Workshop
Dokumentartheater & Flüchtlingskrise

Workshop - Dokumentartheater und die Flüchtlingskrise
©Goethe-Institut Alexandria/Mohamed Mostafa

Zwölf Tage lang nahmen zehn junge ägyptische Künstlerinnen und Künstler an einem Workshop für Dokumentartheater mit dem deutschen Theatermacher Jens-Erwin Siemssen teil, organisiert vom Goethe-Institut Alexandria in Zusammenarbeit mit dem deutschen Seemannsheim in Alexandria, das dieses Jahr sein 55-jähriges Bestehen feiert. Entsprechend der Titel des Workshops: Overseas.
 

Grundgedanke des Theaterworkshops war der Bezug des Alexandriner Hafens zur Stadt, dort, wo sich die großen Ambitionen und die Träume vom Auswandern und Reisen mit Angst, Tod und dem Leid von Asyl und illegaler Flucht vermischen. In diesem Zusammenhang weist Siemssen darauf hin, dass sich das Dokumentartheater insofern von anderen Theaterformen unterscheidet, als dass es auf realen Geschichten vom Leben der Menschen in der Stadt basiert, und die Aufführungen auch an den authentischen Schauplätzen dieser Geschichten stattfinden. Außerdem bediene es sich einfacher, authentischer Requisiten und Bühnenbildelemente, die die Umgebung und die Gesellschaft wiederspiegeln, in der die Geschichte spielt. Er fügt hinzu: „Alexandria, eine quirlige Stadt am Meer; zwischen Hafenwelt, Meer und Leben der Stadt und ihrer Bewohner kreuzen sich zahllose Geschichten und Schicksale. Sie stehen im Mittelpunkt dieses Workshops, es geht um den Bezug des Hafens zur Stadt. Deshalb war es uns wichtig, während des ganzen Workshops hinauszugehen und den Hafen zu erkunden, und Seeleute von ihrer Arbeit berichten zu hören. Allgegenwärtig waren die Geschichten von Flucht und Asyl, daher entschieden wir uns, das Leid der syrischen Flüchtlinge, von denen es viele in Alexandria gibt, zum Gegenstand unserer Aufführung zu machen.“
 
An dem Workshop nahm eine Gruppe junger Leute zwischen 24 und 32 Jahren teil: Ahmed El-Alfy, Ahmed Emad, Schahista Saad, Mohamed Casper, Ahmed Magdi, Mohamed Ali, Sally Mohamed, Fatma Ahmed, Adel Abdelwahab und der Gitarrist Ahmed Eweda. Sie wurden in alle Schritte der Theaterproduktion eingeführt, angefangen beim Schreiben, über Schauspiel, Rollenverteilung, Bühnenbild bis hin zur Regie und der Auswahl der Aufführungsorte.
 

Die syrische Tragödie

 
Im Laufe mehrerer Treffen sprachen die Workshop-Teilnehmer mit zahlreichen, in Alexandria lebenden syrischen Familien. Anhand dieser Geschichten wurde dann ein Theatertext verfasst, es folgten Schauspielübungen, Rollenverteilung und Regie. Die vielfältigen künstlerischen Hintergründe der Teilnehmer sorgten dabei für schnelles Vorankommen innerhalb kürzester Zeit: die einen hatten Erfahrung im Schreiben, die anderen im Schauspiel, wieder andere spielten ein Instrument – dank dieser Vielfalt gelang es den Teilnehmern, ihr Stück zu entwickeln.
 
Einige Dutzend Zuschauer verschiedenster Altersstufen und Nationalitäten erscheinen nach und nach im Garten des deutschen Seemannsheims in Alexandria, einem kleinen, zweistöckigen Haus mit Garten. Sie setzen sich im Kreis ins Freie, um sich die Aufführung anzuschauen, in der einige einfache Requisiten aus der Hafenumgebung Alexandrias verwendet werden: zum Beispiel Holzstücke von zerfallenen Booten oder Fischernetze.
 
Eine Stunde lang erzählte das Stück Geschichten von den vielen kleinen Facetten der syrischen Tragödie, angefangen bei den Kriegsschrecken in Syrien, über die Schwierigkeiten und Leiden beim Versuch, aus Syrien zu flüchten, und die schwierige Abfindung mit den harten Lebensbedingungen in den Nachbarländern, bis hin zum Fluchtversuch übers Meer nach Europa, mit all seinen Risiken, die schon Hunderte von Syrern in den Wassertod gerissen haben. Doch trotz der schmerzlichen Emotionen und der Allgegenwärtigkeit des Todes und der Kriegsleiden gerät die Aufführung nicht zu einem düsteren, melodramatischen Klagelied, sondern zeigt eine kunstvolle und durchaus ansprechende Interpretation, die an diese absurden Konflikte und Kriege teilweise satirisch herangeht. Gleichzeitig wird der Wert des Lebens betont, sowie die Notwendigkeit der Unterstützung von Flüchtlingen anstelle des rassistischen Umgangs, wie er in einigen Ländern zur Zeit vorkommt, wo Flüchtlinge das Ziel von Hetze und Rassismus durch rechtsextreme Gruppen sind.
 
Ironischerweise wird die Aufführung von einer lauten Geräuschkulisse von außerhalb der Gartenmauern begleitet: da das Seemannsheim an einer Eisenbahnstrecke liegt, und außerdem noch gegenüber des Hadara-Gefängnisses, hört man während der ganzen Aufführung das Rattern vorbeiführender Züge, Hundegebell und die Rufe der Verwandten der Gefangenen, die unterhalb der Gefängnisfenster stehen und sich mit lauter Stimme nach dem Wohlergehen der Gefangenen erkundigen. Das Erstaunliche ist, dass diese Geräusche die Aufführung nicht einfach übertönen, sondern ihr mehr Authentizität verleihen: sie stellen gewissermaßen einen realen, wirklich erlebten Rhythmus dar, der eine Parallelhandlung zu den Leiden und Gefahren der Flüchtlinge bietet.
 

Hinter den Kulissen

 
Neben dem Erfolg der Aufführung und der gelungenen Interaktion mit dem Publikum zeigt sich parallel hinter den Kulissen noch ein anderer Erfolg: die vielfältigen Erfahrungen, die die jungen Künstler erworben haben; jetzt können sie selbstständig und mit einfachen Mitteln ihre Theaterstücke entwickeln. In diesem Zusammenhang hebt Schahista Saad, Studentin an der Theaterhochschule, hervor, wie sie während des Workshops vor allem den Wert der Gruppenarbeit schätzen gelernt hat, und dass sie gelernt hat, wie man das Theater wiederbeleben kann, indem man sich aus den geschlossenen Theatersälen hinauswagt, und wie man mit einfachen Mitteln Theaterstücke entwickeln kann, die ein Ausdruck der Gesellschaft sind: „Wir haben nur einen Scheinwerfer benutzt, brauchten keine Tontechnik, verließen uns auf zwei Musikinstrumente, die bei der Aufführung live gespielt wurden, und trotzdem war das Stück ein großer Erfolg.“
 
Adel Abdelwahab, ein junger Theaterregisseur, sagt seinerseits: „Der Grundgedanke des Dokumentartheaters basiert auf der Aufgabe der Kunst in der Gesellschaft. Folglich zeigt es reale Geschichten, und die Aufführungen finden an den authentischen Schauplätzen dieser Geschichten statt. Diese Art von Theater können wir zur Zeit sehr gut gebrauchen beim derzeitigen Leben in Ägypten. Eine der wertvollsten Erfahrungen, die uns Jens während des Workshops geboten hat, war die große Freiheit, die er uns gab, sowie die Tatsache, dass die meisten Besprechungen an öffentlichen Orten wie dem Hafen und dem Meer oder auf Straßen und Plätzen stattfanden. Die Besprechungen beinhalteten unter anderem mehrere Gespräche mit Seeleuten und mit syrischen Flüchtlingen. Alles das machte den Workshop zu einem wichtigen Wendepunkt im Leben aller Teilnehmer.“



 
Der deutsche Theatermacher Jens-Erwin Siemssen studierte Figurentheater an der Musikhochschule Stuttgart und Objekttheater an der Kunsthochschule Amsterdam. 1992  gründete er die Gruppe Das Letzte Kleinod, mit der er ortsspezifische Theatervorstellungen mit meist maritimen Themen gestaltet. Die Gruppe ist in einem eigenen Zugwaggon an einem Bahnhof an der Nordseeküste stationiert und ist von daher sehr mobil. 2016 wurde sie mit dem Theaterpreis des Bundes, der wichtigsten Auszeichnung für Theater in Deutschland, ausgezeichnet.