Künstlerresidenzen
Herumwirbeln, rennen, hüpfen und sich hinwerfen

Seit ihrer Gründung im Jahr 2009 hat sich die Gati Summer Dance Residency zu einer bedeutenden Einrichtung für angehende indische und südasiatische Choreografen entwickelt. Sie hat einen kritischen Diskurs über Tanzgestaltung initiiert, bietet jungen Künstlern ein Mentoring-Programm und stellt ihnen Raum und Ressourcen für die Produktion kurzer Choreografien zur Verfügung. Die Stücke, die in der GSDR entstanden sind, haben die „Tanzökologie“ des Subkontinents auf subtile, aber spürbare Weise beeinflusst und verändert.

Die Anfänge

Meine erste Erinnerung an die Gati Summer Dance Residency (GSDR) führt mich in ein enges, hell erleuchtetes Kellerstudio in Nizamuddin in Delhi. Das war 2009 und die Teilnehmer und Mentoren hatten sich hier zu einem Gedankenaustausch über ihre derzeitigen Projekte versammelt. Mitten in einer hitzigen Diskussion bemerkten wir einige Kakerlaken, die verstohlen an den Wänden entlanghuschten. Kurz darauf wimmelte es um uns herum von Küchenschaben, die aus dem Abfluss unter dem Tanzboden drängten. Aber wir ließen uns von diesem Gewusel nicht beirren – wir hatten Wichtigeres zu tun.

Die Summer Dance Recidency, die nunmehr seit sechs Jahren besteht, befindet sich heute in den schicken Gati-Studios in Khirki – kein Vergleich zu jenem Sommer mit seinem überquellenden Abfluss. Als kritischer Raum gedacht, um die Entwicklung choreografischer Werke zu fördern, hat das Zentrum zwischen 2009 und 2015 31 Künstlerinnen und Künstlern Gelegenheit gegeben, ein kurzes choreografisches Stück zu konzipieren und nach eigenen Vorstellungen umzusetzen. Zehn Wochen lang haben die Teilnehmer des Programms Zugang zu Proberäumen, erhalten finanzielle Unterstützung und qualifizierte Betreuung bei der Umsetzung ihrer Ideen und genießen die ungeteilte Aufmerksamkeit einer Anzahl von Mentoren. Sie werden mit verschiedenen choreografischen Methoden vertraut gemacht, mit Theorien und Konzepten von Tanzgestaltung sowie verwandten Disziplinen. Der Kurs ist prozessorientiert und versucht, den Tänzern ein Verständnis des kreativen Prozesses zu vermitteln. Zum Abschluss werden die einzelnen Projekte, die im Verlauf von zehn Wochen entstanden sind, vorgestellt.

Als Tänzerin mit einem voyeuristischen Interesse am choreografischen Gestaltungsprozess anderer bin ich beeindruckt von den Künstlern, die den Mut haben, ihre Arbeiten und Ideen einem Publikum zu präsentieren, und sich der teilweise recht schonungslosen Kritik zu stellen. Natürlich kann es passieren, dass man anschließend am Boden zerstört ist, wie mir 2011 einer der Tänzer anvertraute.

Was zeichnet einen typischen Gati-Teilnehmer aus? Oft handelt es sich um junge Künstler, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen und begierig darauf sind, mehr über Choreografie zu erfahren. Sie haben Erfahrungen in einem Ensemble gesammelt und bereits mit älteren Choreografen zusammengearbeitet. Sie wissen, dass das Residenzprogramm mit tradierten Vorstellungen von künstlerischer Gestaltung bricht und sich das möglicherweise auch auf ihre Arbeitsweise auswirken wird. Seit die Teilnahme an der Summer Dance Residency zu einer Art Initiationsritus für junge Choreografen des Subkontinents geworden ist, kommt diesem „Bruch“ zunehmend größere Bedeutung zu.

Ein Residenzprogramm für südasiatische Choreografen

Skizzieren wir kurz die Hintergründe dieses „Bruchs“. Er hat etwas mit der Art der Vermittlung des zeitgenössischen Tanzes in Südasien zu tun. Mit ihrem Schwerpunkt auf Technik verleihen Ausbildungsprogramme dem Begriff „Choreografie“ verschiedene Bedeutungen, verwischen häufig den Unterschied zwischen einem festgelegten Bewegungsablauf und einer kritischen Auseinandersetzung mit kreativer Tanzgestaltung. Vor allem Schüler des klassischen Tanzes haben das Bedürfnis, einer etablierten Interpretation neue Bedeutung zu geben. Instinktiv lösen sie sich von der herkömmlichen Herangehensweise, fallen aber zunächst in ein „schwarzes Loch“, da sie an Ideen festhalten, die für die schöpferische Gestaltung eines Stücks nicht unbedingt relevant sind.

Nach der ersten Summer Dance Residency 2009 beschloss man, das Programm um eine Woche zu verlängern, um den Tänzern Gelegenheit zu geben, sich intensiv untereinander auszutauschen und eng mit den Mentoren zusammenzuarbeiten, die ihnen Wege aufzeigen konnten, wie man einen kreativen Prozess in Gang setzt. Auch die Geschichte des zeitgenössischen Tanzes, zusammengestellt von den Gastrednern, ist seitdem ein wichtiger Bestandteil des Angebots. In der ersten Woche des diesjährigen Programms stellt die Choreografin Padmini Chettur, seit 2013 GSDR-Mentorin für die Anfangsphase, fest, dass sich die Teilnehmer offenbar nicht über ihren Ausgangspunkt im Klaren sind. Sie regt sie an, über ihre „intellektuelle Suche“ nachzudenken, sprich, ihre Vorstellungen von Tanzgestaltung zu hinterfragen. Dabei muss sie die Teilnehmer immer wieder darauf hinweisen, dass zeitgenössischer Tanz nicht darin besteht, „herumzuwirbeln, zu rennen, zu hüpfen und sich auf den Boden zu werfen“.
  
In den darauf folgenden Wochen wird im Vormittagsunterricht die Theorie in die Praxis umgesetzt. Auf dem Stundenplan stehen Fitnesstraining und das Erlernen von Bewusstseinstechniken, um ein Körpergefühl zu entwickeln. Hilfestellung bieten die Mentoren, aber auch der Erfahrungsaustausch unter den Residenzteilnehmern kommt nicht zu kurz. Dabei geht es nicht darum, sich eine bestimmte Technik anzueignen, sondern sich kritisch mit dem menschlichen Körper und seinem Bewegungspotenzial auseinanderzusetzen. Das unterschiedliche praktische und choreografische Vorwissen der Mentoren und Teilnehmer befruchtet diesen Prozess.  In der nächsten Phase beschäftigen sich die Tänzer mit der Struktur ihrer Arbeit. Die sie begleitenden Mentoren helfen ihnen dabei und erarbeiten mit ihnen zusammen eine Klanglandschaft für ihr Stück. 

Mentoring

Deepak Kurki Shivaswamy, Teilnehmer des Residenzprogramms von 2011, empfand die meisten Mentoren als unparteiische und unvoreingenommene Zuschauer. Er schätzte ihr Feedback, da es ihm half, frühzeitig zu erkennen, wie seine Arbeit auf andere wirkte. Dadurch konnte er gelassener der Uraufführung entgegensehen, ohne die Reaktion des Publikums fürchten zu müssen. Nach 2011 unterrichtete Shivaswamy regelmäßig an der GSDR; dieses Jahr war er drei Wochen lang „Peer-Mentor“. Über seine Erfahrungen sagt er: „Das Mentoring-Programm ist ideal, um die verschiedenen Bedürfnisse der Teilnehmer zu befriedigen. Die ‚Residency‘ war schon immer prozessorientiert, aber seit der Kurs mit der Präsentation eines noch nicht abgeschlossenen Projekts endet, ist der Anreiz, anschließend an seinen eigenen Ideen weiterzuarbeiten, größer geworden.“

Aber was macht man mit dem fertigen Stück? Jedes Jahr bereichern sechs neue Choreografien das Tanz-„Ökosystem“ des Landes. Einige der Arbeiten, die in der GSDR entstanden sind, wurden inzwischen weiterentwickelt, auf Tanzfestivals aufgeführt oder auf Tourneen gezeigt, die die GSDR-Stipendiaten organisiert hatten. Wie Shivaswamy argumentiert: „Je mehr Stücke es gibt, desto größer sind die Chancen, das sich jemand findet, der sie aufführt.“ In vielen Fällen jedoch lässt der Erfolg noch auf sich warten.

Chettur sieht den Grund dafür in mangelnder Selbstdisziplin und Hartnäckigkeit. „Ich denke, man muss mindestens fünf Jahre mit einem Ensemble arbeiten, bevor man sich als Tänzer oder Tänzerin bezeichnen kann. Und es braucht fünf weitere Jahre, in denen man sich mental mit Tanzgestaltung auseinandersetzt, um sich Choreografin nennen zu können. Zweifellos gibt es ein Vakuum im Bereich des zeitgenössischen Tanzes in diesem Land. Nicht viele Choreografen meiner Generation können oder wollen Tänzer engagieren. Die Leute lassen sich zu Tänzern ausbilden. Aber was machen sie dann? Mit wem arbeiten sie?“

Um die Arbeit der Summer Dance Residency einschätzen zu können, muss man sich vor Augen führen, was in Indien gemeinhin unter dem Begriff „zeitgenössischer Tanz“ verstanden wird, nämlich: „herumwirbeln, rennen, hüpfen und sich hinwerfen“, eine unglückliche Synthese aus zeitgenössischen Techniken, modernem und klassischem Tanz, schrägem Ausdruckstanz und Bollywood. Die Summer Dance Residency ist zwar nur ein Leuchtfleck auf dem Radarschirm des zeitgenössischen Tanzes. Aber sie bietet eine Anleitung zum kritischen Denken, gibt eine Einführung in die Erforschung tänzerischer Ausdrucksformen und vermittelt zudem einen prozessorientierten Ansatz und eine neue Sichtweise. 

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