Land der tausend Stimmen
Indiens Medienlandschaft im Wandel

Medien in Indien
© Goethe-Institut

In den vergangenen 25 Jahren vollzog sich auf dem indischen Medienmarkt mit der Digitalisierung, dem Wirtschaftsboom und den zunehmenden Bedürfnisse einer neuen städtischen Mittelklasse– nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit – ein dramatischer Wandel.

Von Ramesh Menon

Indien verfügt über eine der interessantesten Medienlandschaften der Welt. Der riesige Wachstumsmarkt pulsiert vor Geschäftigkeit, Erneuerung und Experimentierfreude. Doch ironischerweise steckt er auch voller Anachronismen.
 
Wo sonst in der Welt könnte man eine derart reichhaltige und vielfältige Medienlandschaft wie in Indien mit nahezu 900 Fernsehsendern, über 500 Radiostationen und 100.000 registrierten Publikationen finden. Es gibt 560 Millionen Internetnutzer, 400 Millionen Menschen sind auf WhatsApp, 260 Millionen auf Facebook, und 200 Millionen nutzten TikTok, bevor es in Indien verboten wurde. 80 Millionen haben ein Instagram-Konto, Telegram zählt über 30 Millionen aktive Nutzer*innen, und es gibt zwölf Millionen Twitter-Konten, gemäß Daten, die von Sannam S4 ermittelt wurden.

Medien Info 2019 © Ministry of Information and Broadcasting Medien Info 2019 Ministry of Information and Broadcasting

Vor allem die vergangenen Jahre waren von diesem hektischen Treiben geprägt, das die Medienlandschaft grundlegend veränderte. Herkömmliche Print- und Fernsehmedien werden auf aggressive Weise von sozialen Medien, Blogs, Nachrichten-Websites und Messenger-Apps von ihrer Position verdrängt. Sie führen eine neue Revolution an und stellen die Lebenswelten sowohl in den indischen Städten als auch auf dem Land auf den Kopf.

Für Millionen kam der Wandel über Nacht

In Indien nahm die Internetnutzung innerhalb der unteren Mittelklasse rasant zu, als Indiens größter multinationaler Mischkonzern Reliance Industries Limited den Breitbanddienst Jio mit ausgesprochen günstigen Tarifen einführte. Mit der Zeit entwickelte er sich zu einer vollständigen Plattform für digitale Dienste.
 
Über Nacht hatten Millionen von Inderinnen und Indern Zugang zu Nachrichten, YouTube-Videos und Social-Media-Plattformen. Mit einem Mal gehörten Informationen, Falschinformationen, Fehlinformationen, Fake News und sofortige Bedürfnisbefriedigungen zur neuen Normalität! Zahlreiche politische Parteien, insbesondere die Rechte, machten sich diese neu aufkommende Macht umgehend zunutze, um sich an ihre Wähler*innen zu wenden und ihre Kampagnen voranzutreiben. Innerhalb der ersten drei Monate nach Einführung gewann Jio über 100 Millionen Abonnent*innen. Ein Segen für viele politische Parteien, die sich sowohl konventioneller als auch sozialer Medien bedienten, um ihre Kampagnen unter das Volk zu bringen, die Opposition zu zerschlagen und die politische Geschichte Indiens neu zu schreiben.

Aus Tweets wurden Nachrichten

Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2014 spielten Medien eine maßgebliche Rolle, um die Führung der Rechten als aggressive politische Entscheidungsträger zu positionieren, die der indischen Wirtschaft nach ihrer Machtübernahme zum Aufschwung verhelfen würden. Soziale Medien kamen umfassend zum Einsatz, um die Programme der Parteien zu verbreiten, und Twitter wurde als Plattform nicht mehr nur für Nachrichtenmeldungen, sondern auch für wichtige politische Botschaften genutzt.
 
Nachrichten auf dem Social Media © © Goethe-Institut/Loredana La Rocca Nachrichten auf dem Social Media © Goethe-Institut/Loredana La Rocca

Ministern und Beamten wurde von einer Nutzung dieser Medien abgeraten, doch letzten Endes schlossen auch sie sich der Bewegung an und begannen, Tweets zu versenden. Und so kam es, dass aus Tweets Nachrichten wurden! Früher konnten sich Journalist*innen ein genaueres Bild und einen Eindruck von den Regierungsverantwortlichen verschaffen. Mit der Zeit wurde es jedoch immer schwieriger, Geschichten aufzudecken, an Insider-Informationen zu gelangen oder Untersuchungen zu Maßnahmen und Strategien der Regierung durchzuführen. Weil alle die, die gegen die Regierung arbeiteten, mit Verleumdungsklagen überzogen wurden. Da verwundert es nicht, dass sich Indien auf der Rangliste der Pressefreiheit 2020 von Reporter ohne Grenzen auf Platz 142 von 180 Ländern befindet.

Eine neue Form des Medienmanagements

Der Journalismus als wiederkehrender Stachel im Fleisch des indischen Politikbetriebs, der Regierungen, Politiker*innen und Wirtschaftsbosse bloßstellte, hatte an Einfluss verloren. Investigative Medien wie The Wire und Caravan, die Maßnahmen der Regierung unter die Lupe nahmen, wurden mit Verleumdungsklagen überzogen, die als Warnung gedacht waren.
 
Regierungskritische Journalist*innen wurden von ihren Arbeitgeber*innen vor die Tür gesetzt. Die Inhaber*innen der meisten indischen Medienunternehmen verfolgen neben dem Mediengeschäft zahlreiche weitere Geschäftsinteressen. In vielen Fällen dienen Medien lediglich als Deckmantel, um den politischen Einfluss zu stärken.
 
Fake News sind allgegenwärtig. Während der COVID-19-Pandemie wurde beispielsweise mit einer Reihe von Fake News, die von Informationen über Hausmittel bis hin zu Impfstoff-Entwicklungen reichten, Angst und Schrecken in der Bevölkerung gesät. Angesichts der Verbreitung von Falschinformationen wurden glücklicherweise auch Faktencheck-Seiten wie Boom Live, AltNews oder SMHoaxSlayer ins Leben gerufen.

Der Vorhang öffnet sich

In Indien verfügen die regionalen Medien mit einer immer größeren Reichweite über beispiellose Wachstumsmöglichkeiten. Zeitungen auf Hindi, Malayalam, Tamil, Bengali, Marathi erreichen täglich Millionen von Menschen. Zeitungen auf Hindi wie Dainik Bhaskar, Dainik Jagran, Hindustan, Rajasthan Patrika oder Amar Ujala haben eine tägliche Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren. Ebenso Zeitungen auf Malayalam wie Manorama und Mathrubhumi oder Sakal in Marathi.
 
Allerdings wurde den indischen Medien mit der Monopolisierung und Privatisierung von Unternehmen der Todesstoß versetzt, da die besten Traditionen des Journalismus im Spannungsfeld von Einzelinteressen nicht aufrechterhalten werden können. Dies kann für eine Demokratie wie Indien mit großen Gefahren verbunden sein, weil Millionen von Menschen weder lesen noch schreiben können und empfänglich für Propaganda und Fake News sind. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die öffentliche Meinung durch Einzelinteressen manipuliert wird und benachteiligte Menschen ausgegrenzt werden. Die Vorstellung, welche Rolle Medien in diesem Land spielen können, das sich im Wandel befindet und eine Polarisierung aufgrund von Kaste, Glaube und Religion erlebt, ist beängstigend.
 
Das klingt nicht nach einer guten Story.

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