Gedicht
Vier Variationen auf Einwohnerschaft

Spazieren in Halifax
Spazieren in Halifax | Foto (Ausschnitt): Avard Woolaver/avardwoolaver.wordpress.com

Zwischen Traum und Selbstreflexion, ein Gedicht von Sue Goyette über vier mögliche Arten mit der Stadt Halifax zu interagieren- oder vielleicht mit jeder Stadt – und ihren Erfahrungen, hier erlebt als konstante Spannung zwischen Realität und Vorstellung.

(Aufgrund der Struktur unserer Internetseite, bitte wir Sie zu berücksichtigen, dass die Strophen vom Originalformat abweichen können, auch wenn ihre Trennung beachtet worden ist. Ganz unten können Sie das Gedicht im Originalformat herunterladen.)

Besucher

Die Glyzinie hat schon ausgeschlagen. Der Flieder hängt verblasst. Diese Stadt ist unserer eine Stunde hinterher, aber um Wochen voraus. Und verlangt eine Art Zeitreise.

Im Gespräch beobachte ich mich selbst: Ich tue, als wüsste ich, wovon ich rede. Offenbar werden wir das alle tun, derart selbstbewusst auftreten,

in der Zukunft und nach dem Flieder. Der Kellner sieht, wie ich beim Anblick der Pizza auflebe. Spargel und Artischocken habe ich missachtet. Die große Stadt richtet

frech das Scheinwerferlicht auf die Privatterrassen unserer Gespräche. Selbst die Bäume lauschen. Alle sprechen von „Realität“. Der Käse auf der Pizza ist dick

und weiß mit der Tomatensoße verschmolzen, aber frisch verschmolzen und noch innig vereint. Ich bin kein Gourmet, aber es schmeckt und erspart mir

das Reden. Jemand macht ein Foto, das man später herumzeigen kann, wenn sich das Gespräch um Pizza oder gutes oder rundes Essen dreht, was weiß ich. Ich nehme

mir lieber nach ein Stück. Ich kann nicht anders, wenn ich hier bin und mir nur wünschte, woanders zu sein. Was den Kellner freut. Sein Vater hat die Pizza

gebacken, sie zu essen ist das größte Kompliment. Zu einfach, denke ich, und mache gefräßige Komplimente. In unserer Stadt wäre Gefräßigkeit wichtiger als das Essen.

Teilnehmer

Googeln Sie Henry Moores Falling Warrior. Sehen Sie, wie der Krieger noch nicht ganz am Boden ist, sondern widersteht. Atmen Sie den Widerstand ein. Online ist die Wirkung weniger stark, aber besser als nichts. Seien Sie vorsichtig.

Erst glaubt man, nichts habe sich verändert. Man ist versucht, in den Bildschirm zu kriechen und sich am Zwischenraum von gebeugten Knien zum Boden, dem Dreieck aus Schulterblatt, Ellbogen, Hand/Hüfte, zu berauschen. Einstiegsdroge zur Bewegung.

Wie der Kopf gedreht gehalten wird, die Rotation, um das Wiederaufstehen zu erleichtern. Vor Wochen sah ich in Halifax einen Mann in derselben Haltung an einer Ausfahrt. Zwischen uns floss dichter Verkehr, also erhob ich die Stimme

und ließ sie über die Autos fliegen: Alles in Ordnung? Nein, sagte er. Nein. Zum Glück haben Moores Skulpturen Doppelgelenke; zwar kannte ich seinen Krieger damals noch nicht, doch die Haltung dieses Kameraden erkannte ich als gefallen. Um den Mann aufzurichten,

brauchte ich mein ganzes Gewicht. Seine Schläfe war aufgeschürft und das Blut elektrisierte den Augenblick. Sechsundachtzig sei er und der Bürgersteig bäume sich manchmal wie eine Welle auf und bringe ihn aus dem Gleichgewicht. Er trug einen Rucksack

und Wanderstiefel. Ich wollte etwas Bedeutsames sagen, eine meiner großen Schwächen. Etwas über Sterblichkeit oder Angst, 
aber er verlor schon die Geduld mit mir, ging weiter und wiederholte, nein,

ihm fehle ganz sicher nichts. Aber Sie sind gestürzt, sagte ich, und folgte ihm halbherzig. Erst später, in Gesellschaft Moores, begreife ich meinen Irrtum. Grimmig entschlossen ist der rechte Winkel des Arms, der den Körper stützt. Das ist unsere Kraft. Mag sie Ihnen

helfen, jetzt wiederaufzustehen.

Hollis Street in Halifax, Nova Scotia Hollis Street in Halifax, Nova Scotia | Foto (Ausschnitt): Avard Woolaver/avardwoolaver.wordpress.com

Empfänger

Sagen wir, ein Fuchs beschließt, du sollst jede Nacht in deinem Garten einen Schuh empfangen. Das geschieht woanders, in einer anderen Stadt.

Bei uns empfangen wir Schuhe im Traum. Oft sitzen sie an den Füßen unserer Toten und hinterlassen keine Spur. In manchen Träumen sehen wir die Schuhe lang

auf uns zukommen und erwachen dann trauernd, weil wir zu kurz in das geliebte Gesicht geblickt haben. Vielleicht schlafen wir

deshalb so viel. Schlaf ist, wie man in Halifax weiß, eine Art Bahnhof, auf dem der Abschied ausfällt. Woanders hat die Empfängerin der Schuhe

einen Wühltisch im Garten aufgestellt, für Menschen mit fehlendem Schuh. Auch wir wären großzügig, aber versteh doch: die Schuhe, die wir im Traum empfangen,

gehören unseren Toten, deshalb behalten wir sie, ans Herz gedrückt, damit wir ihre Schritte noch einmal hören, die nach uns verlangen. Vielleicht eine Bitte,

oder eine Art Befreiung. 

Bienenstock

Niemand hat die in der Luft stehende Biene bemerkt, bis du dich erhebst. Wie lang ist sie da schon, fragst du, und jemand, 
der hingesehen hat, sagt, seit fünf Minuten, mindestens. 
Als wollte sich die Biene vergewissern, welches die beste 
Richtung ist. Kameradin Biene, sprechen wir betrunken zu ihr, 
auf Augenhöhe bist du, aber du triffst uns direkt ins Herz
Aber wir sind nicht betrunken, protestierst du, wir frühstücken, 
der Tag ist noch frisch und klar. Die Biene ist uralt, beharrt jemand. 
Kameradin heilige Biene, sprechen wir den Morgen begrüßend zu ihr, 
auf Augenhöhe bist du, aber du triffst uns direkt ins Herz
In ihrer Konzentration bemerkt die Biene unsere Gegenwart nicht, 
was wir zunächst als Herausforderung betrachten, 
doch dann betrachten wir sie lieber auf dem Display. 
Ihr Bild werden wir jedem zeigen, der unsere Geduld und 
Geschwindigkeit anzweifelt. Das Bild „gefällt“ unseren „Freunden“ 
und wird mehrmals „geteilt“ und auf diese Art
fühlen wir uns weiterhin verbunden.

Sue Goyette - „Vier Variationen auf Einwohnerschaft“