Anne Kilpi
Internationales Übersetzertreffen zur zeitgenössischen Literatur

Übersetzertreffen_Teilnehmer
Die internationale Teilnehmerschar des Übersetzertreffens diskutierte in den Räumen des Literarischen Colloquiums Berlin über aktuelle deutschsprachige Literatur. | Foto: Marta Rosso

36 Übersetzer, Verlagslektoren und Verleger aus 27 Ländern und fünf Kontinenten, 24 verschiedene Muttersprachen, Deutsch als gemeinsame Sprache aller und Literatur als Thema. Aus solchen Zutaten kann wohl nichts anderes entstehen als interessante Gespräche und den Horizont erweiternder Kulturaustausch. Das Übersetzertreffen, das von Toledo, dem Literarischen Colloquium Berlin und dem Deutschen Übersetzerfonds in Berlin veranstaltet wurde, führte erneut eine internationale Schar von Profis im Bereich der Literaturübersetzung für eine Woche rund um die Literatur zusammen, und im Fokus stand diesmal die deutschsprachige Gegenwartsliteratur.

Die heutige deutschsprachige Literatur ist multikulturell und lebt in der Zeit; der ethnische Hintergrund vieler aktueller Autorinnen und Autoren deckt ein breites Spektrum ab, und Deutsch ist keineswegs die erste Sprache aller auf Deutsch Schreibenden. Dies schlägt sich auch in den Themen nieder, die in der aktuellen Literatur behandelt werden. Weitere Elemente sind Themen, die im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion stehen, etwa die Vielfältigkeit der Menschheit oder der Klimawandel – und andererseits analysiert und verarbeitet die deutschsprachige Literatur weiterhin auch die Bürde des Krieges und die Problematik der Nachkriegszeit.
Einen vielseitigen Überblick über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der Seminarwoche u.a. von Prof. Ulrike Vedder (Humboldt-Universität Berlin), dem Journalisten und Literaturkritiker Jens Bisky (Süddeutsche Zeitung), dem Verleger Peter Graf (Das kulturelle Gedächtnis) sowie zahlreichen Autorinnen und Autoren. Zum Abschluss der Woche verbrachten wir zwei Tage auf der Leipziger Buchmesse, wo wir uns aus dem vielseitigen Programm die für uns selbst interessantesten Bissen herauspicken konnten.
 

Von Buenos Aires nach Berlin

Zu den namhaftesten Gästen der Seminarwoche zählte die aus Argentinien stammende Schriftstellerin Maria Cecilia Barbetta, nach deren jüngstem Roman „Nachtleuchten“ das Übersetzertreffen benannt war. Der in Buenos Aires spielende Roman, der für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert war, erzählt von der Zeit vor der Militärdiktatur in Argentinien und von Menschen, deren Wege sich in der städtischen Gemeinschaft während der großen Umwälzungen auf die eine oder andere Art kreuzen. Barbetta schrieb acht Jahre an ihrem Roman – nach ihren eigenen Worten zum Teil deshalb, weil das Thema ihr Angst machte. Schauplatz der Geschichte ist das Viertel, in dem sie früher selbst wohnte, und auch die Figuren des Romans haben reale Vorbilder.
„Die Geschichte ist gewissermaßen eine Mischung aus den beiden Welten, in denen ich mich zu Hause fühle“, erklärte Barbetta.
Die Sprache des Romans ist kunstvoll und vielschichtig; es ist erstaunlich, wie eine Autorin, die die Sprache erst als Erwachsene gelernt hat, so schreiben kann.

„Die Dinge werden irgendwie lebendiger, wenn ich auf Deutsch schreibe. Auf Deutsch kann ich eine gewisse Leichtigkeit vermitteln, die es in meiner Muttersprache nicht gibt. Das Geheimnis des Schreibens in einer fremden Sprache liegt auch darin, dass man eine fremde Sprache konkreter wahrnehmen kann als die eigene  Muttersprache“, erklärte Maria Cecilia Barbetta und fügte hinzu, dass sie ihre Texte immer laut liest, um sich zu vergewissern, dass sie so klingen wie beabsichtigt.

Maria Cecilia Barbettas Erstlingsroman „Änderungsschneiderei Los Milagros“ ist auf Finnisch (übersetzt von Liisa Ryömä) unter dem Titel „Muodistamo Los Milagros“ im Verlag Atena erschienen. Ich hoffe, dass auch der Roman „Nachtleuchten“ eines Tages der finnischsprachigen Leserschaft zugänglich ist.
   

Preis der Leipziger Buchmesse an Anke Stelling

Zu den interessantesten Gästen der Woche zählte die in Berlin lebende Autorin Anke Stelling. Ihr Roman „Schäfchen im Trockenen“ ist eine kritisch-scharfsichtige und sehr persönlich wirkende Schilderung des Lebens der Berliner Mittelschicht, die zeigt, wie Lebensentscheidungen und Geld sich auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirken können. Die Protagonistin, eine Schriftstellerin, trägt den trefflich gewählten Namen Resi, der von dem griechischen Wort „parrhesia“ abgeleitet ist, das bedeutet, die Dinge offen beim Namen zu nennen – auch wenn es schmerzt. Wir waren Zeugen, als dieses eindrückliche Zeitbild mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde; die Jury charakterisierte den Roman mit den folgenden Worten: „In Anke Stellings Roman einer Aufsteigerin werden die starken Affekte – Wut, Zorn, Stolz – literarisch produktiv. Im Rückblick auf verlorene Illusionen entsteht eine verstörend uneindeutige, scharf belichtete Momentaufnahme der Gegenwart.“


Der Schweizer Arno Camenisch interpretiert seinen eigenen Text. Der Schweizer Arno Camenisch interpretiert seinen eigenen Text. | Foto: Marta Rosso Bedeutende und interessante deutschsprachige Prosa wird natürlich auch außerhalb Deutschlands verfasst, und vor allem die Namen der Schweizer Peter Stamm und Arno Camenisch wurden in den Gesprächen im Lauf der Woche häufig genannt. Den ersten kannten – und mochten – die meisten Seminarteilnehmenden aufgrund ihrer eigenen Übersetzungstätigkeit, und der letztere beeindruckte spätestens bei seinem Besuch im „Hauptquartier“ des Literarischen Colloquiums Berlin in Berlin-Wannsee, wo die Vorträge und Diskussionen stattfanden. Camenisch nahm die Übersetzerinnen und Übersetzer nicht nur durch sein charismatisches Auftreten für sich ein, sondern auch dadurch, dass er großes Interesse am Übersetzungsprozess seiner Werke zeigte und versicherte, den Übersetzenden bei Bedarf nach bestem Vermögen zu helfen. Camenisch selbst ist zweisprachig und schreibt sowohl auf Rätoromanisch als auch auf Deutsch. Sein jüngster, 2018 erschienener Roman „Der letzte Schnee“ behandelt den Klimawandel und andere grundlegende Veränderungen des Lebens in Form eines Gesprächs zwischen zwei Männern, die ihr ganzes Leben in den Alpen verbracht haben, und hielt sich wochenlang auf der schweizerischen Bestsellerliste; der Roman wurde auch als Favorit der deutschsprachige Bücher verkaufenden Buchhandlungen der Schweiz ausgezeichnet. Camenischs Werke wurden bereits in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
 

Übersetzungen deutschsprachiger Literatur rückläufig
 

Zeitgenössische deutschsprachige Prosa wird derzeit bedauerlich wenig ins Finnische übersetzt, und auch in anderen Ländern herrscht eine ähnliche Situation. In den Gesprächen im Lauf der Woche wurden mögliche Gründe genannt: Die deutschsprachige Literatur gilt vielleicht in gewisser Weise als schwierig, und wirklich zugkräftige Autorennamen sind im 21. Jahrhundert bisher nicht hervorgetreten – zum Beispiel im Vergleich zur Nachkriegszeit. Andererseits ist die Konkurrenz auf dem Buchmarkt härter geworden, da auf dem Feld der Weltliteratur neue Länder (z. B. Skandinavien im Bereich der Spannungsliteratur) in Erscheinung getreten sind. Auch die Vermarktungsfähigkeit der Autorinnen und Autoren hat große Bedeutung für den Verkauf.
Das Übersetzen deutschsprachiger Literatur wird jedoch gefördert, und es gibt sowohl für Übersetzer als auch für Verlage mehrere Möglichkeiten, Beihilfen für Übersetzungsprojekte zu beantragen; beispielsweise sind die verschiedenen Förderungen des Goethe-Instituts, der Stiftung Pro Helvetia und des Toledo-Fonds für Verlage und Übersetzer eine bedeutsame Hilfe, die bei Übersetzungsprojekten unbedingt genutzt werden sollte. Es steht zu hoffen, dass diese Zuwendungen dazu ermutigen, neben sicheren Verkaufshits auch andere Werke in die Verlagsprogramme aufzunehmen. Für Übersetzerinnen und Übersetzer sind Veranstaltungen wie das Übersetzertreffen, mehrsprachige Workshops und Residenzstipendien inspirierend und bieten die Möglichkeit, praktisches Werkzeug und neuen Schwung für die Arbeit zu erhalten.