Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Joachim Meyerhoff in Literature Night 2019
Jedes Kapitel ein Bühnenstück für sich

Joachim Meyerhoff
© Ingo Petramer

Joachim Meyerhoff besitzt eine geniale Doppelbegabung: In seinem Roman Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war schreibt er hemmungslos unterhaltsam von der Sorgloszeit der BRD, zugleich mit großem Ernst und Klarheit.


Die Weihnachtsfeste in Josses Kindheit waren ein Gang durch die Stationen: A-Unten, J-Mitte, B-Oben. Überall gab es Torte und Cola, immer wieder. "Eigentlich", so schreibt Joachim Meyerhoff, "habe ich jedes Weihnachten gekotzt und dann die ganze Nacht von der Cola aufgeputscht mit bummerndem Herzen bis in die Morgenstunden manisch Legosteine zusammengebaut." 

An einem dieser Weihnachtsabende kommt es dann auch einmal kurzzeitig zu einer Eskalation, die die Wahrheit für einen Moment aufblitzen lässt: Der Vater schenkt der Mutter ein elektrisches Küchenmesser. Die Mutter demonstriert ihre Verachtung für das Geschenk (und den Schenker), indem sie damit die rohen Pansen für den Hund zu zerkleinern beginnt. Den Vater wiederum bringt das, ganz gegen seine Natur, derart in Rage, dass er mit der Klinge seine Adalbert-Stifter-Gesamtausgabe zu zersägen beginnt. Und der kleine, begeisterte Josse denkt sich, dass nun endlich einer einmal das zu tun wagt, wovon er selbst immer schon geträumt hat. Die Welt ist ein Irrenhaus.

Und für Joachim Meyerhoffs furiosen zweiten Roman, den er nun einem nicht weniger furiosen ersten hat folgen lassen, gilt das in besonderem Maße, denn Joachim alias Josse, der Ich-Erzähler, wächst auf dem Gelände der Jugendpsychiatrie von Schleswig auf. Der Vater ist der Direktor; das Wohnhaus der Familie steht im Zentrum des Anstaltsgeländes. Und die Stationen, die Josse am Weihnachtsabend Jahr für Jahr durchläuft, sind die Stationen, auf denen die psychisch Kranken leben.

Der Schauspieler Joachim Meyerhoff, Jahrgang 1967, begann im Jahr 2007 am Wiener Burgtheater unter dem Titel Alle Toten fliegen hoch, dem Publikum sein Leben zu erzählen, mit überwältigendem Erfolg. Vor zwei Jahren erschien der erste Teil, in dem Meyerhoff von seinem einjährigen Aufenthalt als Austauschschüler in den USA berichtete, in Buchform. Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war ist nun die Fortsetzung, die allerdings einen weitaus größeren Zeitraum umfasst.

Meyerhoffs geniale Doppelbegabung

Das Buch setzt in der Kindheit der siebziger Jahre ein und endet, mit einem Zeitsprung, in den Neunzigern mit dem Tod des Vaters. Meyerhoff ist ein begnadeter Fabulierer; er hat ein Gespür für das Szenische, für die Pointe. Jedes Kapitel ist ein kleines Bühnenstück für sich. Das Frappierende, ja das geradezu Geniale an Meyerhoff ist seine Doppelbegabung: Auf der einen Seite schreibt er hemmungslos unterhaltsam, komisch, süffig, selbstironisch. Von den großen und kleinen Kalamitäten des Aufwachsens, von Familienstrukturen und Jugendpartys auf dem norddeutschen Land. Vom ökonomisch sorglosen Aufwachsen einer gehobenen bundesrepublikanischen Mittelstandsexistenz.

Auf der anderen Seite wird schnell deutlich, dass hier nichts naiv heruntererzählt wird. Das Anekdotische als Bauprinzip wird bereits im ersten Kapitel eingeführt und zugleich karikiert in Person eines Schuldirektors, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit von den Schrecken des Russlandfeldzuges und den Heldentaten der Deutschen berichtet. "Dieser Mann", so heißt es, "war mir zutiefst suspekt."

Meyerhoff hat keinen Krieg, an den es sich zu erinnern gilt, und schon gar keine Heldengeschichten, im Gegenteil – er macht sich an die Dekonstruktion einer vermeintlich heilen Welt, auch wenn die mitten in der Psychiatrie angesiedelt war. Und er beharrt auf der Gattungsbezeichnung "Roman"; eine Überzeugung, die getragen ist von der Erkenntnis: "Erfinden heißt Erinnern."

Ohne jede Sentimentalität

Die Familie also, Vater, Mutter, drei Söhne, ein Hund. Josse ist der jüngste Sohn. Ein Kind mit Rechtschreib- und Lernschwäche und einem unkontrollierbaren Hang zu Wutausbrüchen, Spitzname: "Die blonde Bombe". Treten, zappeln, schreien. Seine Hausaufgaben macht er an einem Stehpult, weil er nicht stillsitzen kann. Der Vater ist ein ungemein dicker Mann, der seinen Beruf und die Bücher liebt. Ein manischer Leser, der seine Frau braucht, um seine Ideen umzusetzen: Er hat das theoretische Konstrukt für seine Doktorarbeit entworfen; sie hat sie geschrieben. Er liest wochenlang Segelzeitschriften und kauft ein Boot; sie besteht die Segelprüfung, während er jämmerlich durchfällt, als einziger.

Um die Familie herum: die Kranken, die Patienten. Von jedem Einzelnen spricht Meyerhoff mit Achtung, sogar mit Zärtlichkeit. Von dem bärtigen Riesen, der stets mit zwei riesigen Glocken in den Händen durch die Gegend läuft und vor dem sich alle fürchten, wird der kleine Josse auf Schultern über das Anstaltsgelände getragen. Eines Tages ist der Riese verschwunden, für immer, eine seiner Glocken findet Josse im Teich des Parks.

Und da tut sich die andere, die dunkle Seite von Meyerhoffs Projekt auf, das seinen Titel nicht umsonst trägt. Wie schon Amerika, der erste Teil, ist Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war eine vermeintliche Komödie, die tatsächlich im Schraubstock des Tragischen steckt. Und Meyerhoff dreht hier weitaus heftiger an den Schrauben als im Vorgänger. Die Leichtigkeit im Ton kann und will nicht verbergen, dass wir es mit einem Toten- und Erinnerungsbuch zu tun haben.

Selbstfindung als Literaturprojekt

Im ersten Teil war es der (im zweiten Teil unerträglich klugscheißernde) mittlere Bruder, der während Josses Amerika-Aufenthalt bei einem Autounfall ums Leben kam; in der Fortschreibung sterben, unter anderem, die heruntergekommene Familie auf dem Nachbargrundstück des Familien-Wochenendhauses an der Ostsee, der Hund (was keine Kleinigkeit ist; eine der anrührendsten Kapitel des Romans widmet sich dessen Einschläferung und Bestattung) und schließlich der Vater, dessen Geheimnisse die beiden übrig gebliebenen Söhne erst post mortem in ihrem ganzen Umfang aufdecken.

Wenn Meyerhoff über den Tod schreibt, dann tut er das ohne zu Lamentieren, mit Klarheit und ohne jede Sentimentalität. Dem eigenen Leben nähert er sich in einer raren Mischung aus selbstdiagnostischer Einsicht und selbstironischer Distanz. So, und nur so, kann Meyerhoffs Erzählprojekt sich von einem Selbstfindungs- in ein Literaturprojekt verwandeln:

"Erst wenn ich es geschafft haben werde", schreibt der gereifte Josse, "all diese abgelegten Erinnerungs-Päckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein."

Das wiederum ist auch ein Versprechen an die Leser: Es wird und muss weitergehen.

Top