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GOETHE-MEDAILLE 2022

Laudatio auf Mohamed Abla

Stefan Weidner: Laudatio auf Mohamed Abla, Goethe-Medaille 2022
Gehalten am 28.8. in der Weimarhalle in Weimar
Redefassung

Sehr verehrte Amtsträgerinnen und Amtsträger des Bundes, des Landes, des Goethe-Instituts und dieser schönen Stadt Weimar
Wertes Publikum, liebe Preisträgerinnen und Preisträger
Sayyidati wa s-sadati
As-sadiq al-fanan al-kabir Mohamed as-Sayyid Abla al-muhtaram

ich habe die heikle, fragwürdige Ehre, hier und heute, vor Ihrer aller Augen und Ohren, ein großes Unrecht zu begehen. Es ist ein Unrecht ausgerechnet gegenüber dem, den ich eigentlich loben soll und den ich rückhaltlos bewundere, Mohamed Abla. Meine einzige Hoffnung besteht darin, dass Sie womöglich gar nicht bemerken, Zeuginnen und Zeugen eines Unrechts zu werden. Und tatsächlich hätte ich meine Aufgabe genau dann erfüllt, wenn es mir gelänge, dieses Unrecht vor aller Augen zu begehen, und es doch so aussehen zu lassen, als sei es das Gegenteil, nämlich eine Laudatio, in der ich Mohamed Abla gerecht werden würde.

Stellen wir uns vor, da hätte sich einer, sagen wir im Jahr 1960, vor Picasso hingestellt und fünf Minuten Zeit gehabt, diesen Künstler einem völlig unwissenden Publikum vorzustellen. Wie hätte dieser Mensch Picasso gerecht werden können? Selbst wenn es aber richtig sein sollte, dass nur Picasso ein vergleichbar breites, vielgestaltiges, engagiertes Werk aufzuweisen hat wie Mohamed Abla, tue ich ihm mit diesem Vergleich doch nur wieder ein weiteres Unrecht an. Nichts wäre unsinniger, als ihn dadurch zu ehren, dass ich sagte, Mohamed Abla sei der Picasso der Araber. Der einzige Vergleich, der sich in dieser Hinsicht ziemte, bestände darin, Picasso den Mohamed Abla der Europäer zu nennen, und wenn man in nicht allzu ferner Zukunft den Kunststudierenden im arabischen Raum die dann vermutlich vergessene europäische Kunstgeschichte nahebringen will, wird man genau zu diesem Vergleich greifen. Picasso, wird man fragen, wer war das? Das war der Mohamed Abla der Europäer, wird die Antwort lauten, und alle werden verstehen, was gemeint ist: ein Künstler, der unvergleichlich ist.

Erwarten Sie von mir, dass ich in fünf ein solches Werk erkläre, Ihnen seine Entwicklung vor Augen führe? Schon der Begriff der Entwicklung wäre falsch, weil er impliziert, dass wir hier zwischen Fertigem und Unfertigem, Reifem und Unreifem unterscheiden könnten; weil er impliziert, ein solches Werk habe einen einzigen Kern, aus dem es sich entwickle, eine unverrückbare Identität. Mohamed Ablas Werk ist immun gegen solche pseudo-wissenschaftlichen Begrifflichkeiten. Es ist ein Werk, das im ständigen Dialog mit den Umständen der Zeit entsteht, das Antworten sucht, Resonanzen gewährt und, gerade in seinen Brechungen, ein Spiegel ist, kein Megaphon, in das ein aufgeblasenes Ego hineinbrüllt, das allen seine Weltsicht unterjubeln will.

Das Werk, das Mohamed Abla malt, formt und bildet, hat für mich eine epische Qualität. Und oft finden wir auf seinen Bildern auch Schrift. Dennoch sind sie nicht kalligraphisch, wie es unsere Klischees von arabischer Kunst erwarten lassen, sondern umgekehrt: Sie sind ein visuelles Alphabet, sind eine Schrift, ein Roman, der aus den Bildern selbst besteht. Ich lese daraus Ägypten und das südliche Mittelmeer, Afrika, den Nahen Osten, dazu Echos und Klänge aus Europa. Ich lese daraus die Ägypterinnen und Ägypter, ihre Zeit, ihre Politik, ihren Widerstand, ihr Durchhaltevermögen, ihre Stimmungen, Ängste, Hoffnungen. Ihre Wut und ihre Liebe.

„Ash-shi’r diwan al-arab“, lautet ein Spruch aus vergangenen Zeiten. Sinngemäß übersetzt: Die Dichtung ist das Archiv der Araber. Bei Mohamed Abla ist nun die Kunst zum Archiv der Araber geworden. Als Archäologe unserer kontaminierten Moderne fischt er den Müll aus dem Nil und verwandelt ihn in Plastiken, Kunstwerke. Mit seiner Bekanntheit als Künstler rettet er die Nilinseln und ihre angestammten Bewohner, Fischer, Fährmänner, einfache Arbeiter vor der Immobilienmafia, die daraus ein Manhattan machen will. In einer Oase weit außerhalb von Kairo gründet er ein Karikaturenmuseum und schafft einen geschützten Raum für zeichnerische Interventionen, für Kritik, Satire und Humor, dem ewigen Hassobjekt von Fanatikern und Moralaposteln aller Couleur, in Ägypten ebenso wie bei uns.

Während die berühmten Wandmalereien des arabischen Frühlings in Kairo  (hätte man daraus nicht wenigstens eine Touristenattraktion machen können?) inzwischen fast sämtlich von einer Ordnung beseitigt worden sind, die in puncto Kunst ebenso hasenfüßig ist wie die deutsche, bleiben Mohamed Ablas Bilder der Revolution in den Händen beneidenswerter Museen, Galerien und Kunstsammler gerettet. An seinem Werk macht sich somit eine neue Definition von Kunst bemerkbar: Kunst ist das, was irgendwie noch vor der Wut der übergriffigen ‚Wirklichkeit‘ gerettet werden kann, eine Arche Noah für alles Abweichende, Unbequeme, Undeutbare, Diverse, Verhasste, Ausgestoßene, Widerständige.

In Gestalt dieser archäologischen und archivarischen Dimension, in Mohamed Ablas Engagement und Aktivismus, in seiner Einmischung und Teilhabe, in seinem Mitleiden und Mitfreuen erkenne ich ein Leuchten, sehe ich ein Licht am Werk, das anderswo schon lange verloschen ist. Dass dieses Licht in Ägypten intensiver ist als hierzulande, wundert uns nicht. Aber ich meine nicht das physikalische Licht, sondern das metaphorische, das Licht des Geistes und der — wohlgemerkt künstlerischen — Offenbarung.
Ich schaue auf die Uhr. Die Zeit läuft mir davon. Sollte ich nicht am Ende in Weimar noch Goethe zitieren? In der Einleitung zur „Farbenlehre“ finden wir die folgende Strophe:

Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eigene Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?

Das sind keine Verse von Goethe selbst, er hat sie nur nachgedichtet. Die Quelle ist, seinen Worten zufolge, ein alter Mystiker. Ich möchte Ihnen verraten, wer dieser Mystiker ist. Es handelt sich nämlich um einen Ägypter! Im Jahr 205 am Nil in Asyut geboren, erhielt er seine Ausbildung im damals griechisch geprägten Alexandria. Auf einem Feldzug verschlug es ihn bis nach Persien, danach wirkte er in Rom und wurde der Begründer des Neuplatonismus. Sein Name ist Plotin.

Wie heute nur noch wenige wissen, wurde Plotin von den muslimischen Philosophen und Mystikern, den Sufis, intensiv gelesen und übersetzt. Einer der bekanntesten dieser Sufis war der im Jahr 505 muslimischer, 1111 christlicher Zeitrechnung verstorbene al-Ghazali. Er schrieb ein berühmtes kleines Buch, worin er die Lichtmystik Plotins und des Korans auf sufische Weise deutet.

Für al-Ghazali erschöpft sich das Licht nicht in seiner konkreten, physikalischen Erscheinung. Vielmehr ist bei ihm das konkrete Licht, ganz wie in den zitierten Versen bei Goethe, nur eine Metapher für das eigentliche, wahre Licht, nämlich das Licht des Geistes, das uns wiederum mit Gott verbindet. In diesem geistigen Sinn, so bin ich überzeugt, malt Mohamed Abla das Licht am Ende des langen, finstren Tunnels, in den wir, ohne es recht gemerkt zu haben, vor vielen, vielen Jahren eingefahren sind.

Es kann für uns alle daher nur ein gutes Zeichen sein, dass ihm hier und jetzt die Goethe-Medaille  verliehen wird. Applaudieren wir ihm!

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