Ildikó Boldizsár im Gespräch
„Jedem sein eigenes Märchen“ - Über die heilende Kraft der Märchen


Ildikó Boldizsár
Foto: privat
Für alle Lebenssituationen lässt sich in der Märchenwelt eine Entsprechung finden. Diese Erkenntnis liegt der Märchentherapie zugrunde, die auch Erwachsenen hilft, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Wir fragten die Märchenforscherin Ildikó Boldizsár, die die „Märchentherapie Methode Metamorphoses“ ausgearbeitet hat, nach der heilenden Kraft der Märchen.

Sie haben während Ihres Studiums Volksmärchen gelesen, Ihre Diplomarbeit über den Vergleich von Volks- und Kunstmärchen geschrieben und beschäftigen sich nun schon seit beinahe 30 Jahren mit Märchenforschung. Worauf beruht für Sie die Anziehungskraft der Märchen?

Auf einer Erkenntnis. Ich habe in den Märchen jene Hinweise gefunden, die uns Menschen zu einem erfüllten Leben verhelfen können. Märchen interessierten mich erst seit meinem Studium, davor hatte ich die erwähnten Hinweise anderswo gesucht. Als ich aber erkannte, welche Schätze in den uns überlieferten Geschichten verborgen sind, fühlte ich mich stark zu den Märchen hingezogen.

Wie haben Sie die Märchentherapie entdeckt? 

Ich hielt den ersten Kurs in Märchentherapie, als ich noch keine Ahnung hatte, dass das, was ich da machte, Märchentherapie genannt wird. Ich ging in den 1990er Jahren wöchentlich zweimal in das Kinderspital in Buda, um den kleinen Patienten Märchen zu erzählen, ich wollte ihnen den Krankenhausaufenthalt erleichtern. Damals durften Eltern noch nicht bei ihren Kindern im Spital bleiben, auch gab es keine Clowndoktoren. Aus diesem Märchenerzählen im Krankenhaus ist die Märchentherapie erwachsen. Als ich sah, wie positiv sich Märchen und das Erzählen auf die Patienten auswirkten, begann ich, nach den Ursachen zu forschen. Die Therapieform, die ich heute unterrichte, entwickelte sich nach der Ausarbeitung von Antworten. Die von mir ausgearbeitete und angewendete „Märchentherapie Methode Metamorphoses“ beruht auf der Erkenntnis, dass es keine Lebenssituation gibt, die keine Entsprechung in der Märchenwelt hätte. Wir suchen im Verlauf der Therapie das Märchen, das zur gegebenen Lebenssituation passt. Dieses Märchen, in dem der Held mit dem selben Ziel aufgebrochen ist und das selbe in sich zur Entfaltung bringen wollte wie der Patient, der sich mit seinem Problem an mich wendet. Der Held aber scheitert nicht auf seinem Weg, er geht ihn bis zum Ende. Mit der Hilfe des Märchens kann das der Patient früher oder später auch. 

Wie aber vermag ein Märchen die Heilung seelischer Probleme zu unterstützen? 

Märchen sind Geschichten, in denen es darum geht, dass der Mensch im Verlauf seines Lebens jederzeit mehr sein kann als das, was er gerade in einem gegebenen Moment ist. Wie können wir unsere Grenzen überschreiten, unsere Ängste überwinden? Wie finden wir in einer Situation Halt, in der wir das Gleichgewicht verloren haben? Wie finden wir den richtigen Partner? Wie schwer ist es doch, unsere Zauberkräfte zu entdecken, unsere Drachen zu besiegen. Das sind alles „Lebensprobleme“, die auch im Alltag oft auf uns zukommen.

Wer wendet sich an Sie und welche „Lebensprobleme“ bringt man mit?

Die Märchentherapie kann vom Lebensalter unabhängig angewendet werden. Die meisten meiner Patienten sind Erwachsene zwischen 20 und 50 Jahren, die in irgendeinem Abschnitt ihres Lebens eine Krisensituation erfahren haben, sei es Trauer, Scheidung, Einsamkeit, Beziehungsprobleme oder Kommunikationsprobleme. Im Märchentherapiezentrum in Paloznak, dessen Leiterin ich bin, beschäftigen wir uns mit jungen Menschen zwischen vier und vierundzwanzig Jahren, die in Staatspflege leben.

Wie läuft so ein Kurs ab?

Nach dem Erfassen des Problems suche ich zuerst jenes Märchen aus, das der Situation des Patienten, seinen Gedanken und seiner Gefühlswelt am nächsten kommt. Wir arbeiten im Therapieverlauf dieses Märchen auf. Mit Hilfe der Bilder und Symbole im Märchen entwickelt sich eine aktive Vorstellungs- und Fantasiearbeit. Das zielt auf die Verfeinerung der Sinnesorgane ab, beziehungsweise darauf, dass sich die Sichtweise des Patienten mit Details anreichert, und dass er sich an möglichst vielen Punkten auch bewusst mit seiner Umgebung verbindet. In gewissen Phasen der gemeinsamen Arbeit kann es durchaus vorkommen, dass der Patient in der Darstellung seines Heilungsweges einzelne Märchenmotive verändert, meistens den Schluss des Märchens, und sich so in eine von ihm kreierte Geschichte versetzt, die sich auf sein Leben erneuernd auswirkt. 

Sprechen wir von Märchen, so denken die heutigen Kinder an moderne Märchen, die sie im Fernsehprogramm gesehen haben, und auch ihren Eltern fallen zumeist die zeitgenössischen Märchen ein. Mit welchen Märchen „arbeitet“ die Märchentherapie?

Ich verwende in der Therapie ausschließlich Volksmärchen, doch treffe ich meine Auswahl nicht nur aus der ungarischen Überlieferung, sondern aus dem Märchenschatz aller Völker, sind doch die Märchenmotive alle international. Volksmärchen stellen die gemeinsame Erinnerung der Menschheit dar, sie wurden durch ein Kollektivbewusstsein bis auf ihren heutigen Stand herauskristallisiert, sie sind also im Grunde genommen in jedem Menschen vorhanden. „Kunstmärchen“ hingegen entstehen durch eine individuelle Schaffenssituation, sie bauen sich aus der Erinnerung des jeweiligen Autors auf. 

Auch die Grimmschen Märchen beruhen auf Volksmärchen, verwenden Sie diese auch in der Therapie?

Sie werden oft herangezogen. Meine älteren ungarischen Patienten sind ja mit diesen Märchen aufgewachsen, sie kennen fast alle prominenten Märchen der Gebrüder Grimm. Auch meine ausländischen Patienten arbeiten gern mit diesen Märchen. In der Therapie treffe ich meistens auf die Märchen Schneewittchen, Aschenputtel und Dornröschen, diese Märchen werden immer von den Patienten mitgebracht, vor kurzem aber habe ich eine Therapie abgeschlossen, in dem ich mit einem Mann mittleren Alters das Märchen „Die Kristallkugel“ aufgearbeitet habe. Die Märchentherapie geht nicht davon aus, welches Märchen wofür zu gebrauchen ist, vielmehr davon, welches Märchen von den zweitausend Märchentypen, die uns zur Verfügung stehen, ein Mensch braucht, der auf Hilfe angewiesen ist. So kann zum Beispiel Dornröschen einem Backfisch ebenso helfen wie einer „schlafversunkenen“ Frau im Klimakterium. Wir suchen stets nach dem Märchen, das dem gegebenen Muster entspricht. 

Als Märchentherapeutin kennen Sie offensichtlich Unmengen von Märchen …

Auch wer nur einige Märchen kennt, kennt unzählige, denn aus einem einzigen können zahllose Varianten konstruiert werden. Beim Märchenerzählen wähle ich immer Märchen, die zum Zuhörer passen. Je nach Situation gleiche ich das eine oder andere Märchen den Lebensaltern oder den Lebenssituationen an. Natürlich ohne die ursprüngliche Bedeutung anzutasten, die müssen alle Märchenerzähler in Ehren halten.

Haben Sie ein Lieblingsmärchen?

Mein Lieblingsmärchen handelt von einem verkauften Traum, ein alter Mann verkauft ihn einem jungen Hirten. Dieser wandert so lange umher, bis er den Traum des Alten findet. Ich finde es interessant, dass in diesem Märchen weder die Hand der Prinzessin, noch der Besitz des Königreiches die Erfüllung des Traumes bedeutet. In meinem Märchen verschaffen dem Helden nicht die großen Dinge, sondern die alltäglichen kleinen Glückseligkeiten die Zufriedenheit. Vielleicht ist es eben deshalb mein Märchen, weil auch ich mein Leben so lebe.
 

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