Aus- und Ansiedlungen
Multiple Traumata

Gyuláné Bíró
Gyuláné Bíró | Foto: Gréta Kovács

Die nach dem Zweiten Weltkrieg in Mitteleuropa vollzogene Zwangsmigration hat tiefe historische Wunden hinterlassen: Davon handelt die Geschichte von Tante Ilonka und Tante Mariska in Szentlászló.

Nach dem tschechoslowakisch-ungarischen Abkommen über den Bevölkerungsaustausch wurden 1947 auch nach Szentlászló 212 Ungar*innen aus dem in der Tschechoslowakei gelegenen ehemaligen Oberungarn (Felvidék, auch Oberland genannt) umgesiedelt. Man ließ sie in jene Häuser einziehen, in denen die dort wohnenden Donauschwäb*innen auf ihre Aussiedlung warteten.

Im April 1948 wurden schließlich 250 deutschsprachige Ungar*innen aus Szentlászló „einwaggoniert“ und in die sowjetisch kontrollierte Zone – die spätere DDR – geschickt. Gepäck durften sie bis zu einem Gewicht von fünfzig Kilogramm mitnehmen. Da die aus der Slowakei ausgesiedelten Ungar*innen in beträchtlich höherer Zahl eingetroffen waren als die in Ungarn ansässigen Slowak*innen, die das Land freiwillig verließen, wurden auch die Häuser der Schwäb*innen den neu zugewanderten ungarischen Familien zugewiesen.

Reiche Arme

Józsefné Arnold, Tante Marika
Józsefné Arnold, Tante Marika | Foto: Gréta Kovács
Ilonka Józsefné Spannenberger und ihre Schwester Marika kamen als Kinder aus dem Oberland nach Szentlászló. Tante Ilonka erfuhr unmittelbar vor ihrem siebten Geburtstag, dass auch sie ihr Zuhause verlassen müssen. Sie erinnert sich daran, wie niedergeschlagen die ganze Familie deshalb war und dass sie viel weinten. Um wie viel schlimmer die Verhältnisse sein würden, die sie erwarteten – das hat sich erst vor Ort herausgestellt.

Im Oberland hatte die Familie in bäuerlichem Wohlstand gelebt: Sie hatten Tiere gehalten, das Land bestellt und über moderne Maschinen verfügt; dank diesem Umstand hatten sie immer Erzeugnisse parat gehabt, die sie auf dem Markt verkaufen konnten. Ihr Haus war geräumig und komfortabel gewesen. Nicht nur, dass sie in Szentlászló dann bei den auf Abschiebung wartenden hiesigen Deutschen einziehen mussten, auch waren die schwäbischen Bauernhäuser von vornherein kleiner. Während sie in ihrer Heimat hochwertige Ländereien auf dem Flachland bewirtschaftet hatten, kamen sie nun in der hügeligen Landschaft der Zselic-Region schwer zurecht.

Józsefné Spannenberg, Tante Ilonka (links), mit ihrer Schwester Tante Marika
Józsefné Spannenberg, Tante Ilonka (links), mit ihrer Schwester Tante Marika | Foto: Gréta Kovács
Tante Ilonka hat seit ihrem 14. Lebensjahr gearbeitet. Sie war bereits verheiratet, als sie im Alter von 25 Jahren wieder in ihr Heimatdorf fuhr: Sie suchte ihr ehemaliges Haus auf und musste feststellen, dass sich dort alles verändert hatte – das sei nicht mehr das Dorf ihrer Kindheit gewesen. Sie hat sich damit abgefunden, nie wieder dorthin zurückzuziehen.

Die Menschen aus dem Oberland wurden alleingelassen

Auch Mária Holenka und ihre Familie wurden Opfer der Zwangsumsiedlung. Sie mussten das in der Slowakei gelegene Naszvad (slowakisch Nesvady) verlassen, von wo die meisten Menschen aus dem Oberland nach Szentlászló kamen. Die Holenkas hatten versucht, das Verbleiben in der Heimat für zumindest einen Teil der Familie möglich zu machen: Der Bruder von Tante Mariska beispielsweise hatte eiligst geheiratet – doch half das alles nicht, auch er musste seine Heimatstadt verlassen.

Tante Mariskas Tochter, Gyuláné Bíró blickt auf die Geschichte der Familie zurück und erzählt, dass ihre Mutter monatelang nicht zuließ, dass sie den Koffer auspacken, weil sie hoffte, sie würden sich nur vorläufig in Szentlászló aufhalten; außerdem wollte sie auch die schwäbische Familie nicht beleidigen, die sich in den kleineren Teil des Hauses zurückgezogen hatte.
Tante Marika © Foto: Gréta Kovács Tante Marika Foto: Gréta Kovács
Der ungarische Staat kümmerte sich überhaupt nicht um die Integration der angesiedelten Ungar*innen: Man war der Meinung, dass sie keine Hilfe benötigten, sprachen sie doch die Landessprache. Jedoch war es für die Kinder ein gravierender Nachteil, dass – nachdem die Möglichkeiten für muttersprachlichen Unterricht im Oberland eingeschränkt gewesen waren – sie hier keine Hilfe beim Aufholen erhielten. Auch Tante Mariska war schon erwachsen, als sie ihren Schulabschluss machte.

Die Eltern von Gyuláné Bíró gehörten zu den Ersten, die eine „bikulturelle Ehe“ eingingen: Tante Mariska heiratete einen einheimischen Schwaben, und sie sprachen Deutsch miteinander, wenn sie vermeiden wollten, dass die Kinder sie verstehen.

Zwar hat man das Prinzip der „Kollektivschuld“ zur Geltung gebracht, aber es wurden nicht alle Schwäb*innen abgeschoben, sondern nur diejenigen, die sich bei der letzten Volkszählung als Deutsche oder Deutschsprachige erklärt hatten. In Szentlászló verlief die Volkszählung eher in Form einer schriftlichen Erfassung: Man hat nicht jeden einzeln befragt, sondern unter Mitarbeit eines Einheimischen eine Art Inventur aufgestellt. In mehreren Fällen waren die Angaben nicht einmal zutreffend – dennoch wurden später die Abschiebungen auf deren Grundlage organisiert.

Schwäbische Identität

In den Kindheitserinnerungen von Gyuláné Bíró spielte sie zusammen mit ihren Geschwistern und anderen Kindern auf einer der beiden Dorfstraßen: auf der Kossuth-Straße, wo die alteingesessenen Szentlászlóer wohnten, oder in der Kleinen Straße, wo überwiegend „Dahergelaufene“ ihr Zuhause hatten.
Marika néni © Fotó: Kovács Gréta Marika néni Fotó: Kovács Gréta
Über die Aussiedlung wurde in der Familie nicht gern gesprochen. Kaum hatten sie diese Erschütterung einigermaßen überwunden, ereignete sich eine weitere Tragödie: Der Vater von Tante Mariska konnte sich mit der Kollektivierung überhaupt nicht abfinden. Nachdem ihm zur Übergabe an die LPG auch die Tiere weggenommen worden waren, die er noch aus Naszvad mitgebracht hatte, beging er Selbstmord. Auch dieses Ereignis wurde in den späteren Familiengesprächen weitestgehend tabuisiert.

Während das Dorf vor dem Krieg zu achtzig Prozent von Menschen deutscher Nationalität bewohnt gewesen war, erklärten bei der letzten Volkszählung 2011 beinahe neunzig Prozent der Bevölkerung ihre Zugehörigkeit zur ungarischen und 16 Prozent zur deutschen Nationalität (oder „auch“ zur deutschen Nationalität, zumal man auf diese Frage mehr als eine Antwort geben konnte). Auch wenn diese Zahl nicht sehr hoch ist, lebt in Szentlászló das Bewusstsein für die schwäbische Identität des Dorfs weiter und wird hauptsächlich auch an die neuen Einwohner*innen weitergegeben.

Es gibt mehrere Mahnmale in Szentlászló, die an die Zwangsmigration erinnern: Die Statue „Mutter mit Kind“ wurde 1998 zum fünfzigsten Jubiläum der Aus- und Ansiedlungen aufgestellt. Das Haus, in dem sich das Dorfmuseum mit der heimatgeschichtlichen Sammlung befindet, gehörte einst einer vertriebenen schwäbischen Familie, deren Nachkommen es unlängst zurückgekauft und der Gemeinde zu Museumszwecken überlassen haben. Am meisten lohnt sich die Suche, wenn man den Friedhof besucht: Dort sieht man, wie sich die Gräber nach dem Krieg schlagartig verändert haben, wie die schwäbischen Ruhestätten immer rarer geworden sind.

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