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Max Mueller Bhavan | Indien

Vom echten Leben aufs Gaming
Die Gamifizierung einer schwierigen Phase der Geschichte

Die Gamifizierung einer schwierigen Phase der Geschichte
© Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan

„Wie heißt das beste historische Spiel, das du jemals gespielt hast?“
Vermutlich würden die meisten von euch Serien wie Civilization oder Assassin’s Creed nennen. Das sind mit Sicherheit gute Beispiele. Doch sie sind nicht ganz unproblematisch.

Von Pruthvi Das

Ersteres ist ein Strategiespiel, in dem Gandhi als Kriegstreiber auftritt. Letzteres ist ein Action-Adventure-Spiel, bei dem ein Sprung aus großer Höhe in einen Heuhaufen zur sicheren Flucht verhelfen soll. Beide bereiten großen Spaß.

Das Ziel dieser Spiele lässt sich im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen: Sie dienen lediglich der Unterhaltung. Sie sollen weder Einblick in historische Ereignisse gewähren noch historisches Wissen vermitteln. In einigen Fällen kommt es sogar vor, dass die historischen Begebenheiten eigenmächtig und grundlegend angepasst wurden, um den Unterhaltungswert der Spiele zu steigern. Deswegen finden sich darin bisweilen einige abstruse historische Fakten.

Vielleicht sollte die Frage also anders gestellt werden. Ungefähr so:

Wie heißt das beste, auf historischen Fakten beruhende Spiel, das du jemals gespielt hast?"

Ein Spiel, das mir sofort in den Sinn kommt, ist 1979 Revolution: Black Friday, das von iNK Studios entwickelt wurde. In ihm werden historische Berichte und Dokumente miteinander verknüpft. Auf diese Weise gelangt man mitten ins Epizentrum eines der dunkelsten Kapitel der wichtigsten Revolution in der iranischen Geschichte. Für das Spielprinzip standen Spiele von Entwicklern wie Telltale Games (The Walking Dead, The Wolf Among Us) und Quantic Dream (Heavy Rain, Detroit: Become Human).
 
The Walking Dead
© iNK Stories
‚The Walking Dead‘ — Die Bilder an der Jacke des Mannes stehen für all die Menschen, die für die Revolution ihr Leben gelassen haben.

Die Geschichte ist nichts für schwache Gemüter. Während des Spiels tritt man in die Fußstapfen des Journalisten Reza Shirazi. Die Einführung erfolgt in Form eines Monologs, in dem sich Reza an seinen Freund Babak erinnert. Dieser Monolog wird jedoch jäh unterbrochen, als Verstärkung eintrifft und Reza verzweifelt nach Lageplänen sucht. Unabhängig davon, welche Entscheidung die Spieler*innen in diesem Moment treffen, wird Reza verhaftet, und es werden ihm Verschwörung, Mord und Unterstützung der Revolutionäre zur Last gelegt.

Die Geschichte des Spiels wird hauptsächlich in Rückblenden auf die Ereignisse vor und während des Schwarzen Freitags erzählt. Das Spiel selbst findet ausschließlich in einem Verhörzimmer des Evin-Gefängnisses statt. Dort wird Reza durch den Aufseher Asadollah Lajevardi gefoltert und befragt, der unter dem Namen „Schlächter von Evin“ traurige Berühmtheit erlangte.

Die Erlebnisse der Spielfiguren beruhen größtenteils nicht auf historischen Fakten. Das Spiel selbst wurde jedoch auf Grundlage tatsächlicher Ereignisse des Jahres 1979 entwickelt. Einige der Spielfiguren wurden in Ansätzen bestimmten Revolutionären aus dieser Zeit nachempfunden, die für unterschiedliche Ideale und Überzeugungen stehen. Vor diesem Hintergrund war es beeindruckend zu sehen, wie eine aus vielen verschiedenen Religionsgruppen bestehende Gemeinschaft für ein- und dieselbe Sache kämpft.

An der Erzählweise gefällt mir, dass man ohne die Spielelemente, die eine Entscheidung erfordern, im Grunde eine neutrale Figur sein kann, die zwischen den beiden Polen der Revolution hin- und hergerissen ist. Die eine Seite steht für Gewalt, die andere tritt für Frieden ein. Meiner Ansicht nach war es den Entwicklern wichtig, Rezas Persönlichkeit nicht von Vorherein festzulegen und stattdessen uns Spieler*innen diese Einordnung zu überlassen. Dies war sehr beeindruckend, weil ich mir selbst ein Bild von den schrecklichen Ereignissen machen und nachvollziehen konnte, was die Menschen im Iran damals durchstehen mussten.

Doch das Spiel dreht sich nicht ausschließlich um diese Figuren. Gleich zu Beginn wird die Stimmung gesetzt, die sich durch das gesamte Spiel zieht – es war oft grausam, entmutigend und einfach nur ungerecht zu sehen, wie die Dinge ihren Lauf nahmen. Das Eindrucksvollste an diesem Spiel sind die Erfahrungsberichte, die in dokumentarischer Form aus der Perspektive eines Journalisten eingeflochten werden; die Sprechchöre, die Boykottaufrufe gegen westliche Einflüsse, die fotografischen Elemente, die durch echte Archivaufnahmen aus der Zeit inspiriert wurden, Babaks Kommentare zur Lage, die meinen Weg durch die Straßen des Iran begleiten, die Musik, die Schauplätze und Stimmungen untermalt – all dies bot die perfekte Kulisse, um das Spiel zu einem „bewusstseinsbildenden“ Spiel zu machen.

All diese Elemente mit einer Mischung aus interaktiven Erzählweisen und persönlichen Konflikten zu verknüpfen und dabei gleichzeitig einem solch sensiblen Thema gerecht zu werden, das ist an sich schon eine Mammutaufgabe. Und diese Aufgabe haben die Entwickler meines Erachtens mit Bravour erfüllt. Ich würde mir wünschen, dass es mehr solcher Spiele gäbe, was aber nicht sehr wahrscheinlich ist. Warum, das möchte ich kurz erläutern.

Es gibt Spiele wie die der Wolfenstein-Reihe, die Spieler*innen in eine Realität versetzen, in der die Nazis die Macht übernommen haben und verschiedene verrückte und unmenschliche Science-Fiction-Technologien zum Einsatz bringen. 

Doch dies führt mich zurück zum Zweck solcher Spiele: Sie dienen ausschließlich der Unterhaltung, nicht mehr und nicht weniger."

Das Motiv dafür ist einleuchtend: Mit Spielen will man der Realität entfliehen und ihr nicht noch weiter auf den Grund gehen.

Der Reiz besteht eben genau darin, aus hoher Höhe in einen Heuhaufen zu springen. Nazis im Da’at-Yichud-Powersuit mit dem LaserKraftWerk zu töten. Dagegen klingt der Gedanke, Figuren durch historische Ereignisse zu lenken, für viele nicht besonders reizvoll.

Doch es geht nicht nur darum, Vermächtnisse zu wahren und davon zu berichten. Es geht darum, an Weltanschauungen oder Ereignisse zu erinnern, von deren Beispiel wir lernen und die wir entweder als Mahnung oder als Inspiration betrachten können. Oder beides gleichermaßen! Dieses Spiel ist ein Beweis dafür, dass man das Publikum auch mit schwierigen Themen erreichen kann. Spiele könnten eine fundierte Grundlage für die Beschäftigung mit solchen Fragen bieten, doch nur dann, wenn eine größere Zahl von Entwicklern das Risiko einginge, sich solcher Themen anzunehmen und die Informationen, die ihnen darüber zur Verfügung stehen, mit größtmöglicher Sorgfalt und Umsicht zu verarbeiten. Ein Grund mehr, dass Spiele wie Black Friday unbedingt unterstützt werden sollten.

Es gibt Ereignisse, über die entweder nur wenig bekannt ist oder die, wenn ich es so sagen darf, in Vergessenheit geraten sind. Dazu gehört die Geschichte der Geschwister Oversteegen (Freddie und Truus) oder das Massaker von Amritsar, um nur zwei zu nennen. Und warum sollten wir unseren Blick nicht sogar auf aktuellere Ereignisse lenken, wie den niederträchtigen Lkw-Angriff von Nizza oder die Schießereien in Orlando oder Las Vegas. Angesichts der Tatsache, dass in den Gaming-Communities immer mehr filmreif inszenierte und experimentelle Spiele großen Anklang finden, böte sich die hervorragende Gelegenheit, derartige Ereignisse im Rahmen eines Spiels zu verarbeiten und die Wirkung solcher Spiele auf das Publikum zu beobachten.

Wenn wir aus diesen Ereignissen Filme machen und ihnen Songs widmen können, dann wüsste ich nicht, warum wir sie nicht auch in interaktive Erlebnisse verwandeln können.

Wie dem auch sei, 1979 Revolution: Black Friday ist eine großartige interaktive Dokumentation, die jedem auf Storytelling spezialisierten Studio als Inspiration dienen sollte.

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