David Bezmozgis über George Grosz
„Ein kleines Ja und ein großes Nein” von George Grosz

George Grosz Berlin–New York - von R. Jentsch, E. Crispolti, P. Dagen; Skira, 2008
George Grosz Berlin–New York - von R. Jentsch, E. Crispolti, P. Dagen; Skira, 2008

Letztes Jahr habe ich Deutschland zum ersten Mal besucht. Es war Ende Februar. Ich bin in München gelandet und dann mit dem Zug nach Köln und Berlin gefahren.
Der erste Deutschlandbesuch für einen Juden ist nichts Unbedeutendes – auch heute noch. Er ist belastet von Vor-
ahnungen, Neurosen und einer Art verbitterter, betrübter Entrüstung. Ich war vor diesen Gefühlen nicht gefeit, wollte aber nicht, dass sie bestimmen, wie ich dieses Land erleben würde. Auf vieles war ich neugierig und viel wollte ich sehen. Die Geschichte mischt die Karten. Das Blatt, das man erhält, ist unberechenbar. Ein Beispiel: Dieselben russischen Juden, die vor Hitler geflohen waren und in der Roten Armee gedient hatten, nannten nun Deutschland ihre Heimat. Mein Patenonkel und seine als Zahnärztin tätige Frau hatten sich in ein nettes Reihenhaus in einem Vorort von Köln zurückgezogen. Der Neffe meiner Mutter war früher KPdSU-Mitglied. Sein Vater war an der Ostfront gestorben und sein Stiefvater war Kommissar im NKWD gewesen. Jetzt lebte er mit seiner Frau in einer hübschen Zweizimmerwohnung in Berlin. Sie genossen es, mit dem Fahrrad durch den Tiergarten zu fahren, und besuchten regelmäßig Galerien, Museen und allerlei Kulturveranstaltungen. Während der drei Tage, die ich in der Stadt verbrachte, waren sie meine unermüdlichen Berlin-Führer. Grisha und Doba Vinogradov. Zwei zierliche, russisch-jüdische Rentner mit 47 Ehejahren auf dem Buckel, die sich stritten und widersprachen vom Potsdamer Platz bis zum Schloss Charlottenburg – auch das war also Deutschland.

Einer der Orte in Berlin, den ich auf jeden Fall besuchen wollte, war die Neue Nationalgalerie. In ihrer Dauerausstellung sind viele Werke von Künstlern aus der Weimarer Zeit zu sehen. Wie viele Menschen bin auch ich von dieser Epoche mit ihrer Mischung aus Idealismus, Dekadenz und ahnungsschwerem Sinn für das bevorstehende Verderben fasziniert. Ich hatte diese eigentümliche Existenz im Werk von Max Beckmann repräsentiert gesehen und ging in die Neue Nationalgalerie, um die Bilder dieses von mir bewunderten Künstlers im Original zu erleben. Neben Beckmann sah ich dann auch die wundervoll bissig raffinierten Werke von Christian Schad, Otto Dix, Emile Nolde und George Grosz. Einige von ihnen wie Dix und Grosz waren mir flüchtig bekannt, anderen wie Schad und Nolde war ich noch nicht begegnet. Ich verließ die Nationalgalerie und fragte mich, was wohl aus ihnen während der Nazi-Zeit geworden war.

Wieder Zuhause recherchierte ich ein wenig und fand heraus, dass George Grosz, dessen Bild Die Stützen der Gesellschaft mich stark beeindruckt hatte, im Jahr 1946 eine Biographie veröffentlicht hatte. Ihr Titel: Ein kleines Ja und ein großes Nein. Grosz hatte sie in den USA geschrieben, wo er von 1932 bis 1959 gelebt hatte. Sie gehören zu den besten Memoiren, die ich je gelesen habe. Sie enthalten keine Verteidigung, versuchen keine Rechnung zu begleichen oder Entscheidungen zu rechtfertigen. Stattdessen lesen sie sich einfach wie ausgezeichnete Memoiren. Sie sind die Darstellung eines Mannes, der über sein Leben nachdenkt und es dabei so sonderbar, rätselhaft und kurios findet wie der Leser selbst.

Grosz ist als politischer Künstler bekannt und das Buch spiegelt diese beiden, eng miteinander verflochtenen Aspekte seines Lebens: Politik und Kunst. In politischer Hinsicht gab er sich keiner Illusion hin – weder in Bezug auf edle Herrscher noch auf unterprivilegierte Massen.

„Meine Beobachtungsgabe“, schrieb Grosz, bestätige ihm immer wieder, „dass die Masse der Menschen ein Sauhaufen ist, eine lenkbare Herde von Kälbern, die sich ihre Metzger zufrieden selber wählen.”

Bei einem Abendessen mit Thomas Mann und dessen Frau, äußerte Grosz die damals unpopuläre Meinung, Hitler „schien mir – das sprach ich offen aus – der Menschen würdig, die sich ihm erwählt“. Er war auch der Ansicht, dass Hitler nicht sechs Monate an der Macht bleiben würde, wie viele damals glaubten, sondern eher sechs Jahre. Grosz zitiert folgende Erwiderung von Frau Mann:

„’Pfui, Herr Grosz, Sie sind ja ein ganz ekelhafter Mensch, wenn Sie sich das überhaupt vorstellen können!’ Dabei griff sie, wie um ihre Worte zu bekräftigen, in der Lebhaftigkeit der Rede nach meinem Arm, und mit Schrecken sah ich, dass ihre Nägel ganz spitz geworden waren, wie die einer Katze.“

Auch als Künstler war Grosz Pragmatiker. Nachdem er in Deutschland und darüber hinaus berühmt geworden war, fand er es trotzdem nicht einfach, sich in den USA zurechtzufinden. Er arbeitete freiberuflich für einige Zeitschriften. Er unterrichtete Kunst. Eine Zeit lang hat er sogar eine eigene kleine Kunstschule betrieben. Um Studenten anzuwerben, hat er Annoncen wie diese geschrieben: „’Cezanne wusste, wie man aus nichts einen Apfel macht. Auch DU kannst das lernen!’ “ (Welcher Künstler hat nicht in Momenten größter Not auf derartige Annoncen zurückgreifen müssen?)

Grosz dringt aus seinen Memoiren als intelligenter, prinzipientreuer und charmanter Mensch hervor. Er kommt ohne Getue und Selbstverherrlichung aus, obwohl er turbulente Zeiten durchlebt und – verglichen mit vielen seiner Zeitgenossen – mit Mut und Überzeugung gehandelt hat.

Über sich selbst schrieb er:

„ … Ich hatte wenigstens den Mut, das auszusprechen, was so viele dachten. Es war wohl mehr Verrücktheit als Mut. Was ich sah, erfüllte mich mit Abscheu und Menschenverachtung. Alle um mich her hatten Angst – ich hatte auch Angst, aber nicht davor, mich gegen diese Angst zu wehren. Ich könnte Seiten über dieses ewige, oft behandelte Thema schreiben, aber alles, was ich dazu noch zu sagen hätte, steht schon in meinen Zeichnungen.“


David Bezmozgis © David Franco David Bezmozgis © David Franco David Bezmozgis,
Toronto