Ein Überblick über zeitgenössische deutsche Theaterstücke
Bengalische Übersetzung und Produktion

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© Raju Raman

Von S. V. Raman

Wegweisendes und zum Nachdenken anregendes Theater mit soziopolitischer Relevanz ist seit Jahrhunderten tiefverwurzelte Tradition innerhalb verschiedener Sprachgruppen des indischen Subkontinents. Das bengalische Theater hat in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle in Indien sowohl vor als auch nach seiner Unabhängigkeit inne. Mit dem Aufkommen des sogenannten Group Theatre Movement in der Metropole Kalkutta und in anderen Distrikten des Staates seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Suche nach gesellschaftlich relevanten Theaterstücken innerhalb der zur Verfügung stehenden regionalen Materialien auf andere Teile der Welt, vor allem nach Frankreich und Deutschland hin, ausgedehnt. So hielten Moliére und Bertolt Brecht als Dramatiker aus dem Ausland sozusagen Einzug in die bis zu diesem Zeitpunkt fest in der Hand William Shakespeares befindlichen Theaterszene Indiens.

Auf der Grundlage von Wissen aus erster Hand sowie Erfahrungen aus rund vierzig Jahren beschäftigt sich dieser Essay im Wesentlichen mit der Pionierrolle des Goethe-Instituts / Max Mueller Bhavan Kalkutta bei der Förderung und Unterstützung von Übersetzungen zeitgenössischer deutscher Theaterstücke ins Bengalische und deren anschließenden Inszenierungen durch nichtprofessionelle, jedoch hoch fachkundigen Gruppen aus dem Bereich des Group Theatre Genre. Eine der ersten Bemühungen dieser Art führt in die früheren 1970er Jahre zurück zu einem einwöchigen Festival zeitgenössischer Theaterstücke, die von unterschiedlichen Theatergruppen aufgeführt wurden, darunter Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt, Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch, Der zerbrochene Krug von Heinrich von Kleist und Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui von Bertolt Brecht.

Die meisten dieser Stücke wurden von Nihar Bhattacharyya, zu dieser Zeit Deutschlehrer am Goethe-Institut, aus dem Original ins Bengalische übersetzt. Einige dieser Übersetzungen wurden sogar von örtlichen Verlagen veröffentlicht. Damals, zu einem nicht unbeachtlichen Teil auch später noch, hing der Großteil der bengalischen Theaterregisseure eher linken Ideologien an. Dies spiegelte sich so auch in der Art der Dramen wider, die sie in Bengali-Übersetzung bzw. Adaption für ihre Inszenierungen auswählten.

Einer dieser Regisseure war Sekhar Chatterjee, der eine lange Verbindung mit dem Goethe-Institut pflegte. Während eines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik hatte Chatterjee die Gelegenheit, einige Theaterproduktionen anzusehen. Begeistert von dem, was er am Berliner Ensemble sah, inszenierte er selbst das oben erwähnte Stück Arturo Ui in bengalischer Übersetzung, aber mit ähnlichen Prinzipen wie jenes in Berlin und feierte großen Erfolg. Er setzte diese Arbeit fort und inszenierte des Weiteren Herr Puntila und sein Knecht Matti und Der Brotladen. „Puntila“ war ebenfalls eine sehr erfolgreiche Produktion und wurde über beinah drei Jahre regelmäßig aufgeführt.
Sekhar Chatterjee brachte weitere Anregungen aus Deutschland mit nach Indien zurück, einige davon resultierten in den Übersetzungen ins Bengali und den Produktionen von Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame und Peter Handkes Publikumsbeschimpfung. Während seines Aufenthalts in Deutschland hatte Chatterjee die Gelegenheit, den Dramatiker Franz Xaver Kroetz zu treffen und die Inszenierungen einiger seiner Stücke zu sehen. Überwältigt von diesen Inszenierungen suchte er nach seiner Rückkehr umgehend Nihar Bhattacharyya auf und überzeugte ihn, Das Nest und Oberösterreich ins Bengali zu übersetzen.

Chatterjees augezeichnete Inszenierung dieser beiden Stücke, bei der er jeweils auf Proszenium verzichtete - ersteres wurde in Bibliotheksräumlichkeiten und das zweite auf einem übersichtlich großen Schulgelände aufgeführt - wurden herausragende Erfolge und in den folgenden Jahren viele Male aufgeführt. Dies weckte viel Aufmerksamkeit und Interesse auch an anderen Stücken von Kroetz. Hans-Jürgen Nagel, der damalige Direktor des Goethe-Instituts in den frühen 1980er Jahren griff dies auf und lud Kroetz für einige Wochen nach Kalkutta ein, um die Inszenierungen von fünf seiner Stücke auf Bengali zu sehen und darüber hinaus an einigen Diskussionen zu Theaterthemen teilzunehmen. Sekhar Chatterjee ergänzte sein oben genanntes Repertoire um das Stück Agnes Bernauer, und Anjan Dutt, ein weiterer junger vielversprechender Regisseur setzte seine äußerst mutigen und gewagten Produktionen von Stallerhof und Heimarbeit auf der Bühne um.

Unterdessen setzte sich im Bengali-Theater die Vorliebe für Brecht beinahe in der Art eines Leitmotivs fort. Von der Tatsache abgesehen, dass das Parteienbündnis Left Front, bestehend aus kommunistischen Parteien und ihren Verbündeten, 1977 die Regierung des Bundesstaates Westbengalen übernahm - sie blieb übrigens 34 lange Jahre an der Macht, bis sie 2011 gestürzt wurde -, war in den Inszenierungen des Bengali-Theaters zudem der Einsatz von Liedern stark tradiert, ein Stilmittel, das in zahlreichen Stücken von Brecht übernommen wurde. Selbst ein anerkannter Musiker und Musikwissenschaftler motivierte Hans-Jürgen Nagel den Regisseur Anjan Dutt und unterstützte ihn aktiv dabei, die Bengali-Version der Stücke Die Dreigroschenoper und Happy End unter Verwendung der Originalpartituren von Kurt Weill zu inszenieren. Es war ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass mehrere Stücke von Brecht im gleichen Zeitraum auf den Bühnen Kalkuttas gezeigt wurden – zu einem Zeitpunkt waren gleich parallel drei Produktionen von Der Augsburger Kreidekreis in der Inszenierung von verschiedenen Gruppen in der Stadt zu sehen.

Eine durch das Goethe-Institut organisierte Südasien-Tournee von Tankred Dorst im Jahr 1979 bot die Gelegenheit, einige seiner Stücke in unterschiedliche indische Sprachen zu übersetzen und zu inszenieren. So wurde Groβe Schmährede an der Stadtmauer und Eiszeit ins Bengali übersetzt und aufgeführt. In der Zwischenzeit erregte Peter Weiss die Aufmerksamkeit einiger Theaterregisseure, was dazu führte, dass zwei seiner Arbeiten ins Bengali übersetzt und aufgeführt wurden, nämlich Mockinpott und Marat-Sade. Es war während der Proben des letztgenannten Stückes, dass der Schauspieler und Regisseur Anjan Dutt mit seinem Schauspieltalent den weltbekannten Filmregisseur Mrinal Sen begeisterte, was ihm seinen ersten Auftritt im bengalischen Kino bescherte.

Eine recht schwierige Übersetzung von Botho Strauβ’ Drama Trilogie des Wiedersehens ins Bengali wurde in der Bühnenfassung unter der Regie von Sohag Sen wiedergegeben. Wenig später hielt sich Günter Grass über sechs Monate (1986-87) in Kalkutta auf. Dieser viel beachtete Aufenthalt wurde von einer ganzen Reihe von Veranstaltungen zu Ehren des dreizehn Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Autors begleitet. Eine dieser Veranstaltungen, angeregt durch den Wunsch des Autors während seines Besuchs selbst, war die Übersetzung und Produktion seines Stückes Die Plebejer proben den Aufstand in der Inszenierung von Professor Amitava Roy. Die Inszenierung schlug einige Wellen, die aber bald wieder abebbten.
Der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 machte bengalische Theaterregisseure auf die Arbeiten des Dramatikers Heiner Müller aufmerksam. Anjan Dutt nahm sich der Herausforderung an und inszenierte drei Stücke in bengalischer Übersetzung. Während Der Lohndrücker kaum für Aufsehen sorgte, ließ die Doppelvorstellung von Der Auftrag und Mauser am selben Abend das Publikum aufhorchen und die in diesen Stücken inhärente politische Macht begreifen.

Das gesamte Jahr 1990 stand für eine Serie von Veranstaltungen, die durch Akteure unterschiedlichster künstlerischer Disziplinen konzipiert und umgesetzt wurden, ganz im Zeichen des übergeordneten Themas War and Peace. Gipfeln sollte diese Reihe in einer ambitioniert und aufwändig realisierten bengalischen Theaterproduktion des Stückes Frauen-Krieg-Lustspiel von Thomas Brasch. Die Aufgabe, diesen recht herausfordernden Text aus dem deutschen Original ins Bengali zu übersetzen, wurde Suman Chatterjee übertragen, einem ehemaligen Mitarbeiter der Deutschen Welle, Bengalische Abteilung, in Köln, der nach der Rückkehr in sein Heimatland zu einem prominenten Sänger – zu dem Zeitpunkt waren selbst komponierte und zum Nachdenken anregende Lieder auf Bengali enorm populär - avanciert war.

Der Kelch für die Regie ging an Amitava Roy, der früher mit Günter Grass zusammengetroffen war. Unter Beteiligung eines Bühnen- und Szenenbildners aus Deutschland wurde die Produktion in großem Maßstab auf einem weitläufigen offenen Gelände, das in eine Arena umgewandelt wurde, aufgebaut. Die Aufführungen, die allabendlich über einen Zeitraum von fünf Wochen zu sehen waren, zogen ein großes Publikum an, nicht nur allein aufgrund des Inhalts des Stückes, sondern auch wegen der Größe der Kulisse.

Um die Jahrtausendwende und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ebbte das Interesse, die Landschaften europäischer Dramen zu erkunden, ab. Die Gründe dafür mögen in einem der folgenden

Umstände oder in einer Kombination daraus liegen:

- Junge bengalische Dramatiker schrieben verstärkt Theaterstücke, die eine größere Relevanz hinsichtlich des rasanten Wandels der sozioökonomischen Situation vor Ort in ihrer Heimat besaßen;

- Trotz der unumkehrbaren Prozesse der Globalisierung unterschieden sich die Lebensbedingungen der Menschen in Europa und Indien, zumindest was den Großteil der Mittelschicht angeht, deutlich voneinander;

- Englische Übersetzungen von zeitgenössischen deutschen Theaterstücken als Ausgangsstoff für Anregungen und neue Impulse standen nicht unmittelbar zur Verfügung;

- Der Einsatz von Technik hatte in Theaterproduktionen des Westens einen großen Stellenwert bekommen, und dies war ein Feld, das hiesige Theaterschaffende sich zu betreten kaum wagten angesichts der Produktionsbedingungen vor Ort und der Tatsache, dass keine der Theatergruppen über einen eigenen Theaterraum verfügte.

Eine wertvolle Initiative bot daher die Theaterabteilung des Goethe-Instituts München: Sie erstellte jährlich ein Portfolio ausgewählter zeitgenössischer Theaterstücke, die während der Mühlheimer Theatertage gezeigt wurden, in englischer Übersetzung und teilweise begleitet von Videoausschnitten der deutschen Produktionen. Für interessierte Theaterschaffende Indiens stellte dies eine hilfreiche Quelle dar, aus der sich authentisches Ausgangsmaterial für die eigene weiterführende Auseinandersetzung schöpfen lässt. Eines der daraus resultierenden Ergebnisse war etwa die kraftvolle Übersetzung und Produktion von Marius von Mayenburgs Feuergesicht, die über mehrere Monate hinweg im Theatersaal des Goethe-Instituts Kolkata aufgeführt wurde und großen Erfolg feierte. Die bemerkenswerte Regie führte Suman Mukhopadhyay. Der junge Regisseur war zuvor bereits mit zwei seiner viel beachteten Filme im Länderfokus Indien auf dem Internationalen Filmfestival München im Jahr 2010 vertreten gewesen und hatte beim Publikum in Deutschland von sich Reden gemacht.

An die neue Initiative des Goethe-Instituts Mumbai nun knüpfen sich hoffnungsfrohe Erwartungen: Auf dass hier eine Fundus an Übersetzungen zeitgenössischer deutscher Theaterstücke in unterschiedlichen südasiatischen Sprachen entsteht und bei Theaterschaffenden des Subkontinents ein neuerliches Interesse an der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen deutschen Dramen erwacht und wächst.
 

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