Zehn Jahre EU-Osterweiterung
„Deutschland hat viel gelernt“

György Konrád
György Konrád | Foto (Ausschnitt): © Gezett

Am 1. Mai 2004 traten unter anderen Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowenien, die Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn der Europäischen Union bei. Welche Auswirkungen hatte die Osterweiterung? Ein Interview mit dem ungarischen Autor György Konrád.

Herr Konrád, zehn Jahre nach dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union haben bei der Parlamentswahl Anfang April 2014 zwei Drittel der Wähler für Parteien gestimmt, die der EU kritisch oder ablehnend gegenüber stehen. Bereuen die Bürger den Beitritt?

Ich würde nicht sagen, dass die gesamte Gefolgschaft der ungarischen Regierungspartei Fidesz gegen die EU ist. Ministerpräsident Viktor Orbán sagt: Die EU ist uns wichtig, aber wir müssen sie möglichst auspumpen. In Ungarn umarmen sich die Macht und das Kapital. Es entsteht ein neuer Etatismus – und ein neuer religiöser Nationalismus.

Wie kommt es, dass in vielen neuen EU-Staaten ähnliche Phänomene zu beobachten sind oder waren? Ob Ungarn, Rumänien oder die Slowakei: Es gibt eine Besinnung auf das Nationale, einen „starken Mann an der Spitze“.

Es gibt unterschiedliche Wege. Wenige sind mit diesen Attributen charakterisierbar. Betrachten Sie Slowenien, das heutige Polen, die baltischen Länder, die Tschechische Republik. Ungarn war einmal an der Spitze der Entwicklung. Es ist vielleicht ein Zufall, dass die politische und wirtschaftliche Klasse nicht reif genug war, die Aufgabe zu verstehen.

„EU-Politik ist meistens von nationalen Interessen beeinflusst“

Für die Länder außerhalb der Europäischen Union scheint die EU immer noch attraktiv, etwa für die Ukraine oder Serbien. Innerhalb der EU drückt sich mehr Überdruss aus. Was läuft da falsch?

Wenn man heute ein Referendum machen würde – in Ungarn war das die Forderung der rechtsextremen Partei Jobbik –, dann würde ein Austritt abgelehnt. Die EU-Politik ist meistens von nationalen Interessen beeinflusst und nicht von europäischen. Es gibt wenige europäische Politiker, die – wie vielleicht der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble – wirklich versuchen, im größeren Rahmen zu denken, und die eine echte Vergemeinschaftung wollen.

Viele in den Beitrittsländern sagen, sie hätten nichts vom Beitritt gehabt. Die Einkommen stagnierten, die Kosten explodierten.

Das ist ganz sicher relevant. Nehmen Sie die Privatisierung des Staatsbesitzes: Unternehmen und ihre Produktion wurden aufgekauft. Viele Branchen gingen kaputt. Es gab eine technokratische Schicht, die Entscheidungsmacht hatte. Deren Mitglieder wurden sehr schnell Millionäre.

Wie hat sich unter diesen Umständen das Kulturleben entwickelt?

In der Kultur gibt es eine merkwürdige Kontinuität. Ein wirklich guter Komponist, Maler oder Schriftsteller wird immer gut sein, unabhängig davon, wer die Macht hat. Die verschiedenen Machthaber nutzten immer etwas von dem Prestige für sich, das einige Künstler und Wissenschaftler über Jahrzehnte aufgebaut haben. Es ist interessant, dass die Sozialisten das in besonderem Maße brauchten, denn sie mussten sich irgendwie legitimieren. Sie sagten: Wir sind die Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus. Die neuen Machthaber brauchen die intellektuelle Aristokratie nicht.

„Berlin ist ein Lebensziel, Berlin hat seinen Mythos“

Wie hat sich aus Ihrer Sicht Deutschland durch die EU-Osterweiterung verändert?

Deutschland hat eine Menge Probleme bekommen, wurde in große Abenteuer verwickelt und hat viel gelernt. Es ist reicher geworden und hat neue Arbeitskräfte erhalten, auch gut gebildete Arbeitskräfte.

Noch vor 100 Jahren war Deutsch in Mitteleuropa die „lingua franca“. Heute ist es das Englische. Welche Bedeutung hat die deutsche Sprache noch?

Die deutsche Sprache ist die zweite Fremdsprache in Mitteleuropa. Wer von den jungen Menschen heute nur Englisch lernt, ist ungebildet. Die meisten meiner Freunde sind Intellektuelle. Ihre Kinder studieren fast alle in Berlin, das ist sehr populär. Berlin ist ein Lebensziel, Berlin hat seinen Mythos. Es ist sehr wichtig für eine Stadt, ihren Mythos zu haben.

Ist der Begriff „Mitteleuropa“ heute noch von Belang?

Wenn ein Pole und ein Ungar in einem westlichen Land zusammenarbeiten, werden sie einander helfen. Sie werden einander leichter verstehen, weil sie ein gemeinsames Erfahrungsreservoir haben – aber natürlich gibt es da immer auch eine Rivalität.
 

György Konrád wurde 1933 als Sohn einer jüdischen Familie in Ungarn geboren und entging 1944 nur knapp einer Verhaftung durch die Nationalsozialisten. Sein Romandebüt „Der Besucher“ veröffentlichte er 1969. In seinen Essays plädiert er für ein friedliches Mitteleuropa, das die Grenzen zwischen Ost und West überwindet. Von 1997 bis 2003 war Konrád Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Er erhielt unter anderen den Karlspreis und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

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