Anna Gielas
In Sysmä eingetaucht

Villa Sarkia
Foto: Anna Gielas

In welcherlei Lande dich würdest du wähnen, wenn weithin
Ruhet die Flur in heiligem Schimmer der Mitternachtssonne,
Wenn im purpurnen Abend verschwamm sanftäugig das Ostroth
Und der unendliche Himmel, ein safranfarbiger Teppich,
Lichtet zum milderen Tage die Nacht…

 
Mit diesen Zeilen des Dichters August Thieme komme ich im Dorf Sysmä an, rund drei Stunden nördlich von Helsinki. Thieme schrieb 600 Verse über seine Zeit in Finnland und veröffentlichte sie im Jahre 1808. Über zwei Jahrhunderte später ist der Himmel über Sysmä nicht safranfarbig sondern golden. Der Ort begrüßt mich mit einem warmen Sommertag. Und ich suche eine Villa namens Sarkia.
 
Villa Sarkia und ihr großer Garten befinden sich am Rand des Dorfes. Sie beherbergt jährlich Schriftsteller aus der ganzen Welt. In der Villa sind zu jedem Zeitpunkt drei Autoren untergebracht. „Die kurzen Literaturresidenzen in der Villa Sarkia soll Autoren und Übersetzern ein Umfeld bieten, in dem sie in Ruhe arbeiten und zur Vielfalt des kulturellen Lebens von Sysmä beitragen können“, so der Wunsch der Literaturvereins Nuoren Voiman Liitto. Der Verein stellt (in Zusammenarbeit mit der Verwaltung Sysmäs) seinen Stipendiaten die Unterkunft und alles was sie brauchen zur Verfügung. 
 
Der Literaturverein entstand 1921 und ist eine gemeinnützige Organisation. Sie fördert auch finnische Schriftsteller und organisiert Kulturveranstaltungen. Außerdem gibt Nuoren Voiman Liitto die Literaturzeitschrift „Nuori Voima“ heraus. Zu dem etablierten Periodikum haben bereits die französischen Philosophen Michel Foucault, Roland Barthes und Jacques Derrida beigetragen. Auch Walter Benjamins Texte wurden in „Nuori Voima“ veröffentlicht. Alle Ausgaben des Periodikums tummeln sich in den Regalen der Villa Sarkia.
 
Sysmä hat knapp vier tausend Einwohner – sowie einen Camping-Platz, zwei große Supermärkte und keine Zäune. Im Sommer schwillt die Seelenzahl des Örtchens beträchtlich an: Urlauber aus anderen Teilen Finnlands strömen nach Sysmä. Geschäfte, die in den Wintermonaten trist und langweilig wirken, bekommen im Sommer neue Farben, neuen Glanz. Die Seen, in den kälteren Monaten kaum von einer Welle erfasst, sind im Sommer mit Booten, Wasser-Skiern, Schwimmern, Anglern und vielen mehr übersät. 
 
Stipendiaten, die im Sommer vor Ort sind, organisieren das lokale Literaturfestival Kirjakyläpäivät mit. Außerdem gibt es hier auch das Festival für klassische Musik - Sysmän Suvisoitto. Daneben finden jährlich das Dorffest Uotinpäivät und das lokale Rockmusikfestival Pajularock statt. 

Kirche zu Sysmä Foto: Anna Gielas Ich komme im späteren Sommer nach Sysmä – begegne einem scheinbar verlassenen Dorf. Und auch in der Villa Sarkia ist es meistens völlig still. Die Villa hat sechs Zimmer. Jeder der drei Stipendiaten hat sein privates Reich, die restlichen drei Räume werden geteilt. Dazu gehören auch die großflächigen, miteinander verbundenen Wohn-und Esszimmer. Die Sauna befindet sich im Keller, das Klavier im Esszimmer. Drucker, Musikanlage und auch einen überdimensionierten Flachbildfernseher gibt es hier. Der Fernseher bleibt die meiste Zeit aus. Dagegen surrt regelmäßig der Drucker: Die Autoren tippen nicht nur, sondern arbeiten auch gerne auf Papier.
 
Einem Gesicht begegne ich besonders häufig in der Villa Sarkia. Es sind die feinen Züge von Kaarlo Sarkia. Die Villa gehörte einst ihm. Sarkia lebte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und war Dichter. Seine Werke sind stark durch die Romantik geprägt. Einige finnische Literaturwissenschaftler vergleichen Sarkia mit dem englischen Dichter John Keats.
 
Kaarlo Sarkia begleitet die Stipendiaten durch den Tag. Beim Essen sehen sie seine Fotos in der Vitrine, beim Arbeiten schweifen ihre Blicke zu seinen Gedichtsbänden im Regal. „Sarkia war auch ein Übersetzer“, informiert mich die Bibliothekarin Minna Pollari. Sie ist vor Ort in Sysmä die Ansprechpartnerin der Stipendiaten. Wir drei Stipendiaten arbeiten mal in der Villa, mal in der Bibliothek. Die Bibliothek suggeriert mit ihrer weiten Halle viel Freiraum, die Villa mit ihren Sofas und weichen Teppichen feine Gemütlichkeit. Und wir suchen uns aus, was uns gerade lieber ist.
 
Pferd in der Bibliothek_Marjatta Tapiola Foto: Anna Gielas Die Bibliothek, von außen der modernste Bau des Dorfes, trägt Kunst der in Sysmä geborenen jedoch weit über ihren Geburtsort hinaus bekannten Malerin Marjatta Tapiola. Das Bild „Horse and Crow“ hängt in der Bibliothekshalle. Es beflügelt die Phantasie und bringt mich dazu – fernab meiner politischen Prosa – mein erstes Märchen zu schreiben.
 
Am Abend schwitzen wir drei Schreibende bei fast 90 Grad in der Sauna. Sarkia und auch andere finnische Lyriker haben über die Sauna gedichtet. Wer sich auf die Gedichte einlässt, merkt rasch wie tief die kleinen, dunklen Wärme-Höhlen in den Erinnerungen und Identitäten der Dichter verankert sind. Manche von ihnen sind gar in der Sauna zur Welt gekommen. Es scheint, dass die Sauna für viele Finnen der Ort der glücklichsten Kindheitserinnerungen ist. „Haben wir Deutsche einen solchen kollektiven Ort des Glücklichseins?“ frage ich mich zwischendurch.
 
Unterhalb der Woche treffe ich bei Spaziergängen durch das Dorf niemanden. Als mir endlich jemand entgegenkommt, ist es einer meiner Mit-Stipendiaten. Doch am Wochenende füllt sich das lokale Hotel, manchmal auch das kleine Theater (Sysmän Teatteritalo). Es stimmt schon: Die Finnen sich zurückhaltend. Sie mögen ihre Ruhe, ihren Abstand, gehen ihrer Arbeit nach. Aber ihre Wochenenden gehören der Geselligkeit. „You are from Germany?“ Ich nicke. „Saksa“, sage ich und frage mich, ob ich gerade „Deutschland“, „deutsch“, „Deutsche“ oder „Deutscher“ gesagt habe.
 
Wir Stipendiaten spielen mit dem 19-jährigen Alex eine Runde Billard. Alex will zum Militär, weil es hier auf dem Land kaum Perspektiven für ihn gibt. Der 61-jährige Teemu stößt zum Billard dazu. „Meine Eltern haben mir finnische und englische Gedichte vorgelesen als ich klein war“, erzählt er uns. Wir spielen und diskutieren Poesie. Weil wir immer angeheiterter werden, erstreckt sich ein Billardspiel über lange Zeit und wir wechseln von Poesie zu Literatur. Der lange Abend endet, als keiner von uns mehr sagen kann, ob die Antwort „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ in Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“ die Zahl 42 oder 43 war.

Sonnenuntergang in Sysmä Foto: Anna Gielas
 
Mit nur 43 Jahren starb Kaarlo Sarkia an Tuberkulose. Das war im Jahr 1945. Dank der Villa Sarkia Literaturresidenz kommen spätere Generationen von Autoren und Autorinnen mit ihm und seinem Werk in besondere Berührung.
Wie Sarkia vor mir tauche ich in die Stille von Sysmä. In dieser Stille höre ich die Gedanken und Stimmen meiner Protagonisten besonders laut und klar. 
 
Dr. Anna Gielas
 
 
 
SYSMÄ
 
WOCHE I. Vergleiche

Erst einmal stolperst du.
über die Farben der Dächer:
Rot, Grün, Braun,
ihre Linearität
anders als die Farben und Formen deiner Heimatstadt
Du erkennst: Nie hinterfragst du die Dächer deiner Heimat

 
WOCHE II. Beobachtungen

Beobachtung x.
Sysmä hat keine Zelle, um auszunüchtern
Sysmä hat keinen künstlichen Atem, um am Leben zu halten
Sysmä hat ein Beerdigungsinstitut

 
Beobachtung xy.
Nur das Verwaltungsgebäude hat einen Zaun
und nur dieses Gebäude
ist von Bäumen umgeben in denen Vögel ohne Luftholen zwitschern zu Hunderten
Sie diskutieren den Zaun: wie der Mensch es schafft, auf ebener Erde Hierarchie
zu schaffen
und überlegen, wie ihre Nester: tief, tiefer, hoch, höher entlang der Bäume,
niemals Ungleichheit
zulassen

 
WOCHE III. Fragen

Wenn die Cafés und Bars am späten Nachmittag schließen und Stille einkehrt
Die hellen Farben der Poster blenden, mit Versprechungen,
der Bier-Werbung

"Go to town, enjoy life"
Plakate füllen ganze Fenster
Tarnen die Leere
"Went to town"
 
Wie oft lassen sich geschlossene Lokale passieren
bevor der Durst
alle Gedanken füllt?
 
Wie viele geschlossene Restaurants lassen sich passieren,
ohne einen Hunger zu entwickeln
für alles da draußen,
das hier drinnen fehlt?

 
WOCHE IV. Ankunft
Spätsommersonne zeichnet Sysmä, mit Rissen im Asphalt und Sprüngen in Glasscheiben,
Das Ende des Tages, die letzten Sonnenstrahlen, der letzte Beweis des Sommers
verweilt
unwillig Sysmä zu verlassen
 
Die Vogelbeere leuchtet noch immer rot
gegen die grün-gelblichen Blätter
(die bereits vom kommenden Schnee und von Kälte flüstern)
 
Ich atme ein
die Vogelbeere,
die Risse der Straße,
das Klebeband, das die Glasfenster an der Hauptstraße zusammenhält
ich atme ein den Nebel des Se
eufers
und komme in Sysmä an