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Der Auftakt von New Nature
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Suzanne Kite : "Pȟehíŋ kiŋ líla akhíšoke. (Her hair was heavy.)"
Suzanne Kite : "Pȟehíŋ kiŋ líla akhíšoke. (Her hair was heavy.)", The Studio Series, REDCAT / CalArts Theatre 10, 11 November 2019 Los Angeles, CA | © Photo: Steve Gunther

Der Start von New Nature, einem umfassenden Medien- und Klimawandelaustausch zwischen Kanada, Deutschland, Mexico und den USA, bot einen generativen Ausgangspunkt für die Neukonzipierung der Beziehung zwischen Technologie und Umwelt.

Von David Shaw

Wie die Kuratorin Samara Chadwick in ihrer Eröffnungsansprache vor den Teilnehmenden erklärte, ist das Ziel von New Nature, “einen fruchtbaren Boden zu schaffen, damit neue Ideen entstehen können.” Das ist ein wichtiges Anliegen, aber diese erdbezogene Metapher hörte sich fast anachronistisch bei einer Veranstaltung, die sich komplett im digitalen Raum abspielte. Aufgrund der anhaltenden globalen COVID-19- Pandemie fanden sowohl die öffentlichen Veranstaltungen als auch die Workshops mit Teilnehmern des New Nature-Projekts als eine Reihe von Zoom-Meetings statt. Die Veranstaltung, die sich bereits mit dem Einfluss von Technologie auf die Art und Weise, wie wir uns gegenseitig die Welt darstellen, beschäftigte, erhielt damit eine neue Ebene der technologischen Vermittlung.
 
Die hier vorliegende verschlungene Symbolik wurde zu einem wiederholten Gesprächsthema der Teilnehmenden, denn das Projekt war ein Versuch, Menschen in einer Zeit zusammenzubringen, in der physische Nähe in der globalen öffentlichen Wahrnehmung untrennbar verbunden ist mit Krankheitsübertragung. Die Frage, wie Menschen zusammengebracht werden können, während sie physisch weit voneinander entfernt sind, hat während der Pandemie ein hohes Maß an Dringlichkeit erreicht. Viele Arbeiten der Teilnehmenden von New Nature haben die zentrale Rolle aufgezeigt, die Technologie bei der Entwicklung neuer Wege, Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt zusammenzuführen, spielen kann.
 

„Deep Swamp“ – der tiefe Sumpf

Diese Spannung zwischen Technologie und Umwelt wird in der Arbeit der aus Australien stammenden Künstlerin und Umweltingenieurin Tega Brain klar erfasst. Sie sprach mit den anderen New Nature-Teilnehmern über ihre Arbeit an der Schnittstelle von Ökologie, Datensystemen und Infrastruktur. Ihr jüngstes Projekt „Deep Swamp“ beschreibt sie als „Triptychon halb überfluteter Umgebungen, in denen Feuchtbiotope und Software-Agenten mit künstlicher Intelligenz zusammenkommen“. Das Projekt besteht aus drei separaten Feuchtgebietsbecken, deren Umgebungsbedingungen jeweils durch ein einzigartiges Programm künstlicher Intelligenz überwacht werden. Jeder der „Software-Agenten“ entwickelt die Bedingungen seines jeweiligen Beckens mit einem bestimmten Ziel. Einer strebt ein „natürlich aussehendes Feuchtgebiet“ an, der zweite „versucht, ein Kunstwerk zu produzieren“ und der dritte „will einfach nur Aufmerksamkeit. ” Die Software, die diese drei Ansätze steuert, wird mithilfe eines Deep Learning-Prozesses präzisiert: Jeder „Agent“ analysiert eine umfangreiche Datenbank mit getaggten Bildern, um ein Gefühl für sein Ziel zu entwickeln, und passt dann die Bedingungen seines Beckens entsprechend an und überwacht sie. In diesem Sinne wird jedes der drei Becken nicht durch eine starre Ausrichtung auf die Berechnung der „idealen“ Umgebungsbedingungen betrieben, sondern durch einen lebhaften Verhandlungsprozess zwischen Umwelt und Technologie.

  • Deep Swamp © Tega Brain
    Tega Brain - Deep Swamp
  • Deep Swamp © Tega Brain
    Tega Brain - Deep Swamp


In Anbetracht dieses Gespürs für Verhandlungen kann „Deep Swamp“ von Brain veranschaulichen, wie unzulänglich es ist, die Umwelt als eine Metapher des „Systems“ zu betrachten. Wie Brain anmerkt, "bedeutet eine systematische Sichtweise der Umwelt, dass sie begrenzt und erkennbar ist und aus Komponenten besteht, die als Ketten von Ursache und Wirkung funktionieren.“ Die andauernde Verbreitung von Begriffen wie „Ökosystem“ legt nahe, dass Umwelt häufig reduktiv als Satz quantifizierbarer Datenpunkte ausgelegt wird und Projekte zum Umweltschutz infolgedessen implizit davon ausgehen, dass ihr Ziel darin besteht, eine Art quantifizierbares Gleichgewicht zu erreichen – als ob die Umwelt eine Art mathematische Gleichung wäre, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Anstelle eines zu starren systematischen Umweltansatzes fordert Brains Arbeit uns auf, ein neues Narrativ ökologischer Nachhaltigkeit in Betracht zu ziehen, wonach Umwelt zusammen mit der Technologie durch einen fortlaufenden Verhandlungsprozess wächst und sich verändert.

Entkolonialisierung des Anthropozäns

Das Bestreben, dominantes ökologische Narrativen neu zu formulieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit mehrerer Teilnehmer*innen von New Nature, darunter Heather Davis. Ihre Arbeit zur Entkolonialisierung des Anthropozäns stellt die verallgemeinernden Annahmen in Fraget, die der Begriff Anthropozän implizit aufwirft. Während der Begriff Anthropozäns , das „Zeitalter des Menschen“ darauf abzielt, die zunehmend zentrale Rolle menschlicher Aktivitäten bei der globalen Umweltzerstörung hervorzuheben, betont Davis, dass die breitangelegte Darstellung des Anthropozäns als eine singuläre monolithische Einheit letztendlich die Machtdynamik verschleiert, welche die Triebkraft hinter der gegenwärtigen Klimakrise ist. Für Davis verschleiert der Begriff insbesondere die grundlegende Rolle, die der Kolonialismus für unser Umweltverständnis gespielt hat und weiterhin spielt. Wie sie in einem gemeinsam mit der Metis-Anthropologin Zoe Todd verfassten Aufsatz beschreibt, sind die „ökologisch-suizidalen[NH3] [MK4]  Logiken, die derzeit unsere Welt regieren, nicht unvermeidlich oder ‘menschliche Natur‘, sondern das Ergebnis einer Reihe von Entscheidungen, die ihren Ursprung in der Kolonialisierung haben und nachklingen.“ In ihrer Arbeit bildet Davis diesen Nachklang ab, um den vorherrschenden verallgemeinernden Narrative des Anthropozäns in Frage zu stellen.
 
Für Davis ist Kolonialismus in erster Linie zu verstehen als Katalysator für eine neue Art von Beziehung zwischen dem Kolonialisten und dem Land sowie den Menschen, die kolonisiert werden. Wie sie und Todd beschreiben, „durchtrennte einst der Siedler-Kolonialismus und seine Fortführung, der Petrokapitalismus unserer Zeit, die Beziehungen. Es ist eine Durchtrennung der Beziehungen zwischen Mensch und Boden, zwischen Pflanzen und Tieren, zwischen Mineralien und unseren Knochen.“ Diese „Durchtrennung der Beziehungen“ wird zur vorherrschenden Logik des Anthropozäns, in dem der koloniale Drang, den Planeten als Vorrat an inerten Ressourcen neu zu gestalten, die nur darauf warten, dass ihr Wert extrahiert wird, zu weit verbreiteten Umweltzerstörungen führt, mit denen wir alle zunehmend vertraut sind.
 
Wichtig ist jedoch, dass Davis die verallgemeinernden Mängel des Anthropozäns nicht zum Anlass, den Begriff vollständig abzulehnen. Stattdessen argumentiert sie: „Indem wir die Beziehungen zwischen dem Anthropozän und dem Kolonialismus klar herausstellen, sind wir in der Lage, unsere aktuelle ökologische Krise zu verstehen und die Schritte zu ergreifen, die nötig sind, um dem Pfad des Öko-Suizids zu verlassen.“ Die Anbindung des Anthropozäns an seine Wurzeln während der Kolonialisierung zwingt uns zu einer energischen Neudefinition unseres Verständnisses der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt: Wenn wir die Vorstellung ernst nehmen, dass das Anthropozän ein Aufruf zum Handeln für die Menschheit ist, ihre schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt zu erkennen und zu korrigieren, dann ist die Arbeit von Davis ein überzeugendes Argument für die Wiedergutmachung kolonialer Gewalt als kritischer erster Schritt in Richtung Umweltgerechtigkeit.

Bande mit den Maschinen knüpfen

Die Rolle, die der Kolonialismus bei der Durchtrennung der Beziehungen mit der nichtmenschlichen Umgebung gespielt hat, ist das Thema der New Nature-Teilnehmerin Suzanne Kite, einer Oglála Lakȟóta-Performancekünstlerin, bildenden Künstlerin und Komponistin. In ihrer Arbeit untersucht sie die Beziehung zwischen Technologie und indigenem Wissen. In einem Artikel mit dem Titel „Making Kin with the Machines“ („Bande mit den Maschinen knüpfen“), den Kite gemeinsam mit Jason Edward Lewis, Loelani Arista und Archer Pechawis verfasste, wird die Frage gestellt: „Wie vereinbaren wir als Indigene die vollkommen körperliche Erfahrung, dass wir uns auf dem Land befinden, mit der im allgemeinen körperlosen Erfahrung virtueller Räume? Wie können wir dieses neue Territorium verstehen, es in unser bestehendes Verständnis unseres Lebens im realen Raum einbinden und es uns zu eigen machen?“

In ihrem Artikel argumentieren Kite und ihre Mitautor*innen, dass viele indigene Wissensmodi generative Rahmenbedingungen für die Modellierung der Beziehung zwischen Menschen und künstlicher Intelligenz bieten, dass jedoch „koloniale Erzählungen diese Kenntnisse nicht verstanden oder einfach verworfen haben“. Insbesondere beschreibt Kite das Lakota-Konzept von „wakȟáŋ“, das sie als „heilig“ übersetzt und das ihrer Meinung nach in der Lakota-Kosmologie als Grundlage für die Relationalität mit der nichtmenschlichen Welt dient. Während die Arbeit von Davis beschreibt, wie westliche koloniale Erkenntnistheorien dazu neigen, die nichtmenschliche Welt als eine Ressource darzustellen, die nur darauf wartet, ausgebeutet zu werden, erklärt Kite, wie das Lakota-Konzept von „wakȟáŋ“ die nichtmenschliche Welt nicht als flache und statische Menge von Ressourcen positioniert, sondern als einen Raum ungeahnter Lebendigkeit, dem man mit einem Gefühl von gegenseitigem Respekt begegnen muss.

Suzanne Kite : "Pȟehíŋ kiŋ líla akhíšoke. (Her hair was heavy.)" Suzanne Kite : "Pȟehíŋ kiŋ líla akhíšoke. (Her hair was heavy.)", The Studio Series, REDCAT / CalArts Theatre 10, 11 November 2019 Los Angeles, CA | © Photo: Steve Gunther Wenn man dem ungeahnten Geist der nichtmenschlichen Welt Aufmerksamkeit widmet, bildet dies wiederum einen nützlichen Rahmen für die Entwicklung einer fundierteren Beziehung zur künstlichen Intelligenz. Wie Kite beschreibt,
 

„wird KI wird nicht nur aus Code gebildet, sondern auch aus Materialien der Erde. Das Konzept von KI von ihrem materiellen Charakter zu lösen, bedeutet, diese Verbindung zu durchtrennen. Indem wir eine Beziehung zur KI entwickeln, entwickeln wir eine Beziehung zu den Minen und Steinen. Beziehungen zur KI sind daher Beziehungen zu erschlossenen Ressourcen. Wenn wir in der Lage sind, diese Beziehung ethisch anzugehen, müssen wir den ontologischen Status aller Bestandteile, die zur KI beitragen, bis hin zu den Minen, aus denen die materiellen Ressourcen unserer Technologie hervorgehen, überdenken.“

 
Mit diesen Betrachtungen im Hinterkopf können wir einen neuen Blick auf die Analogie des „fruchtbarer Bodens“ werfen, die Chadwick in ihrer Eröffnungsrede ansprach. Sie war als Metapher gedacht, aber Kites Vorschlag, den „ontologischen Status“ – das breitere Netzwerk von Komponenten, aus denen sich Technologien entwickeln – ernst zu nehmen, verleiht der Metapher eine generativ wörtliche neue Bedeutung. Auch wenn die Gefahr besteht, einen bereits ziemlich abgenutzten idiomatischen Ausdruck zu überfrachten: der „fruchtbare Boden“, aus dem neue Ideen hervorgehen werden, besteht aus Zoom-Meetings, Deep-Learning-Algorithmen und dekolonisierten Erkenntnistheorien sowie aus der eigentlichen materiellen Infrastruktur, durch die jedes dieser Dinge entwickelt und am Laufen gehalten wird.

Dazu gehören die Steine, auf die Kites uns aufmerksam macht, sowie der tatsächliche Boden in den Becken des Deep Swamp-Projekts von Tega Brain. Während wir weiterhin mit der globalen Pandemie kämpfen, bedeutet das Schaffen von Bedingungen, unter denen neue Geschichten entstehen können, dass wir uns weiterhin des breiten Zusammenhängens der Dinge sowohl organischer als auch anorganischer Natur bewusst sind, aus denen unsere Umwelt besteht und die uns helfen, unseren Platz darin zu finden.
 

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