Kerstin Schroth
Who does not tour internationally is non-existent, right?

Flughafen_Juist
Einer der kleinsten Flughäfen von dem ich je geflogen bin ist auf der Insel Juist. Der Check-in liegt neben Heuhaufen und einem Wanderweg ins Watt. Dieser Flughafen hat etwas so extrem Lokales und weißt gleichzeitig auf die internationale Anbindung hin. | Bild: Kerstin Schroth

Who does not tour internationally is non-existent, right? Diese Frage nach Sichtbarkeit und letztlich nach Karrierechancen für selbstproduzierende Künstler*innen, stellte mir eine junge Choreographin in einem der ersten Kurse zum Thema Produktion und Management, den ich an der Universität Gießen gab. Die Entwicklung der Szene der darstellenden Künste seit den 80/ 90er Jahren beantwortet diese Frage mit einem klaren JA. Dieses Feld ist vor allem groß geworden, konnte wachsen und an internationaler Bedeutung gewinnen, weil grenzübergreifend gearbeitet, studiert, recherchiert und vor allem auch eingeladen, aufgeführt und gefördert wurde. Entstanden ist ein Netzwerk an kollaborierenden Theatern, Festivals, Produktionsbüros und Künstler*innen.

Wenn ich aufmerksam durch meine Kollektion der Programmhefte von Theatern und Festivals der letzten ca. 10 bis 15 Jahre blättere, dann sehe ich folgende Entwicklung: Es werden sehr viel mehr Stücke durch länderübergreifende Netzwerkkooperationen produziert bzw. finanziell unterstützt als früher. Die Anzahl der aufgeführten Stücke in Theatern und im Rahmen von Festivals in diesem Zeitraum hat sich nahezu verdoppelt. Zudem versuchen immer mehr Künstler*innen, ihre Stücke (lokal, national, international) aufzuführen und auf Tour zu bringen. Meiner Annahme und Recherche nach verkürzen sich dadurch oft Probenzeiten und die Stücke haben eine kurze, oder nur sehr geringe, Sichtbarkeit. Aufführungszeiträume sind meistens nicht lange genug, um neues Publikum zu gewinnen und die Presse zu mobilisieren. Bevor ein Stück in aller Munde ist, ist es oft schon abgespielt, verpufft wie eine Seifenblase.

INTERNATIONAL versus lokal?

Wenn wir über die internationale Zirkulation von Stücken sprechen und, verbunden damit, über die Unterstützung der Künstler*innen in den Ländern, in denen sie leben, stellt sich mir die dringende Frage nach der Nachhaltigkeit beim Produzieren und Aufführen der Arbeiten. Und damit geht zusätzlich die Frage einher: wie haben wir gearbeitet, wie arbeiten wir und wie möchten wir in dieser Szene in Zukunft in einer Welt arbeiten, in der der Klimawandel eine immer größere Rolle spielt und in die öffentliche Wahrnehmung rutscht.
Wie kann es also heute weiter gehen mit den darstellenden Künsten, mit einer Szene, in der alles auf Austausch und internationale Sichtbarkeit fokussiert ist?
 
Es lässt sich sehr schnell gegen internationales Reisen argumentieren und die Frage stellen, wie Kunstorte, Festivals und Theater heute nachhaltiger Aufführungen zeigen können, ohne dass Künstler*innen in den Flieger steigen müssen. Aber kann es eine Lösung sein, uns komplett in unsere lokalen Dörfer zurückzuziehen? Dabei würden wir tatsächlich ausblenden, dass die Szene gerade durch ihre internationale und nationale Öffnung gewachsen ist, durch den weltweiten Austausch mit Kolleg*innen und Publikum. Und es wird dabei auch vergessen, dass für viele Künstler*innen damit auch finanzielle Fragen verbunden sind. Tourneen sichern neben Förderungen auch das Einkommen von Choreograph*innen, Tänzer*innen, Techniker*innen, Produzent*innen etc. und tragen dazu bei, dass Stücke eine längere Lebensdauer haben, was nicht gegeben ist, wenn Künstler*innen nur lokal agieren können.

INTERNATIONAL UND NACHHALTIG, WIE GINGE DAS?

Sprichwörtlich den Fuß vom Gas zu nehmen würde nicht nur bedeuten, Flug- durch Bahnreisen zu ersetzen, sondern auch, darüber nachzudenken, ob Theater und Festivals Stücke über längere Zeiträume zeigen könnten, ob Stücke öfter wieder aufgenommen werden könnten, statt jeden zweiten Abend ein neues Stück, eine*n andere*n Künstler*in zu präsentieren.
 
Wir könnten außerdem darüber nachdenken, wie die schon entstandenen Netzwerke und der entstandene Austausch dazu genutzt werden könnten, die Tourneen der Künstler*innen nachhaltiger zu gestalten, um zu vermeiden, dass eine Gruppe zum Beispiel von Berlin nach Helsinki für ausschließlich zwei Vorstellungen reist. Dieselbe Gruppe könnte von Helsinki aus weiter an andere Orte Finnlands reisen - oder nach Norwegen, Schweden, Estland -, umliegende Länder und Städte bereisen. Diese Art von Zusammenarbeit nimmt nicht nur den Druck von unserer strapazierten Umwelt, sondern spart und teilt Kosten und erlaubt es, dass Stücke länger gespielt werden können und damit sichtbarer sind.

DIE SOMMER.BAR ALS ORT DES INTERNATIONALEN UND LOKALEN AUSTAUSCHS

2006 entwickelte ich das Festival sommer.bar in Berlin (im Rahmen von Tanz im August), das aus zwei Fragestellungen geboren wurde:
  • Warum ein internationales Festival wie Tanz im August, das Künstler*innen aus der ganzen Welt in die von Künstler*innen vibrierende Stadt Berlin bringt, so wenig den Austausch mit der lokalen Tanzszene sucht?
  • Gibt es eine Möglichkeit, diesen Austausch zu fördern, die lokale Szene stärker in dieses Festival einzubinden und als Nebeneffekt einen Rahmen zu schaffen, der es den anreisenden Künstler*innen ermöglicht, länger in Berlin zu bleiben, andere Arbeiten zu zeigen, zu recherchieren, zu proben, oder etwas Neues zu erarbeiten?
Kerstin Schroth Bild: Mariangela Pluchino Neben diesen Überlegungen interessierte ich mich dafür, mit unterschiedlichsten Räumen zu arbeiten, unter Ausschluss des klassischen Theaterraums, und dadurch verschiedenste Formate zu präsentieren. sommer.bar wurde ein Arbeits- und Aufführungsort und ein Ort des Austausches in Form eines Festivalzentrums im Herzen von Tanz im August. Ein Ort auch, der anders mit Ressourcen umging (wenn ich Künstler*innen mal ausnahmsweise so nennen darf). Fast alle von außerhalb zu Tanz im August anreisenden Künstler*innen machten auch etwas in der sommer.bar. Dadurch verlängerte sich ihr Aufenthalt in der Stadt und das Publikum hatte die Möglichkeit, unterschiedliche Facetten von ihnen kennen zu lernen.

DER AUSTAUSCH BEI MOVING IN NOVEMBER UND FRAGEN, DIE BLEIBEN

Die letzte Ausgabe der sommer.bar kuratierte ich 2011. Die Fragestellungen, die damals zur Entstehung der sommer.bar geführt hatten, haben mich weiterhin beschäftigt. Seitdem ich die Künstlerische Leitung für das Tanzfestival Moving in November in Helsinki übernommen habe, denke ich wieder verstärkt darüber nach: Was kann die Aufgabe des Festivals in einer Stadt wie Helsinki sein, umgeben von einer kleinen, aber feinen Tanzszene, wie kann Austausch zwischen den anreisenden Künstler*innen und der lokalen Szene entstehen? Wie kann das eine ein Motor und Unterstützung für das andere sein?
 
Grundsätzlich finde ich es immer wichtig und spannend, die Künstler*innen einzubinden und die Frage zu stellen: was benötigt ihr und wie möchtet ihr aufführen und produzieren? Die Antworten können sehr individuell ausfallen. Nicht alle streben eine internationale Karriere an, nicht alle möchten halb-jährlich neue Stücke produzieren und proben. Und da müsste auf kulturpolitischer Ebene angesetzt werden mit Fördersystemen, die offener sind, mehr Spielräume bieten, auf individuelle Karrieren zugeschnitten sind und damit freier anwendbar wären.
 
Was würde passieren, wenn längere Probenzeiten und mehr Aufführungstage gegen das Erarbeiten von weniger Produktionen eingetauscht werden würden?
Wenn Kreativität, Vielfalt und die Persönlichkeit der jeweiligen Künstler*innen nicht gleichgesetzt werden würde, nur um möglichst viele Ideen in kurzer Zeit zu verwirklichen? Wenn der Erfolg von Spielorten und Festivals nicht daran gemessen werden würde, wie viele Premieren und unterschiedliche Stücke sie in kürzester Zeit in ihrem Programm unterbringen können?
 
 
Moving in November ist ein in der Hauptstadtregion Helsinki jährlich stattfindendes Festival für zeitgenössischen Tanz, das zu internationaler wie lokaler Tanzkunst einlädt.

Weitere Informationen: www.liikkeellamarraskuussa.fi