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Amandine Gay im Gespräch
Die doppelte Schwierigkeit, eine Frau und schwarz zu sein

Amandine Gay
Amandine Gay | © Nathalie St-Pierre

Amandine Gay, die Regisseurin des filmischen Manifests „Ouvrir la voix / Speak up, make your way“, möchte junge afrikanischstämmige Französinnen und Belgierinnen zu Wort kommen lassen. Ihr selbstproduzierter Dokumentarfilm hatte im Oktober 2017 in Paris Premiere und tourt nun nach einem erfolgreichen Start durch Frankreich und andere Länder, begleitet von seiner unermüdlichen Regisseurin, die sich selbst als „afrikanischstämmig, schwarz, anonym geboren, Cisgender, Afro-Feministin, pansexuell, antikapitalistisch, antirassistisch, antiheteronormativ, Agnostikerin, Afro-Punk, Pro-Choice- (Abtreibung, Kopftuch, Sexarbeit) und Body-Positivity-Anhängerin“ bezeichnet und so Sprachrohr einer ganzen Generation von Afro-Europäerinnen ist, die mit Klischees endgültig aufräumen wollen.

Seit wann vertreten Sie eine afro-feministische Haltung?

Amandine Gay: In meiner Kindheit war die einzige schwarze Schauspielerin, die ich in einem Film sehen konnte, Whoopi Goldberg in Jumpin’ Jack Flash. In dieser Komödie spielt sie eine Bankangestellte, die einem Geheimagenten hilft. Ich habe den Film damals mehrmals gesehen, ich fand ihn witzig und mochte die Tatkraft der Hauptdarstellerin. Im französischen Fernsehen der 1980er-Jahre gab es keine schwarze Frau in einer Hauptrolle außer Firmine Richard in Milch und Schokolade, wo sie eine Putzfrau und alleinige Ernährerin ihrer Familie, also eine stereotype Rolle einer schwarzen Frau spielt. Ich beschäftige mich also schon ziemlich lange mit der Position schwarzer Frauen in unserer Gesellschaft.

Hat diese Feststellung in Ihnen den Wunsch geweckt, Kinofilme zu drehen?

Ja, aber nicht nur. Während meines Politikwissenschaft-Studiums habe ich viele Filme gesehen und mehrere Jahre lang ehrenamtlich beim Festival États généraux du film documentaire in Lussas gearbeitet. Ich war am Empfang, an der Bar, wärmte Essen auf usw., und vor allem sah ich gratis eine Menge Filme. Danach ging ich für ein Jahr nach Australien und studierte dort ein Semester Cinema studies und besuchte einen Kurs über Kurzfilm-Produktion. Weil alle Regie führen wollten, landete ich bei der Produktion. Dabei lernte ich, wie man einen Dreh organisiert, was mir später sehr nützlich war. Ich bewegte mich eigentlich schon immer im künstlerischen Bereich, aber wie viele Frauen habe ich lange gezögert, bevor ich selbst ein Projekt startete.

Sie wollten auch Schauspielerin werden…

Nach dem Politikstudium habe ich mich an der Pariser Schauspielschule Conservatoire d’art dramatique eingeschrieben, um Schauspielerin zu werden. Darauf hatte ich aber bald keine Lust mehr, denn mir wurden nur stereotype Rollen von Immigrantinnen oder Vorstädterinnen angeboten. Ein Freund von mir, der Casting Director ist, sagte mir: „Wenn du andere Rollen willst, musst du sie selbst schreiben.“ Also schrieb ich kurze Drehbücher, die den Bechdel-Test bestanden (zwei Frauen mit Namen; die miteinander sprechen; die über etwas anderes als einen Mann sprechen; Anm. d. Red.) und in denen es um fünf Freundinnen ging, darunter eine schwarze, lesbische Sommelière. Die Produktionsfirmen fanden diese Figur unrealistisch und wollten sie ändern. Also überlegte ich, was ich mit eigenen Mitteln produzieren konnte, frei und unabhängig, und kam auf einen Dokumentarfilm.
Affiche: Ouvrir la voix © Amandine Gay


„Ouvrir la voix“ haben Sie ganz allein produziert. Wie haben Sie diese Herausforderung gemeistert?

Unser Team war sehr klein. Ich habe mit meinem Partner, der Fotograf und Videofilmer ist, und einer befreundeten Kamerafrau zusammengearbeitet, die ein Drittel der Interviews gefilmt hat. So konnte ich den Film völlig autonom gestalten, vom Drehbuch bis zum Schnitt. Nachdem ich mich dann zwei Jahre lang ausschließlich um den Film gekümmert hatte, ohne Bezahlung und ohne einen Brotberuf nebenbei, wollte ich die Rechte nicht an eine Produktionsfirma abtreten. Also gründeten wir unsere eigene Produktions- und Verleihfirma Bras de fer und starteten einen Crowdfunding-Aufruf für die Postproduktion. Nach einem Monat hatten wir die gewünschten 12.000 Euro schon zusammen und erreichten schließlich 17.414 Euro, was meine Hoffnungen weit überstieg!

Wie haben Sie die 24 jungen Frauen in ihrem Film kennengelernt und ausgewählt?

In dem Film gibt es drei Gruppen von Frauen: Erstens Frauen, die ich in meiner Zeit als Schauspielerin kennengelernt habe, und wenn sie dran sind, atmet man auf. Die zweite Gruppe sind Freundinnen von mir, mit denen ich vorher schon an den Fragen gearbeitet hatte, und drittens sind viele von ihnen über die sozialen Netzwerke auf mich zugekommen. Als ich meinen Aufruf auf Twitter und Facebook veröffentlichte, hoffte ich, innerhalb von sechs Monaten zehn Leute zu erreichen, aber nach einer Woche hatte ich schon gut sechzig E-Mails erhalten. Man schrieb mir aus Guadeloupe, Französisch-Guayana, La Réunion. Aus finanziellen und logistischen Gründen beschränkte ich mich jedoch auf den Großraum Paris und Belgien. Ich führte 45 Vor-Interviews, und 24 Berichte dieser 45 Frauen kamen schließlich in den Film.

Um welche Themen geht es darin?

Die Berichte weisen auf die doppelte Schwierigkeit hin, eine Frau und schwarz zu sein, und oft auch noch sozial schwach. Der Begriff Intersektionalität ist wesentlich, um zu verstehen, wie die verschiedenen Arten von Diskriminierung, mit denen wir konfrontiert sind, miteinander zusammenhängen. Jede Frau erzählt von ihren persönlichen Erfahrungen, und die Häufigkeit ähnlicher Erfahrungen zeigt, dass es sich nicht um ein individuelles Problem handelt, sondern um tägliche Konfrontationen mit systemischem Rassismus.

 


Welche ästhetischen Entscheidungen haben Sie für die Aufnahme der Berichte getroffen?

Ich wollte das Genre des Interviewfilms auf die Spitze treiben, mit einer festen Kamera, die ganz nah an den Personen ist und sich nicht ablenken lässt, denn es wurde vom Fernsehen schon sehr verfälscht. Keine Ablenkungen durch Detailaufnahmen, Musik, Effekte. Während der Interviews steht das Wort im Mittelpunkt, der Blick konzentriert sich auf die Frauen, und wir interessieren uns nur dafür, was sie zu sagen haben. Die Beleuchtung ihrer Gesichter in Nahaufnahme zeigt auch, dass sich schwarze Haut wunderbar ausleuchten lässt, im Gegensatz zu einer gängigen Meinung im Kino- und Fernsehmilieu. Mir war es besonders wichtig, schwarze Frauen mit sehr dunkler Haut zu zeigen, die seltener zu sehen sind als Frauen gemischter Abstammung oder schwarze Frauen mit heller Haut.

Nach sechs Monaten läuft der Film immer noch in den Kinos – für eine Dokumentation ein Riesenerfolg. Wurde er auch woanders gezeigt?

Der Film ist im Oktober 2017 in Frankreich angelaufen, dann in der Schweiz, Belgien und Quebec. Nach sechs Monaten Laufzeit hatten wir schon 15.000 Karten verkauft, was unglaublich ist, wenn man bedenkt, dass in Frankreich 70 Prozent der Dokumentarfilme während ihrer gesamten Laufzeit nicht auf 10.000 Eintritte kommen. In Deutschland habe ich eine Mini-Tournee mit Stationen in Berlin, Bremen, Oldenburg und Hamburg gemacht. Überall mit ausverkauften Vorstellungen. Die Gespräche danach, die von verschiedenen Verbänden organisiert waren – von der Berlin Feminist Film Week, den Frauenkreisen, Decolonize Bremen und einem Verein schwarzer Studenten der Universität Hamburg –, waren interessant, denn sie haben mir gezeigt, was in Deutschland ankam, worin sich die Leute wiedererkannten. Und seit Januar wird der Film international von MK2 verliehen und bald im Rahmen der Femmes-Totales-Filmtour von Eksystent in Deutschland gezeigt.

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