Portrait
Rimini Protokoll

Rimini Protokoll portrait
©: World Climate Conference: Benno Tobler; 100% Montreal: Sandra Then; Portrait: David von Becker; Breaking News & Herrmann’s Battle: Barbara Braun/ MuTphoto; Situation Rooms: Jörg Baumann / Ruhrtriennale 2013; Brain Project: Christian Bartsch/Dt. Schauspielhaus

Die Mitglieder der Regiegruppe Rimini Protokoll haben sich in den Neunziger Jahren beim Studium der Angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Gießen kennengelernt, eine Art Kaderschmiede des avancierten deutschen Theaters.

Rimini Protokoll besteht aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die in wechselnden Konstellationen unter dem Label arbeiten: Oft alle drei zusammen, ebenfalls häufig arbeiten Haug und Wetzel als Duo, Stefan Kaegi arbeitet immer wieder alleine, in der Vergangenheit auch mit Bernd Ernst als „Hygiene Heute“. Erste Projekte realisierte Rimini Protokoll an Freien Theatern, seit längerem sind sie auch am Stadttheater gern gesehene Gäste. Außerdem arbeiten sie seit Jahren – auch im Auftrag des Goethe Instituts – viel im Ausland.

Rimini Protokoll: Porträt

Der Zauberlehrling heißt eine eher kleine Arbeit der Gruppe Rimini Protokoll aus dem Jahr 2009. Es ging um Krieg, in diesem Fall um den einst „Kalten“ genannten und um den heutigen in Afghanistan. Ein ehemaliger russischer General, der einen Atomkrieg verhindert hat, eine Isländerin, die im Irak Soldaten für den Umgang mit den Medien schulte, und zwei Zauberer. Die Arbeit bringt durch die etwas merkwürdige Kombination von Krieg und Magie sehr schön auf den Punkt, worum es Rimini Protokoll immer geht: Sichtbarmachung. Die Gruppe entmystifiziert und entkleidet permanent die Geister, die die Menschen selbst gerufen haben. Fiktionen, die Realitäten erzeugen, werden wieder als Fiktionen sichtbar. Was das Theaterkollektiv oder Regie-Trio mit dem eigenartigen Namen Rimini Protokoll tut, hat immer mit dem Begriffspaar Realität und Fiktion zu tun. Rimini Protokoll sucht sich seine Themen immer in der Wirklichkeit, nie in der Literatur. Die Gruppe arbeitet für ihre Inszenierungen immer mit Laien, die sie bei der Recherche gefunden hat. Die Projekte werden aus der Situation der Spieler entwickelt. Diese Spieler heißen „Experten“ und sie stellen sich in den Inszenierungen immer selbst dar.

Man weiß in diesen Versuchsanordnungen nicht, wo das Theater beginnt und die Wirklichkeit aufhört, man kann es und man soll es auch nicht wissen. Das aber ist keine Lust am Taschenspielertrick, sondern es zeigt sich dabei immer wieder, dass die Realität in Inszenierungen erst richtig erscheint. Das Theater von Rimini Protokoll setzt Bühne und Zuschauer einander nicht gegenüber, sondern verzahnt die beiden Sphären.

Dabei geht es um Wahrnehmung, um Erkennbarkeit der Welt und insbesondere der Menschen. Es geht darum, den Komplex, der unsere Realität ist, aufzubrechen, in seinen Facetten zu zeigen, um ihn so befragbar und verhandelbar zu machen. Rimini Protokoll wenden ihre Methode äußerst subtil, in immer wieder überraschenden Konstellationen und mit großer Neugier auf die Welt an. Die „Experten“, die sie immer wieder finden, sind manchmal so überraschend und überzeugend, dass man sie besser niemals hätte erfinden können. So ist Rimini Protokoll zum Protagonisten einer Reality-Bewegung geworden, die es seit ein paar Jahren im deutschen Theater gibt.

Den schnellen Ruhm nach dem Studium in Gießen und ersten Arbeiten in der Freien Szene verdankt Rimini-Protokoll dem damaligen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Im verlassenen Plenarsaal des Deutschen Bundestags in Bonn wollten sie unter dem Titel „Deutschland 2“ die Bundestagsdebatte im Berliner Reichstag vom 27. Juni 2002 nachsprechen lassen, und zwar von denen, in deren Namen da verhandelt wurde, gewöhnlichen Bürgern. Thierse verbot unter Hinweis auf die „Würde des Hauses“ die Aktion und entfachte so eine Diskussion über Kunstfreiheit, die Beziehung Politik-Kunst und die Grenzen des Theaters und der Realität: Seitdem weiß die Öffentlichkeit, an welcher Stelle Rimini Protokoll operiert. Die Aktion fand schließlich in der Theater-Halle in Bonn Beuel statt, der Text der Abgeordneten wurde direkt in die Kopfhörer der Bonner Bürger übertragen, die ihn möglichst simultan zu sprechen suchten.

Die drei brechen in wechselnden Konstellationen immer neue Stücke aus der Wirklichkeit. Deadline (Haug/Kaegi/Wetzel) erarbeitete Rimini Protokoll an einem Ort, der später geschlossen wurde, dem Neuen Cinema, einer Spielstätte des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Auf der Bühne, die bald keine mehr sein würde, standen ein Bürgermeister, ein Steinmetz, ein Trauerredner und eine Medizinstudentin, Menschen, die professionell mit dem Tod zu tun haben. Sie erzählten von ihrem Umgang mit dem Tod. Das war dramaturgisch so geschickt aufgebaut, ergänzte und bespiegelte sich, dass sowohl ein Tableau des heutigen Umgangs mit dem Tod als auch die einzelnen Personen und ihre Geschichte mit dem Tod sichtbar wurden.

Zu welchen Triumphen das Theater von Rimini Protokoll in der Lage ist, zeigte sich aber erstaunlicherweise in einer anderen Produktion: gerade Wallenstein, (Haug/Wetzel), ihre erste Arbeit nach einem klassischen Theatertext, inszeniert zu den Mannheimer Schillertagen, war ein Triumph des Castings. Was hier über Macht und Widerstand zu erfahren war, wie nah einem das in einem Mannheimer OB-Kandidat, Weimarer Polizeichef und insbesondere als in Heidelberg lebender Vietnamkriegsveteran kam, war erstaunlich. Es wirkte so authentisch und dicht, dass man denken musste, der Abschaffung des Theaters beizuwohnen, war aber in Wirklichkeit höchst kunstvoll in Szene gesetzte Inszenierung. Die Wirklichkeit war inszeniert, ohne ihre Authentizität zu verlieren.

Die szenische Intelligenz ihrer Arbeit wird in Call Cutta (Haug/Kaegi/Wetzel) deutlich. Jeder Zuschauer bekam ein Mobiltelefon, an dem ein Gesprächspartner aus Kalkutta zu hören war, der einem erklärte wo – die Hörer waren in Berlin – man langgehen sollte. Es ist das ferne Call-Center, das einen leitet und dessen Mitarbeiter einem mehr oder weniger nahe kam. Der größte Triumph der Gruppe in der letzten Zeit war eine Hauptversammlung der Aktionäre der Daimler Benz AG. Durch Aktienanteile, die extra dafür erworben worden waren, konnten 150 Zuschauer mitten in der Finanzkrise an der Hauptversammlung wie an einer Aufführung teilnehmen: „Dies ist weder ein Theaterstück noch ein Schauspiel“ sah sich der Aufsichtsratsvorsitzende deswegen zu sagen genötigt. Dabei wollten Haug, Kaegi und Wetzel die Versammlung gar nicht als Show entlarven, sondern als „Ritual einer Versammlung unterschiedlicher Interessen“ zeigen. Das gelingt immer wieder bemerkenswert gut. Nirgends kommt einem die Wirklichkeit im Theater zur Zeit so nahe, wie in den Arbeiten von Rimini Protokoll.


 

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