Krimis in Ungarn
Auf den Spuren des ungarischen Krimis

Auf den Spuren des ungarischen Krimis_Magazin
Die Reihe "Albatrosz" | Foto: Hernád Géza

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlebte die ungarische Krimiliteratur einen wahren Boom. Ein Roman nach dem anderen erschien, so als wollte die ungarische Literatur nun auf einmal ihren jahrzehntelangen Rückstand aufholen. Der Gründe dafür gibt es mehrere. Einige von ihnen sollen nachfolgend etwas genauer betrachtet werden.

Ästhetische Grundlagen

Eine Erklärung ist rein literarischer Natur. In seinem späten Bekenntnis von 1985 schreibt Sándor Márai, dass er im Grunde genommen sein ganzes Leben lang vorhatte, einen Kriminalroman zu schreiben, letztendlich aber über einen Roman in fragmentierter Form nicht hinauskam, der nach seinem Tode unter dem Titel Szívszerelem (Herzliebe) veröffentlicht wurde. Im Nachwort ist zu lesen: „Inmitten von Genreversuchen während einer unverschämt langen Schriftstellerlaufbahn führte mich immer wieder ein Abenteuer in Versuchung, das, einen Krimi zu schreiben. Dem Leser soll nichts vorgemacht werden: Der Krimi ist ein uraltes Literaturgenre. Odyssee wie Hamlet, Göttliche Komödie oder Faust – alle sind Meisterwerke des Krimigenres. In den genannten Werken – und später auch in anderen nicht wenigen klassischen Bestsellern – haben die Autoren dem Text etwas hinzugegeben, was aus dem Krimi ein Meisterwerk machte. In der Realität wie in der Literatur ist von Zeit zu Zeit das Kreischen gefahrverkündender Sirenen zu vernehmen, und es wird die nervenaufreibende Frage gestellt: Was ist in der Nacht hier geschehen? Eine pikante Frage. Misstrauisch beäugen Götter und Menschen einander. Homer oder Conan Doyle, Vergil oder Agatha Christie, Goethe oder Simenon, Dante, der sich in der Zwangsjacke gereimter Terzinen windet, oder Jenő Rejtő – jeder ist bemüht auf die Frage zu antworten: `Wer ist der Täter`“.

Postmoderner Weltzustand

Márai schiebt die Grenzen des Genres äußerst weit hinaus, geht bis in die Antike zurück und versucht, den Krimi aus der billigen Groschenromanliteratur herauszuheben. Mit diesem Ansinnen steht er nicht allein, denn für viele – nunmehr auch junge Autoren am Anfang ihrer Laufbahn – kann eine Ästhetisierung des Genres attraktiv sein. Hinzu kommt, dass unsere Zeit bekanntermaßen im Zeichen einer postmodernen Weltanschauung steht, bei der alles relativiert und die Genres miteinander vermischt werden. In diesem Kontext ist der Krimi keine untergeordnete Literaturform mehr, sondern ein belastbares Gebilde, das auch zur Vermittlung von Inhalten höchster Ordnung in der Lage ist. Der Kriminalroman wird zu einer Art Sprungbrett, zu einem Vorwand, ähnlich dem, was Umberto Eco mit dem historischen Taschenbuchgenre in seinem parodistischen Roman „Der Name der Rose“ gemacht hat. All dem kann noch die radikale Veränderung der Erzählsituation hinzugefügt werden. Heutzutage glaubt man nicht mehr an die Existenz eines omnipotenten Narrators, und Thomas Mann dürfte der erste gewesen sein, der dies wahrgenommen und 1951 in seinem Roman „Der Erwählte” anstatt des Narrators den Begriff „Geist der Erzählung“ eingeführt hat. Für einen Krimiautoren ist das der ideale Weltzustand. Wenn nun auch die bequeme Position des Erzählers aus dem 19. Jahrhundert ins Wanken geraten ist, wird der Roman zu einem gleichsam kenntnistheoretischen Problem: die Welt ist nicht erkennbar, man weiß nicht genau, wer wer ist, die Akteure tragen Masken und die Motive für die einzelnen Taten lassen sich so nicht ohne weiteres aufdecken. Für einen Kriminalroman ist ein besseres Terrain wohl kaum vorstellbar: Erkenntnistheorie und Narrationsprobleme erschaffen wie von selbst die seriöse Grundlage und den geistig anspruchsvollen Hintergrund für das leichte Genre. 

Fehlende Tradition

In Ungarn hat sich jedoch nie eine so große Krimitradition entwickelt wie in den westlichen Staaten, hauptsächlich in England oder den Vereinigten Staaten. Anders ausgedrückt kann ein heutiger ungarischer Krimiautor nur bedingt auf parodistische, die eigene Tradition persiflierende Lösungsansätze zurückgreifen. Noch größer werden die Schwierigkeiten dadurch, dass eine realistische gesellschaftsabbildende Literatur von umfänglichem Anspruch und Niveau, der sich zum Beispiel die englische mit Dickens und Thackeray, die französische mit Balzac, Stendhal und Flaubert, die russische mit Tolstoi, Dostojewski und Gorki bzw. die amerikanische mit Melville und Hawthorne rühmen kann, in Ungarn nie existiert hat.

Außerdem muss man sich mit einer sehr schweren Erblast auseinandersetzen, und das ist keine andere als die Literatur und Gesellschaftsanschauung des Sozialismus.

Das Erbe des Sozialismus

Die Frage, warum zu Zeiten des Sozialismus kein wirklicher Krimi geschrieben werden konnte, lässt sich einfach beantworten. Eine der wichtigsten soziologischen Voraussetzungen, ja Daseinsbedingungen für dieses Genre ist die Existenz einer offenen Gesellschaft, einer Welt, in der sich die Akteure frei bewegen können und die Privatsphäre mittels verschiedener gesetzlicher Garantien geschützt ist. Genau diese Bedingungen herrschten aber von 1948 bis 1989 in Ungarn nicht. Hinzukommt, dass es laut offiziellem Standpunkt der Partei im Grunde genommen auch keine Kriminalität gab und man folglich in der Öffentlichkeit nicht darüber sprechen durfte. Der Krimi als Genre hörte somit auf zu existieren bzw. beschränkte sich auf Spionageromane (und natürlich Spionagefilme), die selbstredend schwer ideologisch gefärbt waren, sprich: Agenten des Westens, zumeist aus Wien bzw. Westdeutschland, versuchten das junge sozialistische Ungarn zu vernichten – natürlich erfolglos. Das Publikum nahm diese Versuche, wie kann es anders sein, mit spöttischem Gelächter auf. Und mehr als bezeichnend dafür ist, dass der Held der wohl erfolgreichsten Krimiserie kein Mensch, sondern ein Tier war – der berühmte Spürhund Kántor. Noch ernster war das Problem, dass in diesen Romanen keine Privatdetektive auftreten und in den Dialogen nur die Polizeiarbeit beschrieben werden durften, was wiederum nur eine verlogene Darstellung zur Folge hatte.

Eine Tradition hätte allerdings bestanden, nämlich in den Werken von Jenő Rejtő, den auch Márai erwähnte. Der während des Holocausts ermordete Rejtő schrieb unter dem Pseudonym P. Howard mehr Krimiparodien als wirkliche Kriminalromane und würzte sie ungeheuer geistreich mit den Mitteln des etwas absurden Budapester Kaffeehaushumors aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Allerdings war er bis Anfang der siebziger Jahre als Autor verboten, und die alten Ausgaben seiner Romane konnte man sich nur auf dem Flohmarkt für astronomische Summen besorgen.

Die befreite Literatur

Wie gemeinhin bekannt, veränderte sich die soziologische und ästhetische Position der ungarischen Literatur nach der Wende 1989 tiefgreifend. Es gab keine Tabuthemen mehr, alles konnte erscheinen und es schien nur natürlich, dass nach Jahrzehnten der Zensur nun hauptsächlich Literatur politischen Charakters, die die Verbrechen der jüngeren Vergangenheit aufdeckte, in den Mittelpunkt rücken würde. Doch dazu kam es nicht. Anstatt der Politik gewann in der Prosa eine Art etwas realitätsfremder Ästhetizismus die Oberhand, und im Zeichen der postmodernen Ästhetik wurde auch die Wirklichkeit nur zu einem der in der Welt existierenden „Texte“. Doch das Publikum wandte sich schnell von dieser Literatur ab, und es stellte sich heraus, dass ein Schriftsteller, in gewissem Maße zur bis dahin etwas verschmähten Realität zurückkehren muss, wenn er Wirkung erzielen will. Ab dem Ende der neunziger Jahre waren sich alle einig, dass der Erzählung wieder der ihr gebührende Rang gegeben werden muss, und das Geschichtenerzählen trat in den Mittelpunkt. Auf der nunmehr etwas veränderten Geschmackspalette forderte auch der Krimi einen angemessenen Platz für sich. Nach einigen Versuchen, die mehr in die Kategorie der leichten Lektüre fielen (bezeichnenderweise schrieben die Autoren unter „englisch klingenden“ Pseudonymen wie Vavyan Fable alias Éva Molnár oder Leslie L. Lawrence alias László Lőrincz) stellte das 1996 erschienene Buch Szürke galamb (Graue Taube) von Sándor Tar die Wende dar. Dem Untertitel des Buches zufolge war es kein Krimi, sondern ein „Sündenroman“. Damit wollte Tar in etwa hervorheben, dass das wichtigste Element in seinem Roman nicht die Aufklärung und auch nicht die Person des Mörders, sondern die Sünde selbst ist. Hierbei wird wohl Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ die Hauptinspirationsquelle gewesen sein. Die Handlung spielt in einer ungenannten Kleinstadt in Ungarn, deren Einwohner von einer merkwürdigen Epidemie heimgesucht werden, was mit dem Erscheinen einer Art „mutierter“ Tauben im Zusammenhang steht. Mit außergewöhnlicher Suggestivität beschreibt Tar gar nicht so sehr die interne Welt der Stadtbewohner, als vielmehr die der Polizei – eine unendlich verkommene, völlig korrupte Welt voller Niederträchtigkeit, die auch vor Mord nicht zurückschreckt. Anstatt eines unterhaltsamen Krimis erhält der Leser ein niederschmetterndes, gesellschaftliches Gesamtbild, eine tief erschütternde, fast schon apokalyptische Zeichnung des Ungarn vor der Jahrtausendwende. Leider machte Tars Buch keine Schule.

Unbedingte Erwähnung verdient auch der Name Dezső Tandori, der heute die vielleicht bedeutendste Figur in der ungarischen Literatur und - neben Péter Esterházy - sowohl als Dichter als auch Prosaschriftsteller der ungarische Literat von größter Wirkung ist. Tandori begann schon vor der Wende (ab 1980) unter dem Pseudonym Nat Roid (Anagramm seines eigenen Namens) mit der Veröffentlichung einer bisher elfbändigen Krimireihe, die mit ihren komplizierten Handlungen und sämtlichen Tricks postmoderner Wortspiele dennoch eine Einzelerscheinung blieb.

Die neuesten Krimis

Heute verfolgt der ungarische Krimi zwar nicht die ernsthaftere Richtung von Tar und Tandori, doch einige Talente geben Anlass zu den schönsten Hoffnungen. An erster Stelle muss Vilmos Kondor genannt werden, der mit seinem ersten Buch, das 2008 erschien, das Genre des historischen Kriminalromans in Ungarn eingeführt hat. Insgesamt sind von ihm bislang drei Bände veröffentlicht worden: Budapest noir (Der leise Tod, Knaur 2010), Bűnös Budapest (Sündiges Budapest), A Budapesti Kém (Der Budapester Spion). Der Hauptheld ist kein Privatdetektiv, sondern der Journalist und Polizeireporter Zsigmond Gordon, der in den 1930er Jahren aus den Vereinigten Staaten, wo er seine Jugend verbracht hat, wieder zurück nach Ungarn zieht. In den drei Bänden wird ideenreich, klug und mit hervorragendem Stilgefühl das tragische Bild eines Landes gezeichnet, das in den Weltkrieg und Nazismus hineintreibt, wobei die sehr stark atmosphärische Milieuzeichnung der Hauptstadt Budapest breiten Raum einnimmt. Nach den Plänen des Schriftstellers soll die Reihe im stalinistischen Ungarn der fünfziger Jahre ihren Abschluss finden.

Einen historischen Roman schrieb auch Katalin Baráth. In A fekete zongora (Das schwarze Klavier - 2010) wird in der Erzählung in der ersten Person Singular durch eine Ladenbesitzerin, die in einer kleinen Provinzstadt aufgewachsen ist, das geistige und wirtschaftliche Leben in Ungarn an der Schwelle zum Eintritt in die Welt der Moderne aufgezeigt und gleichzeitig auch einem der größten ungarischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Endre Ady, in würdiger Weise gedacht – der Titel des Romans ist auch Titel eines seiner berühmtesten Gedichte. Ebenfalls literarisch und teilweise historisch inspiriert ist die Romanreihe Szindbád, a detektív (Sindbad, der Detektiv) von László Csabai. Sindbad heißt ein bekannter Held bei dem großen ungarischen Prosaschriftsteller Gyula Krúdy, und obwohl Csabai betont, seine Figur habe nicht viel mit der Krúdys gemein, drängt sich dem Leser dennoch ein Vergleich auf. In den Erzählungen, die sich über die Zeit vom Anfang der 1920er Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg erstrecken, lässt Csabai, der auch vor gewissen philosophischen Überlegungen nicht zurückschreckt, mit einfühlsamer Milieuzeichnung und feinem sowie glaubhaftem Realismus einen Detektiv agieren, der sehr skeptisch ist, eigentlich keinerlei Illusionen hat und nicht so sehr auf Taten, als vielmehr die Regungen der menschlichen Seele achtet.

Die heutige ungarische Kriminalliteratur ist also hauptsächlich von rückblickender, historischer Inspiration geprägt. Kriminalromane, in denen sich die heutige Realität widerspiegelt, lassen vorerst noch auf sich warten. Was jedenfalls die Kriminalität anbelangt, steht Ungarn leider nicht schlecht da, und es wäre an der Zeit, dass dafür auch ein Chronist geboren wird.

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