Filmvorführung und Diskussion Dokumentarfilmreihe „Reframing the Real“: „Migration und Lebensräume“

Filmstill „Die neuen Kinder von Golzow“ Filmstill „Die neuen Kinder von Golzow“

Fr, 07.12.2018 –
So, 09.12.2018

Goethe-Institut China

Partner: DOK Leipzig
Zeitraum: 07-09.12.2018
Ort: Goethe-Institut China
Gäste: Marie-Thérèse Antony (DOK Leipzig), Frédéric Brunnquell (Regisseur), Simone Catharina Gaul (Regisseurin), Wang Yang (Regisseur)
Moderation: Yu Yaqin (Filmkritikerin, Mitglied von Puremovies)
Sprache der Filme: Originalversion mit englischen und chinesischen Untertiteln
Sprache der Diskussionen: Englisch, Chinesisch
Eintritt frei
 
Heimat ist da wo…? Wo wir aufgewachsen sind? Wo unsere Eltern aufgewachsen sind? Wo andere dieselbe kulturelle Prägung besitzen wie wir? In einer zunehmend globalisierten Welt gibt es immer mehr Menschen, die den Ort, an dem sie geboren sind, verlassen. Manche tun dies freiwillig, andere unter Zwang. Was bei den meisten von ihnen zurückbleibt, ist eine Sehnsucht nach einem Ort, der Geborgenheit, Glück und Akzeptanz verspricht: eine Heimat. Doch vielen ist die Rückkehr nicht möglich und so sehen sie sich mit einer schwerwiegenden, existentiellen Frage konfrontiert: Ist es möglich auch in der Fremde eine neue Heimat zu finden?

Vom 7. bis 9. Dezember 2018 veranstaltet das Goethe-Institut China unter dem Titel „Reframing the Real: Migration und Lebensräume“ eine Dokumentarfilmreihe. Neun internationale Produktionen widmen sich dabei der Frage „Wo lässt sich Heimat finden?“, eine der 30 Fragen, die das Goethe-Institut China zu seinem 30. Jubiläum stellt, und untersuchen verschiedene Auffassungen von Heimat, hinterfragen, was es bedeutet, die eigene Heimat zu verlassen und ob und wie es möglich ist, sich woanders eine neue Heimat aufzubauen. Wir freuen uns besonders, am 8. Dezember die Regisseurin Simone Catharina Gaul und am 9. Dezember die Regisseure Frédéric Brunnquell und Wang Yang als Gäste begrüßen zu dürfen, wo es im Anschluss an die Filmvorführungen ein Q&A mit ihnen geben wird. Die Dokumentarfilmreihe „Reframing the Real“ ist in Kooperation mit dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm entstanden.
 

ProgrammübersichT

07.12.2018 19:00 – 21:40
DISPLACED | Volkan Üce | Belgien | 2017 | 71 Min
CALLSHOP ISTANBUL | Sami Mermer, Hind Benchekroun | Kanada | 2016 | 89 Min
 
08.12.2018  15:00 – 20:55
THE LONGEST RUN | Marianna Economou | Griechenland | 2015 | 77 Min
DIE NEUEN KINDER VON GOLZOW | Simone Catharina Gaul | Deutschland | 2017 | 90 Min
(im Anschluss findet ein Q&A mit der Regisseurin Simone Catharina Gaul statt)
NEBEN DEN GLEISEN | Dieter Schumann | Deutschland | 2016 | 85 Min
 
09.12.2018 14:00 – 20:30
DISORDER | Huang Weikai | China | 2009 | 58 Min

COAL HEAP KIDS | Frédéric Brunnquell | Frankreich | 2016 | 52 Min

WEAVING | Wang Yang | China | 2017 | 93 Min
(im Anschluss findet ein Q&A mit den Regisseuren Frédéric Brunnquell und Wang Yang statt)

LAND AM WASSER | Tom Lemke | Deutschland | 2015 | 84 Min
 

Das Programm

DISPLACED | Volkan Üce | Belgien | 2017 | 71 Min
 
Der Titel des Films ist dem gleichnamigen Gedicht von Charles Bukowski entlehnt. Darin heißt es: „I am not like other people. Other people are like other people.“ Die jungen Leute in Volkan Üces „Displaced“ kennen die Erfahrung des Anders- und Unbehaustseins, von der Bukowski spricht. Sinan, Şule, Orhan und Bahar haben ihre Kindheit und Jugend in Belgien und in den Niederlanden verbracht, bevor sie nach Istanbul und damit in das Herkunftsland ihrer Großeltern (zurück-)gingen. Doch auch in der Stadt, die sie so sehr lieben, sind sie zunächst Fremde.
 
Über einen Zeitraum von vier Jahren – zwischen 2011 und 2015 – begleitet Üce die belgisch-türkischen beziehungsweise niederländisch-türkischen Migranten bei ihrer Suche nach Identität, Arbeit und persönlichem Glück. Dabei bekommt ihre europäische Sozialisation im Zuge der politischen Umwälzungen in der Türkei noch einmal ein ganz anderes Gewicht. Während sich Orhan auf die Seite von Erdoğan stellt, wird die Teilnahme an den Gezi-Protesten für Sinan zu einem sinnstiftenden und selbstverortenden Erlebnis. „Gezi gehört uns. Istanbul gehört uns. Die Glühlampe ist zerplatzt“, ist auf einer Wand zu lesen.
Esther Buss
 

CALLSHOP ISTANBUL | Sami Mermer, Hind Benchekroun | Kanada | 2016 | 89 Min

Mit ihren flackernden Lichtern wirken die schmalen Callshops wie Leuchttürme im Gewirr der Gassen. Hier stranden Fremde aus aller Welt, die meisten von ihnen auf dem Weg nach Europa. Doch für viele endet die Reise genau hier, in der Megametropole Istanbul. Der Film findet einen so simplen wie effektvollen Zugang zur Lebenssituation dieser Heimatlosen: Er belauscht ihre Telefonate mit den Angehörigen, von denen sie abgeschnitten sind. Beißende Sorgen um deren Sicherheit in Kriegsgebieten wie Syrien oder Irak, gemeinsame Pläne für eine bessere Zukunft, Liebeserklärungen und Treueschwüre gehen durch die Leitung. Auf engstem Raum spielen sich universelle Dramen ab. Ein obdachloser Senegalese traut sich nach Jahren des Misserfolgs erstmals, seine Familie zu kontaktieren, verspricht Besserung. Dann wieder verhandelt er ergebnislos mit einem Schlepper. Sein Gesicht ist müde.
 
Von den Mikroporträts der Telefonzellen aus geht der Film in die Straßen, zeigt die Proteste auf dem Taksim-Platz und die Türkei aus der Sicht der migrantischen Parallelgesellschaft. Drei Männer aus Benin, die sich mit dem illegalen Verkauf von Uhren durchschlagen, kalkulieren mit Halbwissen das Risiko für eine Überfahrt nach Griechenland – und entscheiden umzukehren. Information ist überlebenswichtig. „Callshop Istanbul“ bietet nicht nur an dieser Stelle einen Perspektivwechsel zur Debatte über Flucht und Migration. (Lars Meyer)
 
 
THE LONGEST RUN | Marianna Economou | Griechenland | 2015 | 77 Min
 
Jasim und Alsaleh sitzen als minderjährige Flüchtlinge in einem griechischen Gefängnis ein. Aus Syrien respektive dem Irak kommend, wurden sie als „Illegale“ an der türkisch-griechischen Grenze aufgegriffen und warten nun auf ihren Prozess. Die Anklage gegen sie hat einen zusätzlichen (und gefährlichen) Haken: Sie werden beschuldigt, selbst als Schleuser aktiv gewesen zu sein. Denn unter Androhung von Gewalt hat man sie einen Flüchtlingstrupp über die Grenze führen lassen, während die Menschenhändler dezent im Hintergrund blieben. Werden Jasim und Alsaleh schuldig gesprochen, droht ihnen eine sehr lange Haftstrafe, die Dauer obliegt dem Gericht.
 
Jasim ist praktisch noch ein Kind. Mit großen unschuldigen Augen blickt er um sich und versteht buchstäblich gar nichts von dem, was ihm da widerfährt. Alsaleh fungiert als „großer Bruder“ und gewährt oft Überlebenshilfe. Souverän verknüpft Marianna Economou die Erzählung zweier singulärer Dramen mit der eines universalen Phänomens. Ihr Film setzt verstehendes Mitgefühl frei – insofern, als man diesen Jungs nach den Zumutungen, die sie auf ihrer Flucht sowieso schon erlebt haben, eigentlich nur noch eines wünscht: dass sie zu schlechter Letzt nicht an der Hartherzigkeit eines Justizbeamten zerbrechen mögen. „The Longest Run“ aktiviert Herz und Verstand – das eine nicht ohne das andere! (Ralph Eue)
 

DIE NEUEN KINDER VON GOLZOW | Simone Catharina Gaul | Deutschland | 2017 | 90 Min
 (im Anschluss findet ein Q&A mit der Regisseurin Simone Catharina Gaul statt)

In Golzow, einem kleinen Ort im brandenburgischen Oderbruch, gibt es ein Filmmuseum. Denn hier entstand unter dem Titel „Die Kinder von Golzow“ zwischen 1961 und 2007 eines der umfangreichsten Langzeitprojekte der Filmgeschichte – eine Chronik der Bewohner, von ihrer Einschulung bis weit nach der Wende. Fast wäre die Schule mittlerweile geschlossen worden. Denn auch in Golzow ist zu spüren, was die Region im Allgemeinen betrifft: Die Menschen ziehen in die Städte, Geschäfte schließen, die Gesellschaft altert und wächst auseinander.
 
Aber es kommen neue Kinder nach Golzow – die Kinder syrischer Flüchtlingsfamilien. Völlig unaufgeregt und mit einem scharfen Blick für die Schönheit des Situativen leuchtet Simone Catharina Gauls Film den Integrationsalltag auf dem Land aus. Die Neuankömmlinge lernen Deutsch und Angeln, gehen zu Übungen der freiwilligen Feuerwehr und singen deutsche Kinderlieder. „Das schönste Bild: eine Schule mit Kindern“, sagt der Bürgermeister der Gemeinde einmal und deutet auf den Pausenhof hinter ihm. Tatsächlich, es ist das schönste Bild! Denn in ihm kommt „Die neuen Kinder von Golzow“ auch wieder dort an, wo „Die Kinder von Golzow“ 1961 begann. (Lukas Stern)
 
Simone Catharina Gaul ist Regisseurin und Journalistin. Sie studierte Politikwissenschaften und Romanistik in Stuttgart und Paris und später Filmregie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Ihre Dokumentationen werden bei Filmfestivals auf der ganzen Welt gezeigt. Sie lebt in Berlin.
 
 
NEBEN DEN GLEISEN | Dieter Schumann | Deutschland | 2016 | 85 Min

Dieter Schumann hat in „Wadans Welt“ (DOK Leipzig 2010) am Beispiel einer Wismarer Werft die alten Fronten des Kapitalismus neu vermessen. Arbeiter gegen die unsichtbaren Kräfte der globalen Finanzspekulation. Klar, wer da verloren hat. In seinem neuen Film greift er diese ohnmächtige Erfahrung seiner Protagonisten gegenüber Ereignissen, an denen das alte Weltbild zerbricht, wieder auf. Die Geschichte spielt in und um eine Kiosk-Kneipe am Bahnhof von Boizenburg in Mecklenburg-Vorpommern. Täglich kehren hier Schichtarbeiter, Rentner, Hartz-IV-Empfänger und arbeitslose Jugendliche ein. Stammtischgespräche. Manchmal hart an der Grenze. Gleichzeitig wendet sich der Blick den Flüchtlingen zu, die täglich an dem Kiosk und seiner Stammbesetzung vorbeiziehen.
 
Das Zusammentreffen dieser beiden Welten ist erzählerisch direkt gesetzt. Geschichten der Flucht gegen das Klischee vom Vergewaltiger aus Syrien. Geschichten von im Bombenhagel getöteten Verwandten gegen das Gerücht, Migranten würden Kinder essen. Stand doch auf Facebook. Dennoch, bei aller Verunsicherung und trotz der diffusen Ängste, durch die Flüchtlinge sozial noch stärker abgehängt zu werden, gibt es Momente, in denen das Mitgefühl für das Schicksal des anderen überwiegt. Das macht, trotz der Affinität des Stammtischs zu rechten Lösungen, doch etwas Hoffnung. Genau darin liegt das große Verdienst dieses Films. (Matthias Heeder)
 

DISORDER | Huang Weikai | China | 2009 | 58 Min

An jedem Tag in unserem Leben passieren unzählige absurde Ereignisse. Der Film ist eine Collage aus mehr als 20 Ereignissen, die in einer Stadt stattgefunden haben: ein Mann, der keine Entschädigung erhalten hat, droht mit Selbstmord; ein Verrückter tanzt mitten auf der Straße; eine Gruppe von Schweinen läuft Amok auf einer Autobahn; Fußgänger überqueren Straßen, wie es ihnen gerade einfällt; gefälschte Banknoten tauchen plötzlich bei einem Einkauf auf; auf einer Baustelle entdeckt man Kulturdenkmäler; in einem verschmutzten Fluss in der Stadt schwimmen Leute im Namen des Umweltschutzes, aber es arbeiten dort auch Fischer, die keine Angst vor dem Schmutz haben, ja, es taucht sogar ein entkommenes Krokodil auf ...

Anmerkungen des Regisseurs:
In den letzten zwei Jahren habe ich Material gesammelt, das verschiedene DV-Enthusiasten gefilmt haben, und beschloss, eine Stadtsinfonie in meinem eigenen Stil zu machen. Historisch gesehen, haben Dokumentarfilme in Form einer urbanen Sinfonie keine wirklichkeitsgetreuen Sounds gehabt, wie z. B. Berlin – die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann, Der Mann mit der Kamera von Dziga Vertov oder Koyaanisqatsi von Godfrey Reggio. Aber dieses Mal ist ein eigener Soundtrack überhaupt nicht erforderlich: In dieser „Stadtsinfonie“ verweben sich verschiedene realistische Klänge mit den Ereignissen.
 

COAL HEAP KIDS | Frédéric Brunnquell | Frankreich | 2016 | 52 Min

Im klassischen Hollywood gab es dieses Produzenten-Bonmot, dass ein großer Film mit einer Explosion beginnen müsse, damit sich die Sache dann kontinuierlich steigern könne. Dieser Film, angesiedelt im ehemaligen Kohlerevier Nordfrankreichs, beginnt gleich mit sechs Explosionen. Es sind zwar nur China-Böller, die die beiden Brüder Théo (10) und Loïc (15) da hochgehen lassen, aber nichtsdestotrotz ist damit schon nach zehn Sekunden klar, dass es hier um Großes geht. Das Große ist die Armut, die Théos und Loïcs Wohnort Lens heimgesucht und sich in alle Ritzen des Persönlichen und Sozialen hineingefressen hat wie eine aggressives Säure. Früher wäre es statthaft gewesen, diesen Jungs eine glorreiche Zukunft als Working Class Heros vorauszusagen. Aber wer wollte heute dieses ethisch aufgeladene und von der Zeit überholte Vorbild noch einem jungen Menschen anempfehlen wollen?!? Oder können!?!
 
„Coal Heap Kids“ ist entstanden als Beitrag für die Dokumentarfilmreihe „Infrarouge“ des französischen Fernsehens. Die Energie, die ihn speist, ist jedoch von purer kinematografischer Natur. Was das heißt? Ein Film wie dieser rechtfertigt das Überleben des dokumentarischen Kinos. Wenn so ein Satz erst einmal dasteht, geht vieles schon leichter. Denn für den Fall, dass ein großes Herzklopfen sich nicht geradewegs in sachliche Worte übersetzen will (oder kann), braucht es manchmal einfach eine Umarmung! (Ralph Eue)
 
Frédéric Brunquell ist Autor und Regisseur von mehr als zwanzig Dokumentarfilmen, die bei verschiedenen großen Sendern (France2, France3, France5, Arte, Canal +) ausgestrahlt wurden. Einige seiner Werke wurden bei Festivals ausgezeichnet und waren in über zwanzig Ländern auf der ganzen Welt zu sehen. Brunquell arbeitete als Chefredakteur für Agence Capa wo er sich für die Entstehung von über siebzig Reportagen aus der ganzen Welt verantwortlich zeichnete. Er ist Autor von fünf Büchern. Sein dokumentarischer Fokus liegt insbesondere auf der Gesellschaft sowie auf politischer und Sozialgeschichte.
 

WEAVING | Wang Yang | China | 2017 | 93 Min
(im Anschluss findet ein Q&A mit den Regisseuren Frédéric Brunnquell und Wang Yang statt)
 
Die 1954 in den östlichen Vororten von Xi'an gegründete „Textil-Stadt“ steht nun vor dem Abriss und der Umgestaltung. Die Berichte von zwei Familien von Textilarbeiterinnen, die über sechs Jahre hinweg aufgenommen wurden, geben einen detaillierten Einblick in die psychischen Auswirkungen, die solch enorme materielle Veränderungen auslösen. In dieser Kollision von alten und neuen Ideen gibt uns das individuelle Schicksal solch ganz normaler Menschen die Gelegenheit nachzuvollziehen, welche emotionale Berg- und Talfahrt die Menschen im Zuge der nicht innehaltenden Veränderung der chinesischen Gesellschaft durchmachen. Hier geht es um Leben und Tod, aber auch um die Erinnerung an einen ganz eigenen Lebensstil. Für uns ist der Film ein Symbol, ein eingefrorener Rückblick auf die Entwicklung, die die chinesische Gesellschaft während der letzten Jahrzehnte durchlief.

2017 HOT DOCS Canadian International Documentary Filmfestival, Finalist
2018 Moscow International Documentary Film Festival, Preis für die beste Regie
2018 China Independent Film Festival CIFF, Kategorie „Weite Welt“
2018 Chinese Documentary Festival Hong Kong, Kategorie „Spielfilm“
2018 Rejection / Determination, Chinese Independent Documentary Film after 1997
 
Regisseur Wang Yang ist bekannt geworden mit Filmen wie Weaving, China Gate oder Transition. Seine Arbeiten wurden für zahlreiche internationale Filmfestivals nominiert und mehrmals ausgezeichnet. Seine Filme wurden auch von vielen großen Fernsehsendern im In- und Ausland ausgestrahlt. Gleichzeitig ist Wang Yang in China auch ein prominenter Filmkritiker; er schreibt seit vielen Jahren Kolumnen für Zeitungen und Zeitschriften und setzt sich für die Förderung der Filmkultur ein. Außerdem ist Wang Yang Mitbegründer von Youth Film Handbook, einem der wichtigsten Magazine für Filmkritik in China.


LAND AM WASSER | Tom Lemke | Deutschland | 2015 | 84 Min
 
„Was willste machen?“ Ein Stoßseufzer, den wir in dem Film über die letzten Mohikaner von Grunau noch öfter hören. Ein Geisterdorf, gebaut auf Braunkohle im Süden Sachsen-Anhalts, dessen Bewohner in den 1990ern umgesiedelt wurden. Geblieben sind der Schlosser, der Bauer und der Norbert, dessen Haus von den Spechten weggepickt wird. Eine eigentümliche Gemeinschaft bilden die drei, mit denen der Film im Jahr 2003 beginnt. Noch wird zusammen geschlachtet, man greift sich unter die Arme, die ehemaligen Nachbarn schauen vorbei, und der Bauer ist so rastlos beschäftigt, als ob er für immer bleiben wollte.
 
Liebevoll zeichnet der Film den zähen Rest alten Lebens in dieser abgeschlagenen Region Deutschlands. Die Erinnerungen an das Früher sind noch frisch, ebenso wie die an die Bürgerversammlung, auf der die Wessis den Leuten die Heimat abgeschwatzt hatten. Sechs Jahre später: Im Licht der untergehenden Sonne taucht wie ein Gespenst am Rand des Dorfs der Kohlebagger auf. Der Schlosser ist weg, der Norbert sowieso, aber der Bauer ist immer noch da. Bis zum letzten Tag. Was er denn machen will, wenn er im Frühjahr gehen muss? Nachhaltige Ratlosigkeit. Er war ja noch nie arbeitslos. Aber: „Was willste machen?“ Mit dieser Frage verabschiedet sich der Film von einer Lebensart, die nicht mehr konkurrenzfähig ist. Ein Heimatfilm, ohne Vorwurf oder Verklärung und mit coolem Sound.
(Matthias Heeder)
 
 

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