Noémi Kiss
Gebärmaschinen

Gebärmaschinen
Foto: Kata Geibl © Goethe-Institut Budapest

Während ich die letztjährigen Bevölkerungsdaten des ungarischen Statistischen Amtes (KSH) durchlas, ging mir ein 8. März aus älterer Zeit im Kopf herum. Mein Mann hatte mir zum Weltfrauentag Blumen gebracht und sie auf den Teppich neben mich gelegt. Dort lag ich – zu Tode erschöpft, in Embryonalstellung gekauert, das Gesicht in den Händen vergraben. Nichts wäre mir lieber gewesen, als aus meinem eigenen Leben auszusteigen.
 
Damals waren meine Zwillinge vier Monate alt. Mutter zu sein ist zugegebenermaßen die schwerste und glücklichste Periode meines bisherigen Lebens. Die meisten Frauen – Mütter – würden sich wünschen, dass jeden Tag Weltfrauentag wäre, und dass sich das Ritual des Blumen-Schenkens auch in die winzigen Handlungen des Alltags hinüber verpflanzen ließe. Und dass die modernen Frauenrollen allgemein – auch ohne Blumen – mehr Beachtung fänden. Insbesondere, wenn es um „Bevölkerungspolitik“ oder um die „Allianz mit den Frauen“ geht.
 
Die Gefühlswelt der Mütter ist niemals homogen. Emotionen schwirren darin herum, rationale Entscheidungen werden mit Liebe vermengt, Wünsche werden durch alltägliche Sorgen eingeschränkt. Krabbeln zwei winzige Kinder ständig neben dir, dann ereignen sich in dieser Intimität auch im Alltag reihenweise zufällige Wunder. Dies in die Bevölkerungspolitik einzubauen ist bekanntlich sehr schwer. In den Ländern aber, in denen die alltäglichen Sorgen der Mütter und Frauen keinerlei Beachtung finden, die Herausforderungen, vor denen sie stehen, nicht wahrgenommen werden, und keine Wirkungsanalysen vorgenommen werden – dort ist es ziemlich schwer, über Frauenpolitik zu reden. Es ist doch nicht möglich, über die Geburt – das Gebären und das Geboren-Werden – ohne Emotionen, ohne Körperlichkeit und ohne die Gegenwärtigkeit der Kinder zu beraten. Genau dieselbe Dualität widerspiegeln eigentlich auch die Statistiken: Die Frauen bekommen später und weniger Kinder als noch zu Zeiten des Staatssozialismus. In Ungarn ist die Geburtenrate seit dem Systemwechsel niedrig; es gibt weniger Entbindungen und die Mütter sind älter bei der Geburt. Diese Zahl kommt in den letzten Jahren nicht so richtig voran, wodurch die Gesellschaft immer älter wird; es gibt keine mathematische Reproduktion. Ein bedeutender Teil der Kinder kommt wegen der Abwanderung von Arbeitskräften im Ausland auf die Welt.
 

Frauenvertretung: ein Defizit

 
In Budapest gibt es praktisch keine Frauenvertretung im Parlament. Auf diese Weise fehlt jegliche Sensibilität für die veränderten Frauenrollen. Es ist unmöglich, die Mutterschaft von oben zu betrachten. Die Existenz von Mutterschaftsstatistiken und -kampagnen macht die Mütter auch nicht jünger. Und auch nicht zahlreicher. Keine Regierung, keine Politik oder kein Staat kann den Platz der Embryonen in den Gebärmüttern der Frauen einnehmen. Bevölkerungspolitik zu personalisieren ist eine fast völlig unlösbare Aufgabenstellung. Oft führen die überteuerten Kommunikationsstrategien bei den jungen Frauen geradezu zu Aversionen und Trotzreaktionen.
 
Es gibt aber Lösungen, noch dazu in Form sehr erfolgreicher und effektiver staatlicher Strategien. In dieser Hinsicht zeigt Europas Landkarte ein widersprüchliches Bild: Im Süden ist die Zahl der Neugeborenen heute beträchtlich kleiner als im skandinavischen Norden oder in Frankreich. Auch in Osteuropa – in den ehemaligen Sowjetstaaten – ist die Geburtenrate in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Die Hindernisse für höhere Geburtenzahlen werden in denjenigen Ländern erfolgreicher beseitigt, in denen die modernen Frauenrollen Beachtung finden. Nach einer Erhebung der UNO aus dem Jahr 2015 stieg die Geburtenrate in Europa in denjenigen Ländern, in denen die Frauen weniger Arbeitsstunden zu leisten hatten, die medizinische Versorgung und die Geburtshilfe gut ausgebaut sind, die Frauen politisch stark vertreten sind, die Gleichstellung der Geschlechter umgesetzt wird, das Unterrichtswesen den Bedürfnissen der Familien in einer modernen Welt angepasst ist, und die Lehrer gute Arbeitsbedingungen haben. Also in den Ländern, in denen die Mütter nicht zu Figuren einer längst vergangenen Ära, zu utopischen Gebärmaschinen automatisiert werden sollen. Es erzeugt ziemlich viel Unmut, wenn dabei über „Geburtenpolitik“, „Bevölkerungszuwachs“ oder „zu erwartende Kinderzahl“ geredet wird. Ist ja doch die Intimität der Geburt und der Mutterschaft nicht dasselbe wie der systembezogene, reproduktive Zwang zur Geburt und zur Mutterschaft.
 
Wer möchte in der U-Bahn nicht sofort einer Frau zu Hilfe kommen, die mit vier Kindern einsteigt? Wer möchte nicht, dass jedes Wunschkind auf die Welt kommt? Ein Kind aber ist niemals eine Staatsfrage. Es ist eine emotionale, innere, eng am Körper haftende Entscheidung der Frau / der Mutter, eine freie Wahl, die zudem durch tausend Fäden mit den vorhin erwähnten zwiespältigen Gefühlen – und so auch mit den Lösungsansätzen für die Problematik der Bevölkerungspolitik – verbunden ist. Laut Statistiken hängt die Geburtenrate in hohem Maße von der Geschlechtergleichstellung ab, das heißt, die Rate ist in den Ländern höher, in denen es eine moderne Frauenpolitik gibt.
 

Abwandernde Mütter

 
Eine interessante Entwicklung der letzten zehn Jahre ist, dass das erste Kind in einem bedeutenden Teil der Familien nicht in Ungarn geboren wird. Die Zahl der seit 2010 ins Ausland ausgewanderten Ungarn wird vom Statistischen Amt (KSH) offiziell auf etwa 175.000 Personen geschätzt. Viele davon sind junge Familien oder die Haupternährer der Familie. Diese Angabe ist jedoch nur eine Schätzung, seit Jahren ist die Statistik über die im Ausland lebenden Ungarn unsicher, weil sie nur anhand von Angaben anderer Länder erstellt wird. Es ist anzunehmen, dass die Zahl der Ausgewanderten weit über dieser Schätzung liegt.
 
Wo kann man gut eine Familie gründen? Wo auch immer – es ist letzten Endes egal. Wo ist es gut, Kinder zu bekommen und sich mit Babys zu umgeben? Dort, wo die geburtshilfliche Versorgung gut ist, wo der Kinderarzt kompetent genug ist, wo jeder noch so kleine Platz kinder- und mütterfreundlich ist usw. – so zählen die Frauen die Präferenzen auf. Oder: dort, wo die unsichtbare, sorgende Arbeit anerkannt wird. Wo sich die Geburt von Säuglingen nicht nach den Marktinteressen und auch nicht nach den Interessen der multinationalen (in Osteuropa vor allem deutschen) Industrie richtet. Also dort, wo Frauenpolitik kein Defizit ist. Die Interessenvertretung der Frauen ist heute leider ziemlich ineffektiv, und dafür tragen eindeutig sowohl die linken als auch die rechten Parteien die Verantwortung. Es gibt zwar eine Art Pseudo-Feminismus – elitäre Aktionen in den Innenstädten –, ihre Wirkung ist aber gleich Null. Keine der parlamentarischen Parteien in Ungarn hat ein mütterfreundliches Programm.
 
Seit Jahren ist allgemein bekannt, dass die Kinder ins Ausland abgewanderter Arbeitnehmer nicht selten bei den Großeltern aufwachsen. Nicht nur in der Ukraine, in Moldawien, in der Rumänischen Tiefebene und in Siebenbürgen ist es so, sondern sehr wohl auch in Ungarn, in den Regionen Borsod und Hajdúság. Die Mutter betreut nicht ihre eigenen Kinder und Eltern, sie pflegt alte Menschen im Westen. Die Kleinen werden von Großeltern und Tanten erzogen, während Vati und Mutti in Italien Tomaten pflücken.

 
„Zu gebären ist für Ehefrauen Pflicht, für Ledige eine Ehre“

 
Die ungarische Regierung hat Anfang Februar ihre politischen Programmpunkte zur Förderung des Bevölkerungswachstums bekanntgemacht. Es geht dabei nicht um ein Programm zur Förderung der Gesellschaft oder des Lebensstandards, sondern um eine direkte Zuwendung als Anreiz für wachsende Geburtenzahlen. Sie ist für Frauen gedacht, die bereit sind, viele Kinder zu bekommen. Besonders diejenigen jungen Frauen werden unterstützt, die jünger als 40 Jahre sind und vier Kinder zur Welt bringen. Der Staat verfolgt oft genau dieselbe Herangehensweise an die Bevölkerungspolitik und begeht genau dieselben Fehler wie das Kádár-System oder das Rákosi-System in den 1950er Jahren. Er lässt die Struktur der Familien und die radikale Veränderung der Frauenrollen außer Acht. Ungarn hat, wie auch die anderen, ehemals sowjetisierten Länder, eine alternde Gesellschaft. Das Alter ist aber nicht „das schöne Alter“ nach ungarischer Redensart; es ist oft armselig, mittellos, kurz und gebrechlich. Die Kampagnen mögen vielleicht verbal einen positiven Ertrag haben, in der Bevölkerung aber wird jetzt schon über sie gewitzelt – sie werden schon jetzt verhöhnt. Das Synonym für Geburt oder Mutterschaft lautet: der totale finanzielle Bankrott.
 
Die Arbeitnehmer im Gesundheits-, Unterrichts- und Sozialwesen – besonders in den Frauenberufen – bringen ein Gehalt von 550 Euro netto nach Hause. Den Rahmenbedingungen, unter denen ein „Bevölkerungszuwachs“ realisierbar und die Abwanderung einzudämmen wären sowie die Arbeit der Frauen (Gehalt plus Arbeit im Haushalt) anerkannt werden könnte, steht eine bis ins Mark patriarchale parlamentarische Demokratie antagonistisch gegenüber. Es gibt keine Frauenvertretung und keine Frauenpolitik. Kommt man zu einer Entscheidung, so wird diese stets von Männern unter sich ausgemacht, je nach protektionistischen Positionen. So bleibt der gute Wille der Familienpolitik letzten Endes lediglich Staatspropaganda. Es gibt keinen Dialog zwischen der Gesellschaft und den Entscheidungsgremien. Ebenso sind die Mütter durch den die Kinder umzingelnden Konsum und durch marktbezogene, liberalisierte Grundsätze endgültig ausgeliefert; sie entfremden sich oft von der Gesellschaft. Wenn jemand heute wirklich einen Pakt mit den Frauen schließen möchte, so sollte er sich erst einmal auf sie einlassen.

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