdrückung ausgesetzt war, sowie das harsche Urteil, das über sie und andere politisch engagierte Krankenschwestern gefällt wurde. So bekundeten einige Vertreter des Gesundheitswesens sogar, dass Krankenpflege apolitisch sein sollte.
 
Das Bild der politischen und feministischen Landschaft Quebecs wäre unvollständig ohne die Nennung der Kunst autochthoner Frauen, sowohl Métis als auch First Nations. Sie arbeiten hart daran, Wertschätzung für ihre Kultur zu erhalten und diese bekannter zu machen, um das ererbte Kulturgut ins Licht zu rücken, welches lange Zeit unterdrückt wurde. Ich möchte hier zwei einflussreiche Frauen hervorheben. Lindsay Nixon, vom Stamm der Cree-Métis-Saulteaux, studiert Kunstgeschichte an der Concordia Universität und arbeitet als Kuratorin und Autorin. Seit 2017 ist sie Redakteurin für autochthone Themen bei der Zeitschrift Canadian Art; zu ihren Ansätzen gehört das Hinterfragen und die Kritik der Themen, die autochthone Kunst behandeln. Nixon ist eine der Gründerinnen des unabhängigen Verlags Critical Sass Press. Die Filmemacherin Alanis Obomsawin vom Stamm der Abenaki dreht seit den 1960ern Dokumentarfilme. Ihr 50. Film, Le chemin de la guérison/Our People Will Be Healed (Unser Volk wird geheilt) kam 2017 heraus und zeigt die Geschichte, Sprache und Kultur der autochthonen Bevölkerung in einer Cree-Gemeinschaft in Manitoba.
 
Darüber hinaus gibt es Foren, wo sich Menschen versammeln und wo feministische Werte und Themen vermittelt werden. Die Buchhandlung Euguelionne versteht sich also ein solcher einladender Ort. Sie ist spezialisiert auf Frauenliteratur und feministische Werke (und führt darüber hinausgehend auch queere, lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, intersexuelle, asexuelle, non-binäre, two-spirited, anti-rassistische, antikoloniale u.a. Titel) und organisiert AutorInnengespräche, Diskussionen, Buchvorstellungen und Round Table-Gespräche zu Themen, welche die verschiedenen Gruppen betreffen.
 
Selbstverwaltete Künstlerzentren entstanden in Montreal in den 1970ern und 1990ern, getragen von der Idee, feministischen Aktivitäten und anderen Genre-Aktivitäten einen Platz in der von Männern dominierten Kunstwelt zu geben. Die im Mai 1974 gegründete La Centrale galerie Powerhouse widmet sich der Verbreitung und Entwicklung multidisziplinärer feministischer Aktivitäten und unterstützt Projekte und Künstlerinnen, die in den führenden Kulturinstitutionen wenig sichtbar sind. Ihre Programme geben Feministinnen eine Stimme und die Möglichkeit zum Dialog und ist ein Vehikel für Ideen, die von Intersektionalität bis zu sozialer Gerechtigkeit reichen.

Unlock: Expériences genrées des technologies mit Cornelia Sollfrank Unlock: Expériences genrées des technologies (Genderisierte Erfahrungen) mit Cornelia Sollfrank im Studio XX | © Martine Frossard Im Bereich multimedialer Kunst bietet Studio XX, gegründet 1996 von der Kommunikationsprofessorin Kim Sawchuck, der Filmemacherin Patricia Kearns, der Tonkünstlerin Kathy Kennedy und der Cybernet-Künstlerin Sheryl Hamilton, ein für alle offenes Forum mit Ateliers, Ausstellungen und Aktivitäten. Sie werfen einen engagierten und kritischen Blick auf künstlerische Ausdrucksweisen von Künstlerinnen, die sich als Frauen, transgender oder DissidentInnen identifizieren. Von 2004 bis 2015 hat Studio XX auch 32 Ausgaben der Zeitschrift .dpi für feministische Kunst und digitale Kompetenz herausgebracht. Die Zeitschrift verstand sich als Plattform für kreativen kritischen und sozial engagierten Austausch über Feminismus und Technologie.
 
Feminismus in Quebec heute ist das Ergebnis langer Bemühungen und ist weiterhin in Arbeit. Es gibt noch viel zu tun, bis echte Gleichberechtigung erreicht ist. Um das Erreichte zu bewahren und zu mehr Gerechtigkeit zu gelangen, ist es wünschenswert, dass dynamische Aktivitäten rund um den Feminismus gefördert werden. Bildung, Forschung, Solidarität und der Wille zum Teilen sind allesamt Schlüssel zum Erfolg.