Future Perfect
Pflückt euch die Stadt!

Pflückt euch die Stadt!
© David Borgwardt

Wo kann man in Berlin Leckeres ernten oder auf kleinstem Raum produzieren? Anja Fiedler entwickelt dafür Ideen mit ihrem Projekt Stadt macht satt.

Ausgerechnet die trostlose Grünfläche hinter dem Berliner Nordbahnhof hat sich Anja Fiedler als Start für unseren Rundgang ausgesucht. Wo bitte soll es hier Genießbares geben? Schon zeigt sie auf eine Gruppe von Birkenbäumen. „Hier habe ich im Frühjahr Saft abgezapft. Ein bis zwei Liter spendet ein Baum pro Tag. Daraus mache ich einen köstlichen Sirup“, sagt Anja Fiedler. Weiter geht es zu den Brombeersträuchern. „Die brauchen noch“, weiß die zarte 42-jährige Frau, die resolut zupacken kann. Wir kommen zu einem Essigbaum. Aus den roten Blüten stellt sie Limonade her. An den Wildrosen müssen wir schnuppern. Sie duften herrlich. „Daraus mache ich Gelee“, ruft Anja Fiedler, während sie auf einen prächtigen Holunderbusch zuschreitet. „Die Blüten verarbeite ich zu Pickles oder frittiere sie, aber meine Spezialität ist der Sirup.“ Dafür legt sie die Blüten drei Tage in Wasser ein. Ihre Badewanne muss für 80 Liter Sirup als Behälter dienen.
Wer mit Anja Fiedler auf Beutezug geht, erlebt die Stadt von einer neuen, unbekannten Seite: als Garten, der eine ungeahnte Fülle bereithält. „Berlin ist eine essbare Stadt“, sagt sie, „das hätte ich vor vier Jahren noch nicht gedacht.“ Damals ging sie der Frage nach, was es in Berlin zu ernten gibt. Mehr als man denkt, fand sie: Obst, Beeren, Blüten, Nüsse, Kräuter und Pilze. Wenn diese nicht in Privatbesitz sind, gehören sie zum Gemeinschaftseigentum und können legal geerntet werden. „Ich nehme jedoch nichts vom Boden oder von befahrenen Straßen“, erklärt Anja Fiedler. „Friedhöfe finde ich ideal, weil die oft einen alten, ertragreichen Baumbestand haben, dort keine Hunde hinkommen und der Feinstaub durch Mauern abgehalten wird.“
Die vielen weggeworfenen oder ungenutzten Lebensmittel in Berlin brachten sie auf die Idee von Stadt macht satt. Fiedler zeigt seitdem Lehrern und Schülern und allen, die es wissen wollen, wo es Essbares umsonst gibt: etwa in den vielen Parks und Wäldern in und rund um Berlin, aber auch in Supermärkten und Bäckereien, die ausgemusterte Lebensmittel aussortieren. Oder in den Gärten von Privatpersonen, die ihre Äpfel lieber pflücken lassen, bevor sie zu Fallobst werden. Daraus hat Anja Fiedler ein weiteres Stadt macht satt-Projekt entwickelt: Apfelschätze. Die Teilnehmer ernten die Äpfel in Privatgärten nicht nur, sie pflegen auch die Bäume. Im Winter organisiert Anja Fiedler regelmäßig Schnittkurse.

Dabei habe sie das Gärtnern als Kind gehasst, erzählt sie heute als Mutter einer fünfjährigen Tochter. Sie wuchs in einem Haus mit Garten in Ravensburg-Weingarten auf. „Wir konnten im Sommer nie wegfahren, denn da wurde alles reif“, erinnert sie sich.

Inzwischen dienen ihr Obst und Gemüse sogar als Währung. „Ich bezahle sehr viel mit Lebensmitteln, zum Beispiel die Videoclips für meine beiden Homepages“, erzählt Fiedler. „Unser so billig gewordenes Essen erhält wieder einen ganz neuen Wert, wenn es gegen Dienstleistungen aufgerechnet wird.“

Seit 1997 arbeitet Anja Fiedler als freischaffende Konzeptkünstlerin und Kulturmanagerin. In den letzten Jahren widmete sie sich verstärkt nachhaltiger Kunst und kultureller Bildung. Beim Ideenwettbewerb „Weltverbesserer gesucht“ der Zeit-Stiftung wurde sie im letzten Jahr ausgezeichnet und auch die UNESCO würdigte Stadt macht satt 2012 und 2013 als vorbildliches Projekt, das nachhaltiges Denken und Handeln vermittelt.
„Ich will ein Bewusstsein schaffen für den wahren Preis von Lebensmitteln und essentiellen Ressourcen für ein gutes Leben,“ erklärt Anja Fiedler, „denn in der heutigen Wirtschaft klaffen Marktwert, reale Kosten und Nutzen oft auseinander. Bei Lebensmitteln wird der Preis durch Subventionen, Ausbeutung der Hersteller und Discounter-Monopole verzerrt.“

Fiedler verdeutlicht das an einem Beispiel: Früher habe sich Deutschland mit Äpfeln fast komplett selbst versorgt. Inzwischen werde mehr als die Hälfte importiert. „Die Lagerung ist das Teuerste,“ erklärt sie, „deshalb kommen kaum noch Winteräpfel in die Läden.“ Die müsse man nämlich mindestens zwei Monate lagern, bevor sie genießbar seien. Stattdessen beschränke sich der Handel auf sechs, sieben industriell produzierte Apfelsorten und mache sie mit viel Energie- und Ressourcenaufwand haltbar. Dass es auch anders geht, wird uns Anja Fiedler nach der Tour zeigen: In flachen Holzkisten im Keller stapelt sie ihren Jahresvorrat selbstgepflückter Äpfel, deren Duft sich auch im Treppenhaus verbreitet.

Unser Rundgang geht weiter zur Tieckstraße, die von Maulbeerbäumen gesäumt ist. Deren Früchte trocknet Fiedler und verwendet sie wie Rosinen. Das eigentliche Ziel unseres Beutezuges ist der Dorotheenstädtische Friedhof, wo das Who-is-Who der geistigen Elite Deutschlands begraben liegt. Doch heute halten wir nicht nach den Gräbern von Berthold Brecht, Heinrich Mann und Christa Wolf Ausschau, sondern nach Tannen. Anja Fiedler will ihre Spitzen ernten. Immer wieder bleibt sie stehen, probiert die hellgrünen Triebe und kommentiert: „Schon drüber“, „etwas bitter“ und „nicht mehr zart genug.“ Endlich ist sie zufrieden, als wir zu einem imposanten Baum kommen, dessen Äste sich bis zum Bogen biegen. Sie kaut auf einer Spitze herum, als ob sie eine Delikatesse teste. „Die hier sind perfekt!“, ruft sie begeistert.

Nun heißt es ernten! „Wir brauchen ein halbes Kilo“, sagt Anja Fiedler. Eine ganze Menge, doch Korb und Beutel sind schnell gefüllt. „Ja, das ist der Ernterausch!“, freut sie sich. Wird sie denn niemals komisch angeschaut beim Pflücken auf Friedhöfen und in Parks? „Seltsamerweise nicht“, erzählt sie. „Die Leute sind interessiert und fragen, was ich damit vorhabe.“ Senf, Pickles, Sirup, Tee, Hustensaft, Pesto, Konfekt und sogar Schnaps antworte sie dann.

Bei ihr zu Hause ankommen, püriert sie die Tannenspitzen mit mildem Essig, Roggenmehl und Meersalz und füllt die Mischung in Gläser. Zwei bis drei Wochen müssen die nun stehen. So lange wollen wir nicht warten. Deshalb stellt Anja Fiedler frisches Brot und ein Glas fertigen Senf auf den Tisch. Ein Gaumenkitzel mit exquisitem Aroma. „Inzwischen bestellen den Senf auch Berliner Gourmet-Köche bei mir“, erzählt sie.

„Seit ich in solchen Delikatessen schwimme, lade ich gern Leute zum Essen ein“, berichtet sie. Es habe sie und ihre Familie enorm bereichert, dass jedes Essen nun durchs Ernten und Verarbeiten mit besonderen Erlebnissen verknüpft sei: Die selbst gepflückten Äpfel für den Apfelkuchen, die Gojibeeren fürs Müsli, der selbst angebaute Salat auf der Fensterbank.

„Zwar können wir Städter uns nicht vollständig selbst versorgen, aber durch das eigene Anbauen, Ernten und Kochen kommen wir der Natur und unseren Lebensmitteln wieder ein Stück näher, räumt sie ein. Deshalb gibt Anja Fiedler auch Kurse und zeigt, wie man auf kleinstem Raum Obst, Kräuter und Gemüse züchten kann. „Wo Gemüse wächst, gedeihen auch neue soziale, ökologische und ökonomische Formen des Zusammenlebens, die wir dringend brauchen“, sagt sie. „Und nicht nur das: Unsere Städte werden auch schöner und grüner.