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30 Jahre Mauerfall
Ostdeutsche Seelenklüfte

30 Jahre Mauerfall
© dpa

Der eine ist Spitzenbeamter, der andere gilt als Rechtsaußen. Zeit-Autor Christoph Dieckmann hat zwei frühere DDR-Bürgerrechtler getroffen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und fragt: Wem gehört die ostdeutsche Geschichte?

Von Christoph Dieckmann

Kürzlich veröffentlichte Christoph Hein Memoiren unter dem kleistschen Kampftitel Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege. Eine Schlüsselgeschichte heißt Mein Leben, leicht überarbeitet. Ostdeutschlands literarischer Chronist berichtet, wie ihm der Weltruhm entging – aus Pedanterie.
 
Im Jahr 2002 besuchte ihn ein junger Filmregisseur namens Florian Henckel von Donnersmarck und wünschte Auskunft über "das typische Leben eines typischen Dramatikers der DDR". Hein lachte, solche Typik habe es nicht gegeben, und erzählte von sich. "Der Regisseur schrieb sich einiges auf und sagte schließlich, er sei mir unsäglich dankbar." Sodann fabrizierte er das Stasi-Melodram Das Leben der Anderen. Hein, im Abspann der Mitarbeit gewürdigt, war entgeistert und verfügte die Löschung seines Namens. "Mein Leben verlief völlig anders", schreibt Hein, "der Film ist ein Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spielt, vergleichbar mit Tolkiens Mittelerde." Henckel von Donnersmarck gewann 2007 den Oscar. Seither kennt ihn die freie Welt als Kronzeugen der SED-Diktatur. Hein erkannte: "Ich werde meine Erinnerungen dem Kino anpassen müssen."
 
Christoph Heins Sarkasmus pointiert einen Normalzustand: die westmediale Übermalung ostdeutscher Geschichte. Ungewöhnlich ist der Protest dagegen. Üblicherweise vergrummeln Ostbeschwerden im Beitrittsgebiet.
 
Mittlerweile allerdings haben Pegida und AfD neue Resonanzräume ostvölkischen Missbehagens geschaffen, und die westdeutschen Volkstribune der AfD blasen zur "Vollendung der Wende". Die etablierte Bundespolitik ist aufgeschreckt, der rituelle Freiheitsjubel zum Mauerfall-Gedenken höchst gefährdet. Die Ossis werden deshalb neuerdings panisch umturtelt und "verstanden". Auch als gleichberechtigte Subjekte deutscher Geschichte?
 
Die sogenannte DDR-Aufarbeitung begann gleich nach Honeckers Sturz – spontan und selbstverständlich ostdeutsch. Das anarchische letzte Jahr der Republik quoll über von Entlarvungen des SED-Regimes. Als dessen Gegenbild leuchtete vielen DDRlern die Helmut Kohlsche BRD, künftig "Deutschland einig Vaterland". Der Beitritt koppelte ein bankrottes, desorientiertes Gemeinwesen an eine prosperierende Demokratie, zu den Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft. Das weitaus kleinere Beitrittsvolk empfing ein schmeichelhaftes Angebot: fortan zu "Deutschland" zu gehören und den "Unrechtsstaat", wie die DDR nun immerfort zu heißen hatte, hinter sich zu lassen.
 
Doch zunehmend bemerkten die Ostdeutschen, dass sich ihre DDR-Leben weder exorzieren noch ersetzen ließen. Vierzig Nachkriegsjahre lang floss der Strom der Nationalgeschichte zweigeteilt; kein Deutschland war deutscher als das andere, jedes defizitär. Dem saturierten Westen schien das unbekannt; er fühlte sich komplett. Er brauchte keinen Osten, es sei denn als Absatzmarkt. Personalpolitisch expandierte er ins Beitrittsgebiet, durch Elitentransfer mit Kadernachzug. Die "Aufbauhilfe" verstetigte sich zu dauerhafter Führung. Das deckelte die Emanzipation. "In der Fläche wird die Dominanz der Westdeutschen in den Eliten immer noch als kultureller Kolonialismus erlebt." So sprach 2018 der ostdeutsche Theologe Thomas Krüger, der seit 2000 die Bundeszentrale für politische Bildung leitet.
 
Nach 1990 betrieb eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags über zwei Legislaturperioden "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland". Den Vorsitz hatte Rainer Eppelmann, einer der erprobtesten DDR-Bürgerrechtler. Die Ostdeutsche Anna Kaminsky leitet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die seit 1998 mit Ausstellungen, Konferenzen, Büchern und Dokumentarfilmen Europas kommunistische Epoche erhellt.

"Bürgerrechtler" ist ein vager Begriff

Zum 20-jährigen Bestehen befühlten drei West-Festredner diese Ost-Vergangenheit. Frank-Walter Steinmeier rühmte die Aufklärung bundespräsidial. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi diagnostizierte einen ostdeutschen Zivilisationsrückstand. Es mangele an weltreisender Bildung, Erfahrungen mit Einwanderung, sozialer Diversität, Toleranz für Minderheiten.
 
Hier Diktaturkrüppel, dort Gesunde? Anders redete Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU). Ein Ost-Film hatte sie bewegt – nicht Das Leben der Anderen, sondern Gundermann. Andreas Dresens zwiespältiges Porträt des Lausitzer Baggerfahrers, Liedermachers und Stasi-Zuträgers Gerhard Gundermann ließ viele Westler erstmals in ostdeutsche Seelenklüfte schauen.
 
Zur Ambivalenz ermutigt, verabschiedete die Ministerin einen christdemokratischen Heldentypus: den DDR-Bürgerrechtler. "Oppositionelle, die gegenüber der SED-Diktatur Mut bewiesen haben", sagte sie, "sind nicht [...] für alle Zeit vor Anfechtungen gefeit."
 
"Bürgerrechtler" ist ein vager Begriff. Er bezeichnet kein Amt oder Mandat, sondern selbstermächtigte Menschen mit tätigem Eigensinn wider die Diktatur. Von zwei sehr verschiedenen DDR-Bürgerrechtlern sei hier erzählt. Der eine scheiterte, der andere kam davon. Der eine lebt heute als Spitzenbeamter, der andere verfemt als Rechtsaußen.
 
Der eine heißt Roland Jahn. 1953 in Jena geboren, war er in jungen Jahren Fußballer beim FC Carl Zeiss und Thüringer Hippie – ein Lebegern, der sozialistische Freiräume austestete. Zur Mai-Demonstration trug er ein weißes Plakat. Er posierte geschminkt: halb Hitler, halb Stalin. 1981 starb Jahns Freund Matthias Dommaschk in Stasi-Untersuchungshaft. Danach war’s kein Spiel mehr, bei dem man sich mit der Stasi ausfoppt, sagt Jahn. Nun wusste ich: Es geht auf Leben und Tod.
 
Die Jenaer Friedrich-Schiller-Universität zog etliche Freigeister an und spie sie wieder aus: Jürgen Fuchs, Lutz Rathenow, Siegfried Reiprich ... Nach Wolf Biermanns Ausbürgerung 1976 muckte und flog auch der Ökonomie-Student Jahn. Fortan war er Transportarbeiter "auf Bewährung" bei Zeiss. 1982 radelte er mit Solidarność-Fähnlein durch die Stadt. 22 Monate Haft, wegen "öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung" und "Mißachtung staatlicher Symbole". Nach kirchlichen und westlichen Protesten vorzeitig entlassen, gründete Jahn mit Gleichgesinnten die Friedensgemeinschaft Jena.
 
Ich lehnte nicht die DDR als solche ab, ich identifizierte mich mit meiner Heimat, sagt Jahn. Wer gegen das ganze System war, ging in den Westen. Ein ständiger Aderlass für die Opposition.
 
Am 8. Juni 1983 wurde Jahn abermals verhaftet und gefesselt zum Grenzbahnhof Probstzella gekarrt. Man verklappte ihn im hintersten Abteil des Interzonenzugs nach Bayern. Fort mit dem Strolch, nachts um drei. In Ludwigstadt stieg der Bundesgrenzschutz zu. Dem Frachtstück Jahn lag ein Packzettel bei.

Auch DDR-Opfer brüllen heute rechts 

Wochenlang weigerte sich Jahn, den BRD-Pass anzunehmen. Er reiste durch Europa und wollte heim. Verrückt, sagt Jahn, ich stand auf der Akropolis und dachte an Jena. Reise nach Prag, Rückflug via Schönefeld. Jahn stahl sich aus dem Transit. Sein Ostberliner Freund Rüdiger Rosenthal chauffierte ihn nachts im Trabi gen Thüringen. Im Morgenlicht fand Jahn sein liebes Jena klein und grau. Er kaufte Spritzkuchen am Saalbahnhof. Er pflückte Himmelschlüssel am Fuchsturm. Er wagte nicht, die schikanierten Eltern zu besuchen. Er fuhr zurück nach Ost-Berlin, traf Gefährten und hörte: Du nützt uns im Westen mehr als hier.
 
Jahn wurde ein umtriebiger Verbindungsmann der "Opposition". Er arbeitete beim Sender Freies Berlin für das ARD-Magazin Kontraste und versorgte die östlichen Freunde mit technischem Gerät. Den Kalten Kriegern im Westen wollte er nicht dienen. Ich war eigentlich immer ein versöhnlicher Typ, sagt Jahn.
 
Seit 2011 leitet Jahn die Stasi-Unterlagen-Behörde. Seit einiger Zeit empfängt er Gegenwind für seine Bereitschaft, die Akten, mithin den Gral der Revolution, opferfern ins Bundesarchiv zu überführen. Jahn findet, jenseits des Themas Stasi sei die Aufarbeitung der SED-Diktatur unpopulär. Eigene Verstrickung werde weggeschoben. Ihn nerve auch das Ost-Geschrei: Wir sind abgehängt! Integriert erst mal uns! Wer die DDR überstand, darf stolz darauf sein, sagt Jahn, aber die Leute geben diesen Stolz weg. Wir können doch jeden Tag anpacken, gestalten, die richtigen Parteien wählen oder gründen. Aber man steigert sich in die funktionierende Provokation hinein und gibt das Selbstwertgefühl auf. Man will Anerkennung und wird würdelos.
 
Auch DDR-Opfer brüllen heute rechts: Wir sind das Volk! Ein Diktaturschaden?
 
Rechts, links – mir egal, wie sich jemand eintütet, sagt Jahn. Alle sind das Volk, keiner darf’s nur für sich beanspruchen. Gesellschaft ist immer multikausal. Und "Rasse" sollten wir aus der Verfassung streichen. Es gibt Hunderassen, keine menschlichen. Die Menschenrechte zählen, der antitotalitäre Konsens Humanität. Dafür wird auch Micha Beleites eintreten.
 
Michael Beleites, der andere Widerständler. Sein Buch Dicke Luft: Zwischen Ruß und Revolte (2016) schildert die unabhängige DDR-Umweltbewegung, deren rastloser Aktivist er war. 1964 als Pfarrerskind in Halle geboren, wuchs er in Trebitz bei Zeitz auf. Braunkohle-Land, ausgebaggert, umgewühlt. Der Staat verwehrte Beleites das Abitur. Er lernte Tierpräparator, in Gera. Dort hatte er die Wismut, den ökologisch desaströsen sowjetischen Uran-Bergbau, gleich vor der Tür. Höchst mutig publizierte er 1988 seine Studie Pechblende im kirchlichen Samisdat. Dass er unverhaftet blieb, führt Beleites auf Gorbatschow zurück. Überdies wollten Geras Tschekisten ihren kostbaren Staatsfeind nicht an zentrale Ermittlungsorgane verlieren. Sie hatten bloß diesen einen und hüteten ihn als "Operativen Vorgang".
 
Nach der Wende konnte Beleites doch noch studieren: Landwirtschaft. Biologie blieb seine Passion, insbesondere die Darwinsche Selektionstheorie und die Formenkreislehre des Theologen und Zoologen Otto Kleinschmidt. Darwin habe Haustierrassen erforscht und seine Erkenntnisse auf natürliche Rassen übertragen. Das gehe nicht. Die Natur merze Vielfalt nicht aus. Sozialdarwinismus, Verdrängung als Naturgesetz, das sind fatale Irrtümer, sagt Beleites. Egal ob als Klassenkampf oder als kapitalistische Wettbewerbs- und Wachstumsideologie.
 
Zehn Jahre amtierte Beleites gewissermaßen als sächsischer Roland Jahn: Er leitete die Dresdner Stasi-Unterlagen-Behörde. 2010 trat er ab, um nicht Schaden zu nehmen an seiner Seele. Die wohnt in einem grüblerischen Mann und scheint verletzt. Beleites fühlt sich gebrandmarkt, seit eine Spiegel-Story die Rechtsdrift ehemaliger DDR-Dissidenten beschrieb. Er sei kein Rechter. Zum Unstern wurde ihm sein Buch: Umweltresonanz. Grundzüge einer organismischen Biologie. Etablierte Wissenschaftsverlage wiesen den Autodidakten ab. Er landete beim rechtslastigen Telesma-Verlag. Die Burschenschaft Normannia zu Jena lud ihn ein, er referierte im Schulungsheim des Propagandisten Götz Kubitschek. Aus der bürgerrechtlichen Mitte wurde er verstoßen: keine Lesungen, keine Vorträge, keine Diskussionen. Bei Wilsdruff hinter Dresden betreibt Beleites eine kleine Gärtnerei, die seine Familie schwerlich ernährt. Unlängst habe eine Schule die langjährige Kundschaft gekündigt: Man möge seine Blumen nicht mehr, da er gewiss nun jene unterstütze, die behinderte Kinder töten wollten.
 
Sind Sie Christ?
Das würde ich schon sagen.
Sie warnen vor "einer Entkopplung" von "genetischer Konstitution und angestammter Lebenswelt".

Manchmal hört man NS-Vergleiche 

Die Klügeren der Rechten sagen auch: Es ist nicht sinnvoll, dass man in den Tropen weiß ist und im Norden schwarz.
 
Leider erfreut diese Weisheit auch die identitären Schützer völkischer Lebensräume. Und Kubitschek will den gesellschaftlichen "Riss" vertiefen.
 
Das teile ich überhaupt nicht, sagt Beleites. Im Idealfall funktioniert eine Gesellschaft wie ein Organismus. Verschiedene Organe müssen kooperieren. Treten sie in Konkurrenz, stirbt der Organismus.
 
Und Pegida? Sie sprechen von einem "Aufstand von rechts" gegen ein angeblich linkes Establishment. Sie konstatieren "eine tiefe Vertrauenskrise in die Wahrhaftigkeit von Politik und Medien insgesamt", ähnlich 1989.
 
Auch 1989 sind Leute mit Galgen und Gewaltaufrufen mitgelaufen, sagt Beleites. Aber damals hat man nicht auf die Idioten fokussiert. Heute wird polarisiert, und es werden Menschen als Nazis denunziert, die keine sind. Dabei empfinden viele beim Thema Migration beides: Hilfswillen und Skepsis. Wie viel Einwanderung verkraftet der Sozialstaat? Wie viel Fremde verträgt die Identitätswahrung unserer Kultur? Was ist unser Anteil an neokolonialen Verhältnissen, die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen?
 
Beleites findet, es brauche auch heute Dissidenten. Der unverhältnismäßige "Kampf gegen rechts" sei systemstabilisierend; er lenke die Linken von sozialen und die Grünen von ökologischen Aktivitäten ab. Es wird auch eine Aufarbeitung unserer Tage geben, sagt Beleites. Das Missverhältnis zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung wird dann nicht wesentlich anders beschrieben werden als in Bezug auf die DDR.
 
Roland Jahn verlässt man unbesorgt, Michael Beleites unruhig. Das einheitsdeutsche Heute als Heilung des ostdeutschen Gestern – dieser Aufarbeitungs-Idealismus verfliegt. Überdies gründen viele Verwerfungen längst nicht mehr im SED-Staat, sondern in den Übelständen der ostdeutschen Transformation.
 
Die klassische DDR-Entlarvung erlebt man weiterhin in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Jährlich besuchen 450.000 Menschen die einstige Stasi-Zwingburg. Ehemalige Häftlinge führen durch Zellen und Verhörräume und berichten, was ihnen hier geschah. Manchmal hört man NS-Vergleiche.
 
Doch Hitlerdeutschland unterschied sich abgrundtief vom Stalinismus in der DDR, wobei eine Diktatur nicht erst beginnt, wenn sie Tausende von Menschen umgebracht hat. Die DDR war durchaus Stasidopingstacheldraht, zugleich Deutschland-Ost, mit Lebenswelten, Leistungen und Künsten, die der Westen oft so wenig kennt wie die Nachwachsenden im Osten. Welche Stadien die DDR durchlief, wie sie erwuchs, stagnierte, erodierte bis zu ihrem wohlverdienten Exitus, das lässt sich erzählen, vielstimmig individuell, ohne Gruseleffekte und Ostalgie. Diese polyphone Geschichte bleibe Volksvermögen. Jeder Enteignung ist zu widerstehen.

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